Heilpädagogische Unterstützung von erwachsenen Menschen mit Behinderung
Friedrich Dieckmann
Abb. 4: Heilpädagogische Unterstützung von erwachsenen Menschen mit Behinderung.
Heilpädagogik zeichnet sich als Handlungswissenschaft durch eine enge Verbindung von Disziplin und Profession aus (vgl. Gröschke, 2008). Dieser Beitrag will aufzuzeigen, wie und wo genau heilpädagogisches Handeln die Lebensführung von erwachsenen Menschen mit Behinderung unterstützt. Im ersten Kapitel wird die Frage nach der Anwendung von Heilpädagogik präzisiert. Sie soll durch die Untersuchung ihrer Einsatzbereiche beantwortet werden. Die Tätigkeitsfelder von Heil-, Behinderten- und Rehabilitationspädagogen – die Bezeichnungen werden hier synonym verwendet – werden in Anlehnung an die Teilhabebereiche der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung aufgegliedert. Auf der Basis der Fachliteratur und der Ergebnisse der Berufsfeldforschung soll in komprimierter Form ein hinreichend umfassender Überblick über die bedeutendsten Tätigkeitsfelder gegeben werden (Kap. 2).
Unabhängig von der Konkretisierung in den einzelnen Teilhabebereichen werden im Kapitel 3 Grundtypen heilpädagogischer Aufgaben unterschieden. Aufgabenspezifisch lassen sich Heilpädagogen in der Ökologie von Erwachsenen mit Behinderung und in den organisationalen Kontexten verorten, in denen ihr Tätigsein eingebettet ist.
Kapitel 4 ruft die wichtigsten Leitpostulate für die Arbeit mit Erwachsenen in Erinnerung, bevor sich der Kapitel 5 mit dem heilpädagogischen Handeln in den Teilhabebereichen Wohnen, Arbeit und Beschäftigung, Freizeit, soziale Beziehungen, Erwachsenenbildung, Gesundheit und „Leben in der Gemeinde“ befasst.
Abschließend werden – subjektiv gewichtet – einige heilpädagogische Handlungsmethoden für die Arbeit mit Erwachsenen mit Behinderung hervorgehoben (Kap. 6).
1 Fragestellung und begriffliche Klärungen
In welchen Handlungsfeldern und auf welche Weise kommt Heilpädagogik zum Einsatz, um erwachsene Menschen mit Behinderung zu unterstützen? Um diese sehr allgemeine Frage hinreichend transparent, umfassend und differenziert zu beantworten, soll zunächst begrifflich präzisiert bzw. eingegrenzt werden, was hier unter Heilpädagogik und der Anwendung von Heilpädagogik verstanden wird, und wie der Personenkreis von Erwachsenen mit Behinderung gefasst und aufgefächert wird.
Was meint Heilpädagogik?
Unter Heilpädagogik wird hier eine Handlungswissenschaft verstanden, die sich mit der speziellen Unterstützung der Lebenspraxis von Menschen mit individuellen körperlichen oder psychischen Einschränkungen beschäftigt, deren Teilhabe am Leben der Gesellschaft bedroht, behindert oder verhindert wird (ausführlich hierzu Gröschke, 2008). Der Begriff Heilpädagogik wird hier in einem weiten Sinne, als Sammelbegriff und Synonym für andere gebräuchliche Bezeichnungen wie Behindertenpädagogik oder Rehabilitationspädagogik verwandt. Die Sonderpädagogik wird als Teilgebiet der Heilpädagogik aufgefasst, die sich speziell mit Fragen der schulischen Erziehung beschäftigt.
Anwendung von Heilpädagogik
Die Anwendungsbereiche von Heilpädagogik zu skizzieren, könnte heißen, die Verbreitung heilpädagogischen Wissens in verschiedenen Feldern nachzuvollziehen (erste Strategie). Diese Untersuchungsvariante stößt auf zwei Schwierigkeiten:
- Als Handlungswissenschaft in komplexen Realitätsbereichen macht sich die Heilpädagogik das Wissen und die Erkenntnisse anderer Disziplinen zunutze, zum Beispiel der Psychologie, der Medizin, der Soziologie, der Ethik und der Rechtswissenschaft. In der „scientific community“ und in den heilpädagogischen Fachbereichen an deutschen Hochschulen finden sich neben Pädagogen Vertreter vieler anderer Disziplinen. Heilpädagogik hat – wie die Medizin oder die Sportwissenschaft – einen interdisziplinären Charakter. Von daher ist es schwierig einen Wissenskanon zu identifizieren, der die Heilpädagogik trennscharf von anderen Disziplinen unterscheidet.
- Die Handlungswissenschaft Heilpädagogik beschränkt sich nicht allein auf die Generierung und Vermittlung von deklarativem und prozeduralem Wissen, sondern legt großen Wert auf die Erarbeitung von Wertorientierungen und die Aneignung von Haltungen. Es geht also um echtes Handlungswissen, dessen Einsatz an Akteure gebunden bleibt. Als zweite Strategie bietet es sich an, als Anwendung von Heilpädagogik die Einsatzbereiche von professionell handelnden Heilpädagogen zu untersuchen. Eine auf berufliches Handeln zielende Wissenschaft muss mit einer Professionalisierung einhergehen. Aus der Analyse der Einsatzbereiche von Heilpädagogen (Behindertenpädagogen, Rehabilitationspädagogen usw.) lassen sich zudem Entwicklungsanforderungen an die Disziplin Heilpädagogik ableiten.
