Einführung
Unser tägliches Leben – Denken, Sprechen und Tun – wird ständig von Gefühlen begleitet. Nur ausnahmsweise wird es von ihnen dominiert. Wenn ich manchmal spaßeshalber Leute frage: „Haben Sie heute schon eine Emotion gehabt?“, dann ernte ich häufig ein Lächeln; anschließend ein Schulterzucken. Und unter Umständen sagen sie, vielleicht ein bisschen verlegen, wie mir scheint: „Nein. Eigentlich nicht“. Sie bemerken nicht, dass dem Lächeln und der kleinen Pause, bevor sie antworteten, eine, wenn auch minimale, Gefühlsregung zugrunde lag.
Während wir uns beim Erwachen in Erinnerung rufen, wer wir sind, wo wir uns befinden, welche Jahreszeit wir gerade haben, welches Wetter ist, was wir gestern getan haben und was heute auf dem Tagesprogramm steht, gesellt sich zu diesem sich allmählich zusammensetzenden Gesamtbild zumeist eine Stimmung, eine Vorfreude, eine ängstliche Gespanntheit, ein Gefühl der Belastung, eine angenehme Aufregung, ein Widerwille oder Neugier.
Vielleicht hat man etwas geträumt, woraus man mit einem Gefühl der Lust, einer Bedrückung oder einer unerklärlichen Unruhe erwacht. Und je nachdem, ob man in Eile ist oder Zeit hat, wird man körperlich dem jeweiligen Gefühl entsprechend gespannt, wohlig, zögerlich oder schwungvoll aus dem Bett steigen, oder, nur von der Eile getrieben, rasch aufstehen, sich duschen und anziehen. Man könnte sagen, dass diese Stimmungen den Tonarten in der Musik entsprechen. Sie prägen jeweils für eine gewisse Zeitspanne unser ganzes Denken und Tun.
Angenommen, man erwacht mit einem Gefühl der Bedrückung, weil eine Aufgabe ansteht, die man schon seit einigen Tagen vor sich herschiebt, und bei der nicht klar ist, ob man sie bewältigen wird oder nicht. Dann fallen einem beim Frühstück mit hoher Wahrscheinlichkeit Dinge ein, die auch nicht so rund laufen. Das Gespräch mit dem Partner oder den Kindern mag einen gereizten Unterton haben. Man wird das Wetter draußen als zu warm oder zu kalt, zu windig oder zu ruhig und schwül, jedenfalls als unangenehm empfinden und körperlich vermutlich Spannungen wahrnehmen, im Bauch, im Nacken, vielleicht sogar einen leichten Schmerz hier oder dort.
Ganz anders, wenn man aus einem Traum erwacht, in dem man fliegen konnte, zauberhafte Landschaften zu sehen bekam und am Ende eine geliebte Person umarmen durfte. Dann wird man alle notwendigen Dinge schwungvoll erledigen, wird mit einem Gefühl der Zufriedenheit und Selbstsicherheit Nachbarn und Kolleginnen grüßen und wohlgemut sein Tagewerk in Angriff nehmen.
Es stellt sich vielleicht die Frage: Woher kommt so ein Traum? Habe ich am Abend vorher etwas besonders Raffiniertes gegessen oder getrunken? Und wie kann etwas derart Flüchtiges wie ein Traum die Stimmung eines ganzen Tages prägen? Oder, wie bereits erwähnt, eine anstehende schwierige Aufgabe oder ein Mitmensch verderben mir die Laune. Eine erfreuliche Begebenheit ermutigt mich. Es scheinen innere und äußere Auslöser zu sein – ein Traum, Erinnerungen, Gedanken, schwer oder leicht verdauliche Speisen, eine Begegnung, ein Erlebnis – die Stimmungen prägen und Gefühle auslösen.
Nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens regen solche inneren und äußeren Reize ganz bestimmte Strukturen im Gehirn (sie sollen später in diesem Buch vorgestellt und beschrieben werden: s. Kap. 3.1) zu verstärkter Aktivität an, welche in engem Zusammenhang mit dem Erleben von emotionalen Bewegungen stehen. Unter bestimmten Bedingungen breitet sich die Aktivität von hier aus auf weitere Gehirnareale aus. Und es werden verschiedene Botensysteme in Gang gesetzt, die ihrerseits in mehreren Körperorganen Veränderungen bewirken, wenn sich Emotionen voll entfalten. Wir können äußerlich typische Veränderungen in der Körperhaltung, der Gestik und Mimik beobachten. Auch die Stimme kann sich verändern – Tonlage und Sprechtempo. Jemand bekommt einen roten Kopf oder wird plötzlich blass. Und innerlich spüren wir vielleicht, wie unser Herz schneller schlägt, wie uns heiß wird, wir einen trockenen Mund oder plötzlich kalte Füße bekommen. Diese – häufig nicht willentlich beeinflussbaren – Veränderungen spielen eine wichtige Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wenn wir darauf achten und diese Veränderungen zu deuten wissen, sind sie auch für unser Selbstverständnis wichtige Signale. Sie beeinflussen, was wir als nächstes tun werden, häufig um ein Vielfaches rascher, als wenn wir auf der Grundlage von vernünftigen Überlegungen entscheiden müssten, ob wir uns einer Auseinandersetzung stellen oder uns zurückziehen.
