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Ich sehe was, was Du nicht siehst ...

Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Perspektiven in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783170295704
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
In diesem Band werden verschiedene Perspektiven in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vorgestellt und zueinander in Beziehung gesetzt. Ein Überblick zu schulenübergreifenden Ansätzen ermöglicht ein integratives Gesamtbild; anhand konkreter Fälle aus der Praxis werden die vier zentralen Therapietraditionen diskursiv gegenübergestellt. Verfahrenstypische wie verfahrensübergreifende Beispiele diagnostischen und therapeutischen Handelns bieten weitere Verortungs- und Integrationsmöglichkeiten für den Leser. Die Einbettung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in die Zusammenhänge der Jugendhilfe bietet einen Blick über den Tellerrand der Psychotherapie und regt zu konstruktiven Kooperationsmöglichkeiten an.

Dr. Silke Birgitta Gahleitner ist Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff ist Professor an der EFH Freiburg. Marion Schwarz, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (KJP) in Bad Schwalbach, ist Vorsitzende des bkj. Friederike Wetzorke, KJP in Braunschweig, ist stellvertretende Vorsitzende des bkj.

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Leseprobe

Einige kurze Überlegungen zum Thema: 2
„Ich sehe was, was Du nicht siehst ...“


Jürgen Hardt, Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen

Die psychotherapeutische Landschaft ist nach wie vor bunt, und das ist gut so! Zum Ärgernis der Gesundheitsverwaltung und der wissenschaftlichen Qualitätssicherer beugen sich die unterschiedlichen Denktraditionen nicht den verordneten Normen. Sie bleiben ihrer Tradition treu, murrend und unzufrieden, wenn sie keine Anerkennung finden, oder unangemessen stolz, manchmal auch bescheiden, wenn sie das Gütesiegel der Anerkennung errungen haben oder nicht abgesprochen bekommen. Diese Vielfalt wird von den Gesundheitsökonomen und Psychotherapieverwaltern meist beklagt, der Hinweis auf den kulturellen Reichtum der darin zum Ausdruck kommenden Menschenbilder wird als billige Ausrede gegenüber der Forderung wissenschaftlicher Bewährung belächelt. Trotzdem geben viele nicht auf.

Ist das Festhalten an den unterschiedlichen und eigenen Entwürfen und Denkweisen nur ein unangemessener Protest „Wider den Methodenzwang“3, der vor einer Generation eine ganze Studentenbewegung beflügelte. Sind es die ehemals Jungen, die nicht durch Erfahrung klug geworden sind und sich gegen den Geist der Zeit stemmen?

Der wissenschaftliche Trend der Zeit zeigt trotz allen Scheiterns in der Vergangenheit in Richtung einer Einheitswissenschaft: In Zukunft soll es eine Methode für jeden geben, eine Wahrheit für alles, eine Sprache, in der alles wissenschaftlich Relevante ausgedrückt werden kann. Was damit nicht erfasst werden kann, wird auf später verschoben und gilt als wissenschaftlich irrelevant, weil zur Zeit methodisch nicht bearbeitbar, egal ob es lebensrelevant ist oder nicht.

Die von solcher Wissenschaftsideologie Unbelehrbaren halten an ihrer Sichtweise fest, sie betonen die Vielfältigkeit des Lebens, sie bestehen darauf, dass Psychotherapie zwar wissenschaftlichen, aber zugleich ihr eigenen Kriterien gehorchen muss und dass sie offen sein muss für verschiedene Grunderfahrungen. Das sind alltägliche Erfahrungen mit dem Leben, die in die Praxis eingehen, sie leiten und ohne die niemand auskommt, wenn er je einen wirklichen Menschen in verantwortliche Behandlung nimmt. Eine solche Auffassung versteht die Traditionen von Psychotherapien als Explikationen einer Lebensform Psychotherapie, die auf vorwissenschaftlichen, alltäglichen Erfahrungen ausruht, diese dann mehr oder weniger überschreitet und umformt (vgl. Hardt & Hebebrand, 2004, 2006). So kommt eine lebendige Vielfalt der Sichtweisen zustande, die dem Unkundigen die Orientierung erschwert und die unterschiedlichen Experten dazu zwingt, geeignete Verständigungsformen untereinander zu entwickeln, wollen sie nicht dem normierenden Einheitsdruck hilflos ausgeliefert sein.

