Zeitgemäße Wohnformen – Soziale Netze –
Bürgerschaftliches Engagement
Georg Theunissen
Einleitende Bemerkungen
Wohnen ist ein Ort, an dem sich der Mensch „zu Hause, heimisch und zugehörig fühlen möchte, der Sicherheit, Schutz, Beständigkeit, Vertrautheit, Wärme und Geborgenheit vermitteln soll und der soziale Kommunikationen, Zusammenleben, Wohlbefinden, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Lebenszufriedenheit und Lebensglück ermöglichen kann“ (Andritzky-Selle 1987, 106). Diese Momente gelten uneingeschränkt für alle Menschen mit oder ohne Behinderung.
Befragungen zufolge äußern Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung31 die gleichen Wohnbedürfnisse wie andere Menschen auch. Dabei richten sie nicht nur ihre Bedürfnisse an dem aus, was andere an sie herantragen oder was sie unmittelbar als Wohnwelt erleben, sondern sie entwickeln und artikulieren gleichwohl eigene Vorstellungen und Zukunftsvisionen (Huslisti, Huslisti & Theunissen 1996; Dybwad & Bersani 1996; Atkinson 2000; Spedding et al. 2000; Windisch & Kniel 2000; Ramcharan et al. 2002a; McConkey et al. 2004). Viele von ihnen wollen heute weitgehend unabhängig (autonom) leben und signalisieren am ehesten Lebenszufriedenheit, wenn Wohnbedingungen gegeben sind, die sowohl Momente der „Geborgenheit“ (z. B. durch Einzelzimmer, Privatsphäre, konstante Bezugspersonen, häusliche Wohnatmosphäre) als auch eine aktive und eigenständig-verantwortliche Einflussnahme auf die Lebensgestaltung (Selbstbestimmung, Situationskontrolle) zulassen (Edgerton 1988; Wehmeyer, Kelcher & Richards 1995; Wehmeyer & Schwartz 1998; Bambara, Cole & Koger 1998; Wehmeyer & Bolding 1999; Böhning 1998; Jakobs 2000).
Somit können wir festhalten, dass diese Doppelfunktion des Wohnens für ein menschenwürdiges Leben aller Menschen mit Behinderungen unabdingbar ist.
Soziale Ausgrenzung und Institutionalisierung
Leider war dies lange Zeit keineswegs selbstverständlich. Wohnbedürfnisse von Erwachsenen mit Behinderungen wurden viele Jahrzehnte kaum wahrgenommen, geschweige denn respektiert. Bis vor kurzem stand weltweit die Behindertenhilfe im Zeichen einer sozialen Ausgrenzung, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung ohne gefragt zu werden und sehr oft gegen ihren Willen in von ihrer Heimatregion weit entfernte (große) Anstalten abgeschoben, „aufbewahrt“, überwacht und versorgt wurden (Hutchison & McGill 1998).
Wissenschaftlich legitimiert wurde diese „stationäre Unterbringung“ (Means & Smith 1998, 27 ff.) durch das traditionelle medizinisch-psychiatrische Modell, dem sich die zuständigen Instanzen und Organisationen verschrieben hatten (Theunissen 2000). Dieses Modell verbreitete die Ansicht, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung in Anbetracht irreparabler Schädigungen am besten in Sondereinrichtungen „aufgehoben“ seien. Damit wurde zugleich eine Tradition fortgeführt, die sich seit der Herausbildung der Industriegesellschaften als eine Asylierung gesellschaftlicher Randgruppen niedergeschlagen hatte.
Fachlicherseits sprechen wir hier vom Paradigma der Institutionalisierung, dem die Auffassung zugrunde liegt, dass die Gesellschaft vor (geistig) behinderten Menschen wie auch behinderte Menschen vor der Gesellschaft zu schützen seien (Rimland 1991). Zudem wurde die Theorie aufgestellt, „dass man den Bedürfnissen dieser Menschen am besten gerecht werden könne, wenn man sie zusammengruppiere und sie von anderen Menschen isoliere“ (Polloway et al. 1996, 4).
Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff der Institution als eine „negative Kategorie“ (dazu King 2000). Aus soziologischer Sicht bedarf es allerdings einer differenzierten Betrachtung. Zwar gibt es keine einheitliche Definition, über alle Differenzierungen hinweg lassen sich jedoch übereinstimmende Momente nennen, indem Institutionen als „Erscheinungen geregelter Kooperation von Menschen, ein Zusammenwirken und Miteinanderumgehen, das weder zufällig noch beliebig so geschieht“ (Gukenbiehl 1993, 96), verstanden werden. Zudem werden Institutionen durch vier Elemente gekennzeichnet (ebd.):
- eine Leitidee,
- einen Personalbestand (Menschen, die vorgesehene Rollen übernehmen),
- Regeln oder Normen und
- einen materiellen Apparat (Gegenstände, Räume),
die ihnen ein strukturelles Gepräge geben und sich in bestimmten Aufgaben oder Funktionen manifestieren. So haben Institutionen zum Beispiel mit Blick auf die Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, den Zweck, „diejenige Hilfe zu organisieren, die diese Menschen brauchen, um ihr Leben im Zusammenleben mit den anderen zu ordnen und menschlicher werden zu lassen“ (Speck 1999a, 212; auch Hutchison & McGill 1998, 48). Institutionen bieten damit einerseits emotionalen Halt, schaffen Sicherheit, Ordnung und Stabilität, andererseits können sie die Lebens- und Handlungsmöglichkeiten aber auch (erheblich) begrenzen, zum Beispiel dann, wenn sich wie heute die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen bestimmte Institutionen einmal Problemlösungen waren, im Hinblick auf eine rechtlich kodifizierte Antidiskriminierung behinderter Menschen, soziale Integration, Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten entscheidend verändert haben (Gukenbiehl 1993, 109; auch Ramcharan et al. 2002b, 253). Dieses Problem der Begrenzung individueller Entfaltungsmöglichkeiten tritt vor allem dann auf, wenn sich eine Eigengesetzlichkeit, eine „Selbstverzweckung“ (Speck) der Institutionen entwickelt, die nicht selten mit strikten Regelungen, Vorschriften, Verplanungen oder Fremdbestimmung einhergeht.
Genau an dieser Stelle setzt die Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Institutionalisierung an, das bekanntlich Goffman (1972) unter dem Stichwort der „totalen Institution“ dechiffriert und aufbereitet hat. Seine scharfe Analyse sozialer Institutionen, die immer auch wegebnend ist für die Frage der strukturellen und institutionellen Gewalt (hierzu Theunissen 2001b), hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt (King 2000; auch Hutchison & McGill 1998; Dowson 2002, 103; Gerspach & Mattner 2004). Nach wie vor sind Institutionalisierungseffekte bzw. Hospitalisierungen (geistig) behinderter Menschen zu beobachten (z. B. Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Selbstbild des Nicht-Könnens, mangelndes Zutrauen und Selbstwertgefühl, „erlernte Hilflosigkeit“ [Seligman], „Verstümmelung des Selbst“ [Goffman], „excluded identity“ [Borland & Ramcharan], „erlernte Bedürfnislosigkeit“ [Theunissen], psychische Störungen u. v. m.).
Normalisierung und gesellschaftliche Integration
Mit dem Bekanntwerden der durch Institutionalisierung bedingten Schäden und den skandalösen, menschenverachtenden und -unwürdigen Zuständen in vielen, insbesondere staatlichen Großeinrichtungen oder Pflegeheimen war die „stationäre Unterbringung“ (geistig) behinderter Menschen spätestens gegen Ende der 60er Jahre in führenden westlichen Industrienationen ins Kreuzfeuer heftiger Kritik geraten.
Die Auseinandersetzung mit der Institutionalisierung führte daraufhin zu dem in der Vergangenheit viel zitierten Normalisierungsprinzip (Thimm u. a. 1985; Nirje 1994; Wolfensberger 1972), das in mehreren Staaten (z. B. skandinavische Länder, USA, England, Kanada) auf die (schrittweise) Auflösung traditioneller Großeinrichtungen oder Heime zugunsten des Aufbaus gemeindeintegrierter (urbaner) Wohnformen für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen zielte (Mansell & Ericsson 1996). Dieser Prozess wird als Deinstitutionalisierung bezeichnet und ist in den nordeuropäischen Ländern und in den USA am weitesten fortgeschritten. Waren zum Beispiel in Schweden 1968 ca. 14000 Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung in großen Institutionen erfasst, so lebten 1997 nur noch 1800 Personen in Einrichtungen mit mehr als sechs Plätzen (Dalferth 1999, 88, 100 f.). Inzwischen gibt es in Schweden „keine Anstalten mehr ... Von den Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten wohnen heute 60 Prozent in Gruppenwohnungen, 20 Prozent in eigenen Wohnungen und nur weitere 20 Prozent noch bei ihren Eltern“ (Grunewald 2003, 10).
In Westdeutschland wurde hingegen das Normalisierungsprinzip viele Jahre nicht konsequent umgesetzt:
- wurde Normalisierung häufig nur als eine Humanisierung von Lebensbedingungen innerhalb bestehender Großeinrichtungen in Betracht gezogen, so z. B. durch Renovierung, Umbauten, Verkleinerung und Umwandlung ehemaliger (Pflege-) Stationen zu Wohngruppen;
- wurden gemeindenahe Wohnangebote fast ausschließlich nur in Form neuer Wohnheime geschaffen; Wohnheime entsprechen aber nicht dem, was gemeinhin unter einem „normalen“ häuslichen Wohnen (Maßstab vier bis sechs-köpfige Familie) verstanden wird;
- wurde im Zuge der Normalisierung die Orientierung am traditionellen (heilpädagogischen) Behindertenbild, insbesondere die Betrachtung geistig behinderter Menschen als belieferungs- und anweisungsbedürftige Defizitwesen, kaum hinterfragt;
- wurden Betroffene an der Normalisierung ihrer Lebensbedingungen nur selten beteiligt – waren es doch in der Regel ihre...