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Ich war Hitlers letztes Aufgebot

Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat

AutorGünter Lucks
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783644426016
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das letzte Aufgebot der Nazis gegen Kriegsende bestand zum Teil aus Kindern. Eines davon ist der Hamburger Günter Lucks, Jahrgang 1928. Ende 1944 wird der 16-jährige HJler zu einer Grundausbildung der Wehrmacht nach Böhmen geschickt, im März 1945 wird er für die «Kampfgruppe Böhmen in der SS-Panzergrenadierdivision Hitlerjugend» rekrutiert. Einen Monat später werden die Jungen an die Front bei Wien geschickt. Das Kind kämpft und tötet - und gerät in sowjetische Gefangenschaft. Es beginnt eine jahrelange Odyssee durch diverse Lager im Baltikum und in Russland. Lucks hat Glück im Unglück; sein Sprachtalent, seine Musikalität, seine Anstelligkeit und sein kindliches Äußeres (das ihm den Spitznamen «Bubi» einträgt) verschaffen ihm Freunde auch bei den Russen. In Tuschino, seiner letzten Station, erlebt er die erste große Liebe seines Lebens zu einer jungen Russin, die er zeitlebens nicht vergessen wird. Erst 1950 kehrt er nach Hamburg zurück, von jeglicher patriotischen Abenteuerlust kuriert.

Günter Lucks, Jahrgang 1928, war nach der Ausbildung bis 1955 bei der Post tätig. Danach arbeitete er im graphischen Gewerbe, ab 1962 bis zur Rente im Axel Springer Verlag. Dort war er lange Jahre Betriebsrat. Eine Einladung der Bundeswehr in Gründung, ihr als Offizier beizutreten, hatte er abgelehnt. Er lebte in Hamburg, wo er im Dezember 2022 starb.

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Leseprobe

Abschied von Hamburg


Meine Kindheit endete an einem kalten Wintertag des Jahres 1945. Ich war 16 Jahre jung und stapfte an jenem 4. Januar über vereiste, leicht verschneite Straßen die vier Kilometer lange Strecke vom Stadtteil Horn, wo wir wohnten, bis zum Hamburger Hauptbahnhof – allein, zu Fuß, wieder einmal in HJ-Uniform und mit meinem Koffer in der Hand. Ich lief durch die fast vollständig zerstörten Straßenschluchten im Osten der Hansestadt, nicht ahnend, was mich erwartete. Nur ein Gefühl sagte mir, dass sich mein Leben jetzt von Grund auf änderte.

Ein erst wenige Wochen alter Befehl lautete, alle wehrfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren sollten zum sogenannten Volkssturm einberufen werden. Und einen solchen Meldebefehl zum Volkssturm war auch ich damals gefolgt. Es war Hitlers letztes Aufgebot. Den Volkssturm karikierte der Volksmund mit den Worten «Silber im Haar, Gold im Mund, Blei in den Knien» – eine wenig schlagkräftige Truppe, zusammengewürfelt aus Alten, Kriegsversehrten und halben Kindern, wie ich eines war. Die alten Männer trugen Zivilkleidung und eine weiße Armbinde, auf der «Deutsche Wehrmacht» stand. Ausgerüstet waren sie mit alten Karabinern und wenigen Patronen. Viele von ihnen verdrückten sich vor den Kampfhandlungen, tauchten bei Verwandten auf dem Lande unter oder sogar in ihren Schrebergärten. Zu längeren Kampfhandlungen bei der Einnahme der meisten deutschen Städte kam es ja glücklicherweise im letzten Kriegsjahr nicht, sieht man einmal von der Schlacht um Berlin ab.

Einige Kampfwillige dieser Altherren nervten die Jungen aber, indem sie ständig ihre Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zum Besten gaben. «Hör schon auf, Opa», hieß es dann oft. Die Jungen in ihren HJ-Uniformen waren zumeist besser bewaffnet. Viele fuhren auf Fahrrädern zum «Fronteinsatz» und hatten sich Panzerfäuste zur Panzernahbekämpfung umgeschnallt. Doch insgesamt blieb es ein ziemlich armseliger Haufen, allein schon des Bildes wegen, das er abgab. Und es war unverantwortlich, diese militärisch gänzlich unbedarften Menschen in den Krieg zu schicken. Natürlich sah ich das damals anders: Ich fühlte mich erwachsen, als angehender vollwertiger Soldat. Und ich fühlte Stolz, in dieser entscheidenden Stunde endlich vom Vaterland gebraucht zu werden.