Diese Vielfalt der Traditionen, Schulen, Standpunkte, Denktraditionen, Sprachspiele oder Auffassungsweisen – wie immer man das auch nennen mag – wird höchst unterschiedlich aufgefasst, als zu erhaltender Wert gepriesen oder als Zeichen der Unreife des Faches und Sprachverwirrung beklagt.4 Die Beziehungen der Traditionen untereinander sind schwer zu ordnen und ebenfalls unterschiedlicher Art. Klare Verbindungen sind oft nicht anzugeben. Meist überwiegen mehr oder weniger komplizierte Verwandtschaftsbeziehungen: legitime und illegitime, anerkannte, verleugnete oder unterschobene Abstammungen. Aber es gibt auch andere Beziehungsmodelle: Das einzig Wahre beansprucht exklusiv den Ehrentitel der Wissenschaftlichkeit, verweigert allen anderen die Anerkennung und will sie dominieren oder gar auslöschen. Manchmal wird das Verhältnis der Schulen als sich ergänzend angenommen, die Standpunkte schließen sich dann nicht aus, sondern bereichern sich, indem sie einem gemeinsam gewonnenen Bild eine besondere Tiefe verleihen, die eine einzige Sichtweise nie erreichen kann. Meist wird aber triumphierend am eigenen Standpunkt festgehalten und dem anderen vorgehalten: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“!, und deswegen habe ich recht, und was du siehst, muss mich nicht kümmern.

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ stammt aus einem bekanntem Kinderspiel, das von Kindern in einem bestimmtem Alter mit Eifer, Interesse und großer Lust gespielt wird und das zugleich einen hohen didaktischen, sowohl intellektuellen als auch sozialen, Wert hat.

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ bezieht sich auf einen Gegenstand, den ein Spieler in den Blick genommen hat und den die Mitspieler erraten sollen. An diesem Gegenstand muss festgehalten werden und alle Annäherungen und Abweichungen müssen als Umkreisungen anerkannt, ehrlich bestätigt oder als unzutreffend abgewiesen werden. Das ist die grundlegende Verpflichtung des Spiels, seine Voraussetzung, ohne sie wird das Spiel zum Betrug oder bloßer, willkürlicher Machtausübung. Ehrlichkeit ist die allgemeine Ethik des Spielens, der Erziehung und der Wissenschaft.

Die Festlegung des den Mitspielern unbekannten Gegenstandes ist mit der Akzeptanz aller Eigenschaften des Gegenstandes verbunden, die ihn in verschiedener Weise identifizierbar machen. Mit dem Anführen von Eigenschaften oder Gattungsbegriffen wird der Gegenstand im Spiel umkreist. „Ich sehe was, was Du nicht siehst, und das ist rot“, oder blau oder eckig oder irgendwie. Damit kommt ein Prozess des gerichteten Suchens und Fragens – Tasten und Einkreisen, Aufstellen und Verwerfen – in Gang, der eine jeweils eigene Logik entwickelt. Dieses gerichtete Rätseln ist die Grundform jeder wissenschaftlichen Forschungsarbeit, sie gelingt am besten dialogisch, auch wenn jemand für sich allein nachdenkt.