Professionelle Heilpädagogen
Die Einsatzfelder professioneller Heilpädagogen hängen auch mit ihren Ausbildungsabschlüssen zusammen. Im Fokus dieses Kapitels stehen vor allem Heilpädagogen (bzw. Behindertenpädagogen, Rehabilitationspädagogen) mit einem an einer Hochschule (Universität, Fachhochschule) erworbenen Diplom-, Bachelor- oder Masterabschluss. Daneben werden anerkannte Heilpädagogen häufig im Rahmen einer mehrjährigen Weiterbildung für Heilerziehungspfleger, Erzieher und andere soziale Berufe an Fachschulen, Fachakademien oder Berufskollegs ausgebildet. Heilpädagogen mit Fachschulabschluss werden in der Regel in niedrigere Gehaltsstufen eingruppiert. Die Höhereingruppierung von Heilpädagogen mit Hochschulabschluss hat Konsequenzen für deren Tätigkeitsprofil: In vielen Lebensbereichen (z. B. Wohnen, Arbeit und Beschäftigung) wird die unmittelbare Assistenz, die personenbezogene Dienstleistung von anderen „preiswerteren“ Berufsgruppen übernommen, deren Ausbildung durch mehr oder weniger umfangreiche heilpädagogische Anteile geprägt ist (zum Beispiel von Heilerziehungspflegern, Arbeitserziehern, Erziehern, Altenpflegern, auch von Heilpädagogen mit Fachschulabschluss).
In der Arbeit für erwachsene Menschen mit Behinderung gibt es wenige Stellen, die ausschließlich für Heilpädagogen ausgeschrieben werden. In der Regel sind Heilpädagogen Mitbewerber für Positionen, die auch von anderen akademischen Berufsgruppen besetzt werden, insbesondere von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen, Pflegewissenschaftlern, Psychologen oder auch von Betriebswirten. Mit der Einführung gestufter Studienabschlüsse (Bachelor und Master) wird zudem der Bewerberkreis größer werden, der über zwei, einen heilpädagogischen und einen anderen Hochschulabschluss verfügt.
Erwachsene Menschen mit Behinderung
Der Personenkreis der Erwachsenen mit Behinderung in Deutschland ist vom Lebensalter (junge Erwachsene bis Hochaltrige), von den Behinderungsarten und insbesondere von den individuellen Lebenslagen sehr heterogen. Dementsprechend unterschiedlich und vielfältig sind die Unterstützungssysteme und Unterstützungsleistungen, die sich herausgebildet haben.
Statistisch gesehen hängt die Lebenssituation von Erwachsenen mit Behinderung in Deutschland vom Alter ab, in dem eine Behinderung eintritt, und von der Art der Behinderung (Dieckmann, 2009; Driller und Pfaff, 2006).
Das Gros der amtlich anerkannten Schwerbehinderten machen Menschen aus, die ihre Behinderung gegen Ende des Erwerbslebens oder im Rentenalter durch Krankheit oder (seltener) Unfall erworben haben (75 % der 6,6 Mio. Schwerbehinderten in 2003 sind 55 Jahre und älter). Diese Gruppe ähnelt in ihrem Einkommen, ihrem Familienstand, im Vorhandensein von Kindern den Altersgleichen ohne Behinderung. Menschen mit einer im Alter erworbenen Behinderung leben am häufigsten mit einem Partner/einer Partnerin oder allein in ihrer eigenen, oft vor langer Zeit bezogenen Wohnung. Ein kleiner Teil wohnt bei einem ihrer Kinder. Auch im Falle einer Pflegebedürftigkeit werden über zwei Drittel dieses Personenkreises zu Hause versorgt. Nur ein Teil von ihnen verbringt einen vergleichsweise kurzen Zeitraum am Ende des Lebens in einem Pflegeheim (Verweildauer in 50 % der Fälle unter einem Jahr). Die Wertschätzung und Präferenz der häuslichen Umgebung spiegelt sich in Umfragen wieder. Unabhängig vom Lebensalter äußern 80 % der über 40-jährigen Deutschen den Wunsch, im Falle einer stärkeren Hilfebedürftigkeit in ihrer eigenen Wohnung bleiben zu können (Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2002).
4,7 % der amtlich anerkannten Schwerbehinderten gelten als von Geburt an behindert. Eine etwa gleich große Gruppe hat ihre Behinderung früh, in der Kindheit oder Jugend, erworben. Die Mehrzahl der von Geburt an behinderten Menschen ist zwischen 40 und 50 Jahre alt (Driller und Pfaff 2006). Die Lebens- und Wohnsituation von Erwachsenen mit einer angeborenen oder früh erworbenen Behinderung unterscheidet sich deutlich von der der Gleichaltrigen ohne Behinderung. Nur ein geringer Prozentsatz ist auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt. Ihr Einkommen bewegt sich überwiegend unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten lebenslang von Behinderung Betroffenen sind ledig und kinderlos, wobei Frauen und Männer mit Körper- oder Sinnesbehinderungen häufiger Kinder haben als Menschen mit geistigen Behinderungen. Auch angesichts der vergleichsweise kleineren außerfamilialen sozialen Netzwerke sind die Beziehungen zur Herkunftsfamilie bei der Bewältigung der Behinderung ein Leben lang von großer Bedeutung.
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