Vom Wehrbezirkskommando im Stadtteil Rotherbaum, dort hatte ich mich zuvor gemeldet, hatte ich ein Schreiben bekommen, mit welchem mir befohlen worden war, mich in ein RAL zu begeben – das stand für Reichsausbildungslager. Als Marschziel war die Lausitz eingetragen, die Gegend sagte mir aber ebenso wenig etwas wie das Kürzel RAL. Ich dachte, das sei vielleicht eine Gruppierung des Volkssturms. Noch in der Nacht brach ich auf, um meinen Zug am frühen Morgen zu erreichen.

Kalt war mir an diesem Tag, als ich zum Hamburger Hauptbahnhof lief, das Thermometer zeigte vier Grad unter null. Lange Strecken zu Fuß zu laufen war damals nichts Besonderes, wir alle hatten darin Übung. Leise sang ich vor mich hin: «Und wenn wir marschieren, dann leuchtet ein Licht, das Dunkel und Wolken strahlend durchbricht!» Stets, wenn wir dieses Lied in der Hitlerjugend gesungen haben, stellten wir uns vor, dass damit der Führer gemeint war. Für uns Jugendliche war er so etwas wie eine Leitfigur, eben unser Licht. Es wurde allmählich hell, als ich den Hauptbahnhof erreichte. Besorgt blickte ich zum Himmel, ob dort die typischen Kondensstreifen der anfliegenden Bomberpulks zu sehen waren. Zum Glück war der wolkenlose Himmel leer, aber man konnte da nie sicher sein. In den letzten Monaten des Krieges näherten sich die viermotorigen «Fliegenden Festungen» der Amerikaner (Boeing B-17 «Flying Fortress») den deutschen Städten oft, ohne dass es für die Bevölkerung eine Vorwarnung durch Sirenenalarm gab.

Der Hauptbahnhof war zu einem großen Teil zerstört. Betroffen waren vor allem die Verglasungen in der Dachkonstruktion. Überall waren gewaltige Tarnnetze gespannt worden, die den Bahnhof vor den Fliegerangriffen schützen sollten, zum Teil aber verbrannt und nicht erneuert worden waren. Am Südportal des Hauptbahnhofs fiel mir ein Propaganda-Schriftzug auf, ähnlich einer heutigen Werbetafel. In großen Lettern stand da: «Ein Hundsfott, der jetzt den Führer verlässt.» Für lange Zeit war dies das Letzte, was ich von Hamburg sah.

Mich meiner Einberufung zu entziehen, kam mir nicht in den Sinn. Nicht, weil ich fanatisch an den «Endsieg» glaubte. Trotz der einseitigen Berichterstattung in den Medien war wohl den meisten von uns inzwischen ziemlich klar, dass, wenn überhaupt, ein Sieg in sehr sehr weiter, womöglich unerreichbarer Ferne lag. Vielmehr erhoffte ich mir von meinem Fronteinsatz in erster Linie eine Veränderung meines bis dato wenig aufregenden Lebens. Ich wollte etwas erleben und nicht länger mit meinen kleinen Geschwistern im Ruinenkeller leben. So absurd das aus heutiger Sicht klingen mag: Ich erwartete vom Krieg, vom Soldatenalltag, so etwas wie Abenteuer, Spannung, Unterhaltung. Und ich wollte raus aus diesem grauen, von Bombenalarm, Mangelwirtschaft und Frust geprägten Alltag der deutschen Großstadt. Und wie selbstverständlich glaubte ich der NS-Propaganda von der Notwendigkeit, die Heimat vor dem Ansturm «bolschewistischer Horden» zu schützen, vom Recht auf Verteidigung gegen eine Welt von Feinden. Als pflichtbewusster Hitlerjunge wollte ich meinen Beitrag zur Landesverteidigung leisten. Ich ging davon aus, nach einer kurzen militärischen Ausbildungszeit vorerst wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen, ehe es dann zum echten Fronteinsatz kommen würde. Zumindest war uns das so versprochen worden. Ich war damals einfach grenzenlos naiv.

Meine Mutter und mein Stiefvater hielten nichts von der Idee, waren aber wohl erleichtert, einen Esser weniger durchfüttern zu müssen, denn der Mangel war allgegenwärtig und der Platz im Keller begrenzt. Mein Stiefvater hatte meine Mutter, die einige Tränen vergoss, beruhigt und gesagt: «Der Krieg ist ja bald vorbei, der Junge kommt sowieso nicht mehr an die Front.»

