Abschied im Pfarrhaus
Es wird sein Abschiedsbesuch sein, das weiß Roberto, als er mit seiner Familie am 25. Februar 1990 in den kleinen Ort Lobetal nördlich von Berlin fährt. Hier haben seine Großeltern Margot und Erich Honecker seit Ende Januar ein Obdach im Pfarrhaus gefunden. Vor wenigen Monaten noch bewohnten sie keine zwölf Kilometer von Lobetal entfernt ein komfortables Haus in der Funktionärssiedlung Wandlitz. Als die neue Regierung ihnen hier den Mietvertrag gekündigt hatte, suchten die Großeltern für sich eine neue Bleibe und fanden sie in Lobetal im Wohnhaus von Pfarrer Uwe Holmer.
Die Auto-Route zum neuen Wohnort führt wie all die Jahre zuvor über Berlin-Pankow auf die Autobahn Richtung Bernau. Roberto kennt diese Straßenführung im Schlaf. Unzählige Male absolvierte er auf dem Rücksitz eines Volvos die gesicherte Regierungsstrecke. Einer von Großvaters Personenschützern steuerte den Dienstwagen.
Als Kind empfand Roberto jede Fahrt auf der sogenannten Protokollstrecke als Abenteuer: »Wenn man zu Hause abgeholt wird und alle Ampeln auf Grün springen, zeigt der Tacho schnell 160 km pro Stunde an. Mit einem Trabant kommt man mit Glück auf 110. Wir haben niemals länger als vierzig Minuten von Berlin-Mitte über die Greifswalder Straße und die Autobahn bis zum Wohnhaus der Großeltern in Wandlitz benötigt. Mein Lieblingsfahrer war Addi. Einmal zeigte er mir seine Pistole im Handschuhfach. Ihn mochte ich von allen Bodyguards am meisten. Erschüttert hat mich sein früher Tod. Er musste sich – wie alle anderen Personenschützer – nach dem Ende der DDR einen neuen Job suchen und arbeitete im Wachschutz für Geldtransporte. Bei einem Raubüberfall wurde er erschossen. Ein aufgesetzter Brustschuss aus nächster Nähe, durch die Schutzweste hindurch und völlig unerwartet. Der Bandit hat ihn förmlich hingerichtet.«
Familie Yáñez ist im eigenen Auto »Marke Wartburg 1.3 mit Sonderausstattung« nach Lobetal unterwegs. Das Modell, mit einem VW-Viertaktmotor ausgerüstet, ist erst 1988 auf den Markt gekommen. Es war bedeutend teurer als ein normaler 353er Zweitakter und wurde auch nur in kleiner Stückzahl produziert.
»Vater war ein bisschen stolz auf den Wagen. Bis heute hält sich ja das Gerücht, meine Familie hätte einen Volvo besessen, mit Fahrer. Nein, sogar Großmutter fuhr privat einen Wartburg, mit dem sie mich oft von der Schule abholte.«
Nach einer halben Stunde verlässt die Familie die Protokollstrecke an der Autobahnabfahrt Bernau-Süd in Richtung Eberswalde. Würden die Großeltern noch in Wandlitz wohnen, müsste man lediglich eine Ausfahrt später nehmen. Vater Leonardo konzentriert sich auf Nebenstraßen, damit er den Abzweig vom Biesenthaler Weg in die Bodelschwinghstraße nicht verpasst. Links abbiegen und schon kommt das Pfarrhaus auf der rechten Straßenseite ins Blickfeld.
Roberto darf die gesamte Wegstrecke auf dem Beifahrersitz logieren. Einerseits freut er sich auf das Wiedersehen, auf der anderen Seite füllt sich sein Herz mit Angst und Wehmut. In Vorbereitung der Ankunft zieht Mutter auf dem Rücksitz der einjährigen Schwester Vivian einen Overall an. Durch das vom Hausherrn bereits geöffnete Gartentor chauffiert der Vater das Auto auf die Rückseite des Kirchenhauses. Man soll den Besuch möglichst nicht von der Dorfstraße aus erkennen. Pfarrer Holmer schließt die Pforte, riegelt sie sorgfältig ab. Für den Nachmittag sind Demonstranten angekündigt.
Seit einigen Wochen leben die Großeltern nun schon im Pfarrhaus der evangelischen Gemeinde Lobetal. Pfarrer Uwe Holmer und seine Frau gewähren dem einst mächtigsten Ehepaar der DDR ein privates Asyl in ihrem Haus. Roberto war schon einige Male zu Besuch hier und kennt die Pfarrersfamilie. Die Großeltern wohnen im Obergeschoss in zwei Zimmern mit einer Kochplatte und einem kleinen Bad. Er empfindet die Atmosphäre im Pfarrhaus durchaus als angenehm. Großvater sitzt an einem schmalen Schreibtisch, liest Zeitung, notiert sich für ihn Wichtiges. Er sei erschüttert gewesen über seine Lage, traurig, aber Angst hat Roberto bei ihm nicht bemerkt.