Gefühle geben unserem Erleben, Handeln und Kommunizieren „Farbe“. Sie können angenehm oder unangenehm sein. Manchmal haben sie zerstörerische oder auch krankmachende Wirkungen. Ob ihre Wirkungen zuträglich oder schädlich sind, hängt zum einen von ihrer Qualität ab: Hass, Neid, Eifersucht, Angst, Wut oder Ekel machen uns, wenn wir sie über längere Zeit hinweg leugnen, nicht als zu uns gehörig anerkennen und nicht zum Ausdruck bringen, krank. Liebe, Freude, Zuversicht und Neugier stärken, wenn wir ihnen Raum geben, unsere Vitalität und Gesundheit. Zum anderen spielen selbst bei diesen sogenannten positiven Gefühlen deren Intensität und Dauer eine Rolle: Liebesgefühle, die zu intensiv und vielleicht nur einseitig sind, können einen Menschen „verzehren“. Wer dauerhaft von Neugier getrieben wird und nie zur Ruhe kommt, wird ebenfalls mit der Zeit Schaden nehmen. Milder Stress vermag anregend und lernförderlich zu wirken, traumatischer Dauerstress kann schwere Depressionen auslösen und zum Absterben von ganzen Nervenzellverbänden führen. Richtig dosierte und gezielt kommunizierte Wut ist imstande, entscheidende Veränderungen einzuleiten; unkontrollierte Wutausbrüche können zu sinnloser Zerstörung, zu Gewalt, in die Verzweiflung, ins Gefängnis oder in die Psychiatrie führen. Ein Ziel menschlicher Entwicklung und Reifung ist es daher, einerseits die eigenen Gefühle zu regulieren, zu dosieren und in geeigneter Form zu kommunizieren zu lernen und andererseits zu lernen, Gefühle von anderen wahrzunehmen, zu deuten und in geeigneter Form darauf zu reagieren.
Was „geeignete Formen“ sind, wird im Folgenden noch zu diskutieren sein. Einzelne wie auch Menschengruppierungen können sich (kollektiv) in Gefühle hineinsteigern oder (gegenseitig) beruhigen. Obwohl Gefühlen häufig Qualitäten von Naturgewalt und Urwüchsigkeit zugeschrieben werden, soll im Folgenden gezeigt werden, dass es lohnende Mittelwege zwischen vollkommener Unterdrückung und unbeherrschtem Ausagieren gibt. Diese zählen zu den Erscheinungsformen intelligenter Emotionalität. Unter „intelligenter Emotionalität“ verstehe ich ein harmonisches Zusammenspiel von Denken, Fühlen und Handeln, das es erlaubt, im Einklang mit der jeweiligen Umwelt Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, und persönliche oder übergeordnete Ziele zu verfolgen. Im Erleben und Verhalten steht das gesamte Spektrum der Emotionen zur Verfügung. Angst, Wut, Neid, rasende Begierde oder Verachtung können erlebt, toleriert, wahrgenommen, verarbeitet und in geeigneter Form bzw. in einer ausgewogenen Mischung aus Impulskontrolle und Expressivität kommuniziert werden. Voraussetzung für eine solchermaßen verstandene intelligente Emotionalität ist eine differenzierte Selbst- und eine genaue Wahrnehmung anderer.
In der Geschichte der abendländischen Philosophie wurden Emotionen überwiegend den niederen Trieben zugeordnet, die es zu überwinden oder zumindest zu beherrschen galt. In selteneren Fällen, z. B. in der Romantik, schrieb man den Gefühlen als Teil einer ungezähmten Natur Aspekte der Verheißung und einen beinahe utopischen Wert zu. Neu in der Moderne und Postmoderne ist die technische und chemische Beeinflussbarkeit unserer Emotionen, die auch vollkommen neue Fragen, z. B. die nach der Wünschbarkeit aufwirft.
Den Umgang mit Gefühlen lernen wir Menschen während des Heranwachsens vorwiegend im familiären Umfeld, später auch im Freundeskreis und mit anderen wichtigen Bezugsgruppen. Häufig geschehen diese Lernvorgänge unbewusst: z. B. „ein gebranntes Kind scheut das Feuer“ – ohne dass es darüber nachdenken oder entsprechende Entscheidungen treffen müsste. Die Erfahrung des Sich-Verbrennens war so schmerzhaft, dass die betreffende Person in Zukunft einen weiten Bogen um mögliche Quellen solcher Erfahrungen machen wird. Wichtige emotionale Lernvorgänge finden übrigens in einer Zeit statt (bereits intrauterin und in den ersten Lebensmonaten), in der die Gehirnstrukturen, die für ein explizites, bewusstes Lernen zuständig sind, noch nicht reif genug sind, um zu funktionieren. Diese frühen Lernerfahrungen prägen die Persönlichkeit.
Emotionales Lernen findet auch weiterhin ein Leben lang statt, ohne dass der einzelne Mensch hierin eine besondere gesellschaftliche Unterstützung erfährt. Es gibt zum Beispiel bisher kein Unterrichtsfach zur Schulung einer „Emotionalen Intelligenz“ oder „Intelligenten Emotionalität“.
In unserer Kultur heißt Erwachsenwerden, die emotionalen Stürme der Kindheit und Pubertät hinter sich zu lassen, ruhig und vernünftig zu werden, sich den Aufgaben des Lebens zu stellen – ohne große Gefühlsschwankungen, d. h. seine Emotionen zu kontrollieren. Dieser „Ideal-Norm“ entsprechen Angehörige der bildungsbürgerlichen Schicht vermutlich stärker als Menschen aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten.
Mit der Gründung einer Familie, dem Einstieg in ein Berufsleben, manchmal auch mit dem Erwerb von Grundeigentum, Bausorgen und finanziellen Belastungen findet eine deutliche Abkühlung des Gefühlslebens statt. Junge...