Ich bestieg meinen Zug. Eine sogenannte Kriegseinheitslok – Güterzug-Dampflok Typ BR 52 369 – zog die Waggons, die mit dem Schriftzug «Räder müssen rollen für den Sieg» versehen waren. Weil zu Beginn des Jahres 1945 die Tieffliegerangriffe auf Bahnzüge stark zugenommen hatten, war am Ende jedes Zuges ein flacher Waggon ohne Aufbauten angehängt, auf dem eine Vierlingsflak montiert war. Auch unser Zug zog so eine Fliegerabwehrkanone hinter sich her. Denn hinter den Elbbrücken, auf dem platten Lande Niedersachsens, war die Gefahr, Opfer von Tieffliegern zu werden, am größten. Doch wir sollten unbehelligt davonkommen.

Als der Zug über die Elbbrücken fuhr, sangen die Soldaten, die gerade ihren Urlaub beendet hatten, um sich aufzuheitern, verstummten aber bald wieder. «Das ist die Strecke nach Hannover», sagte mir ein alter Soldat, der seine Pfeife ausklopfte. Es ging nach Süden. Mein Einberufungsbefehl zeigte mir als vorläufigen Bestimmungsort das Städtchen Bernsdorf in der Oberlausitz an – erste Station meiner Odyssee. Eine Idee, wie ich da hinkommen sollte, hatte ich nicht. Stunden später irrte ich in verschiedenen Personenzügen zwischen Leipzig und Cottbus hin und her. Es gab zwar noch so etwas wie einen planmäßigen Schienenverkehr, das half einem aber auch nicht weiter, wenn man keinen Plan hatte, wie man sein Ziel erreichen konnte.

Nach einer längeren Suche, einigen Umwegen und vielen Fragen fand ich schließlich doch den Bernsdorfer Stadtteil Straßgräbchen. Von der dortigen Kommandobehörde erhielt ich einen weiteren Marschbefehl. Prag lautete mein nächstes Ziel. Das Ganze bekam etwas von einer Schnitzeljagd, denn von Prag aus wurde ich schließlich nach Bad Luhatschowitz in die Nähe von Brünn geschickt, in das dortige «Reichsausbildungslager 6». Ich sollte an einem sogenannten «Lehrgang für Wehrertüchtigung der Hitler-Jugend gemäß Erlass des Reichsjugendführers I J 2160 vom 22. Mai 1942» teilnehmen – wie ich später der Teilnahmebestätigung entnahm. Am 6. Januar kam ich am späten Nachmittag in Brünn an. Die Gegend war mir nicht fremd, denn etwa 30 Kilometer nördlich lag Tischnowitz, der Ort, in den wir 1943 evakuiert worden waren.

Nachdem ich auf dem Bahnhof eingetroffen war, suchte ich nach Anschlusszügen, die für mich in Frage kämen. Natürlich erfolglos. Abends, gegen 20 Uhr, eröffnete mir ein Bahnangestellter, dass lediglich noch die Möglichkeit bestand, den letzten Zug nach Zlin zu nehmen. Das lag gerade mal auf halbem Weg zum Bestimmungsort. Was sollte ich machen? Geld für eine Übernachtung hatte ich nicht. Ich fuhr also nach Zlin. Dort angekommen, marschierte ich mit meinem Koffer in der Hand durch den nächtlichen, tiefverschneiten Wald, um an mein Ziel zu gelangen, obwohl mir die Leute im Bahnhof davon abgeraten hatten. Ich dachte an das, was uns Hitlerjungen stets eingetrichtert worden war: Nur keine Angst haben, Augen zu und durch! Ich hätte mir besser überlegen sollen, was es heißt, bei vier Grad unter null nachts 15 Kilometer durch den Schnee zu stapfen. Es war eine ziemlich blöde Idee, und irgendwann schwante mir, dass ich mich verlaufen würde. Ich weinte still vor mich hin, die Tränen gefroren mir auf den Wangen. Ich war verzweifelt und müde, hatte Heimweh – und marschierte tapfer weiter. Ich war etwa fünf Kilometer durch den verschneiten Wald gelaufen, es war nach Mitternacht, als ich schwach ein Licht durch die Bäume schimmern sah. Wenig später zeichnete sich die...

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