Großmutter kocht das Essen für die Besucher. Den Kuchen haben die Eltern aus Berlin mitgebracht.
Für Familie Holmer war es keine leichte Entscheidung, den Chef-Atheisten der DDR bei sich aufzunehmen. Von ihren zehn Kindern konnte keines in der DDR ein Abitur machen, weil Pfarrer Holmer seine Abneigung gegen das SED-System nie verhehlt hatte. Aber die Pfarrgemeinde versteht sich im Geiste des Gründers der Stiftung Lobetal, des Pfarrers Friedrich von Bodelschwingh. Der hatte 1905 die Stiftung als Zufluchtsort für Obdachlose ins Leben gerufen. Dem fühlt sich das Pastoren-Ehepaar verpflichtet und nimmt gegen alle Anfeindungen die Honeckers in seinen Privaträumen auf. Von dessen Kindern leben noch zwei Söhne bei den Eltern.
Mit zweistelligen Plusgraden sind die Temperaturen Ende Februar ungewöhnlich mild. Nach einigen Stunden in der kleinen Stube bei den Großeltern drängt es Roberto ins Freie. Im Garten gesellt er sich zu Holmers Söhnen, die Fußball spielen. Erst nach geraumer Zeit bemerkt er, dass sich mehr und mehr Menschen um das Pfarrhaus versammeln. Sie halten Plakate hoch mit Aufschriften wie »Hängt Honecker« oder »Keine Gnade für Honecker«. Dann skandiert die Menge: »Honecker raus! Hängt ihn auf.« Die sich aufheizende Dynamik der Situation wirkt zunehmend gefährlich. Nur der Zaun hält die Menschenmenge davon ab, das Grundstück zu fluten. Roberto konzentriert sich ganz auf das Fußballspielen, schaut nicht mehr in Richtung der Demonstranten, verschließt seine Ohren. Zornige Rufe der aufgeputschten Demonstranten erreichen ihn nur noch als brummendes Geräusch. »Damals hat der Fußball mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich habe mich so auf den Ball fixiert, dass keine Angst bei mir einkehrte.«
1 Margot und Erich Honecker im Pfarrhaus Lobetal, 1990.
Das Ehepaar Holmer verhindert die drohende Eskalation. Es geht auf die aufgebrachten Menschen zu und erklärt, warum es die Fliehenden bei sich aufgenommen hat. Später berichtet Pfarrer Holmer den Honeckers von einer bewegenden Szene mit einem Mann, der sich empört habe: »Sie haben überhaupt kein Recht, dem Honecker zu vergeben, Sie haben ja auch nichts erlebt. Ich war fünf Jahre in Bautzen, eigentlich war ich zum Tode verurteilt, dann haben sie mich auf 15 Jahre begnadigt, und fünf Jahre habe ich dort gelitten. Was ich durchgemacht habe, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Seine Frau, die neben ihm stand, habe hinzugefügt: »Was eine Frau durchmacht, wenn sie den Mann abholen und man nicht weiß, wo er bleibt, das können Sie sich nicht vorstellen.« Darauf hatte Holmer geantwortet: »Ich habe Herrn Honecker nur vergeben, was er mir an Unrecht getan hat. Was er Ihnen an Unrecht getan hat, kann ich ihm nicht vergeben.« Dann schaute er dem Mann ins Gesicht und sah seine wirklich verbitterten Züge: »Was Ihnen Honecker an Unrecht angetan hat, müssen Sie ihm selbst vergeben. Wenn Sie ihm nicht vergeben, frisst die Bitterkeit Ihres Herzens Sie auf.« Und da hat der Mann einen Augenblick überlegt und dann gesagt: »Ja, Sie haben vielleicht recht, ich muss vergeben, und ich will vergeben.« Abschließend resümiert Pfarrer Holmer vor den nicht unbeeindruckten Honeckers, dass ihm bei dieser Begegnung sehr deutlich geworden sei, dass das biblische Wort von der Vergebung ein ganz lebenspraktisches Wort ist.
Die Worte des Pfarrers erreichen Roberto wie aus einem dichten Nebel, in Gedanken ist er bereits ganz woanders. In wenigen Minuten schon muss er sich von seinen Großeltern verabschieden. Doch diesmal ist es nicht das übliche »Auf...