Die Rätselaufgabe wird in einer geteilten Situation gestellt, die jedem der Partner bestimmte Funktionen überträgt. Der Aufgabensteller behält seinen ausgewählten Gegenstand im Auge und entdeckt ihn in den versuchten Beschreibungen unter Umständen neu. Beide werden dazu aufgefordert, genau hinzusehen und zugleich, sich den Blickpunkt des anderen zu eigen zu machen. So kann es gelingen, durch die Mitteilung von Eigenschaften und deren Bestätigung oder Verwerfung, den Gegenstand zu erraten. Damit wird er aber im Grunde neu gebildet.5

Das „Erraten“ – eine sehr zum Unwillen dogmatischer Anhänger von Freud häufig benutzte Beschreibung der psychoanalytischen Forschungsarbeit – kann man als das „Auffinden“ von etwas Verborgenem verstehen, genauer betrachtet ist es aber, weil der Gegenstand mithilfe einzelner Eigenschaften und Zugehörigkeiten zuerst analysiert und daraufhin synthetisiert wird, ein Prozess der Rekonstruktion oder Konstruktion6.7

Der psychoanalytisch-psychotherapeutische Prozess ähnelt in der Bewegung von Erraten und Ergänzen, Bestätigen und Verwerfen dem Spiel, des „Ich sehe was, was Du nicht siehst oder gar nicht sehen kannst“. Auch hier gilt es, ehrlich miteinander umzugehen, damit das Spiel zum Erkenntnisgewinn beiträgt und die ungleiche Position der Mitspieler nicht missbraucht wird.8 Aber in der Psychotherapie geht es nicht um Besiegen (Rechthaben) oder Unterliegen, sondern um den Gewinn an psychischer Gesundheit, die oftmals mit Einsicht verbunden ist.

Das kindliche Erkenntnisspiel kann man gewinnen oder verlieren. Es ist mit Sieg oder Niederlage, mit Triumph oder Beschämung verbunden. Weil es, um es mit Freude zu spielen, genau Beobachten und Kombinieren lehrt und zugleich dazu zwingt, sich in die Beschreibung dessen, der die Aufgabe stellt, hineinzudenken, hat das Spiel nicht nur Unterhaltungs-, sondern zugleich einen hohen didaktischen Wert.

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ hat noch eine weiter gehende Bedeutung, die offenkundig wird, wenn man dieses Spiel mit den Entwicklungsstufen des Denkens nach Piaget verbindet. Dann sieht man, dass dieses Kinderspiel an Voraussetzungen gebunden ist, die eine Reifung logischer Operationen erfordert, in der nicht nur das Denken, sondern auch das methodische Wahrnehmen entwickelt wird. Das Kind kann das Spiel erst spielen, wenn es die konkret operationale Stufe erreicht hat.

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ verweist also auf einen Standpunkt, von dem Dinge wahrgenommen werden, und diesen Standpunkt muss man als den eigenen erkennen können. Zugleich wird damit anerkannt, dass der andere notwendigerweise einen anderen Standpunkt hat und haben muss, von dem er Dinge anders sieht, sehen oder nicht sehen kann.

So ist mit diesem Spiel nicht nur die Einsicht in die Begrenztheit der Wahrnehmung des anderen verbunden, sondern zugleich die Einsicht in die notwendige Begrenztheit des eigenen Standpunktes, die der unausweichlichen Perspektivität geschuldet ist. Erst die Einsicht in die eigene Perspektivität ermöglicht, mit der Perspektivität spielen zu können. Der eigene Blick verliert zwar die absolute Geltung, kann und muss aber als der eigene behauptet werden. Als der eigene ist er aber begrenzt und verlangt nach Korrektur durch den Blick des anderen. Dem eigenen Standpunkt kann niemand entgehen, es gibt für uns Menschen keine Möglichkeit, einen Standpunkt einzunehmen jenseits der Standpunkte, die uns zur Verfügung stehen. Es gibt, wie man es in der englischen Literatur öfter lesen kann, keine Perspektive, die God’s Eye, also dem göttlichen Blick von außen auf die Schöpfung entspricht. Wir werden uns immer selbst bemühen müssen, der Begrenztheit unserer Perspektivität so weit wie möglich zu entkommen. Die Wissenschaft ist eine gewaltige Anstrengung der Aufhebung persönlicher Perspektiven, aber bei aller Berechtigung, Neutralität und Objektivität zu fordern, müssen wir uns doch der Unmöglichkeit einer solchen Forderung immer bewusst bleiben.

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