1. Angst – einem Phänomen auf der Spur
Niklas ist leicht angespannt. Ein bisschen schwitzt er an den Händen, er hört sein Herz pochen. Der Elfjährige atmet auch etwas schneller, als der Mathematiklehrer die Klassenarbeit vor ihn hinlegt. Doch Niklas ist gut vorbereitet und entspannt sich langsam, als er die Beispiele sieht. Mit Elan und voll konzentriert macht er sich an die Lösungen. Im Laufe der Stunde, während ihm eine Aufgabe nach der anderen gelingt, wird er immer lockerer.
Sophie, 8 Jahre, hat sich davongeschlichen und kramt im dunklen Keller der Eltern herum. Die Beleuchtung ist nur spärlich. Plötzlich geht das Licht aus, und es ist zappenduster. Sophie stößt einen kleinen Schrei aus und atmet flach. Dann wird sie panisch und fängt an zu schreien, bis endlich ein kleines Licht auftaucht und die vertraute Stimme von Mama ertönt: »Keine Angst, Sophie!«
Spätabends geht der 16-jährige Jakob durch den Park. Es ist ziemlich dunkel. Plötzlich bemerkt er, dass ihm jemand folgt. Wenn er schneller geht, bewegt sich diese Person auch schneller. Wenn er stehen bleibt, hält auch sie an. Sein Herz beginnt zu rasen und der Puls pocht wie verrückt. Er schwitzt und zittert, alles ist plötzlich angespannt. Jakob geht immer schneller, bis er fast rennt. Erst als er vor sich eine alte Frau sieht, die auch durch den Park geht, entspannt er sich. Langsam geht Jakob mit ihr mit.
Es ist halb zehn am Abend, und Finn steht im Schlafzimmer seiner Eltern. Der 9-Jährige brüllt wie am Spieß: »Die Monster kommen mich holen!« Durch nichts lässt sich Finn beruhigen, außer dadurch, dass die Eltern ihn ins Bett holen. Tag für Tag geht das nun so. Die Eltern sind völlig genervt von Finns Panikanfällen.
Ob im Klassenzimmer oder im Keller, im Park oder im Bett – überall erleben Kinder dieses Gefühl von Angespanntheit und Erregung, das man allgemein Angst nennt. Eine zutreffende Bezeichnung, denn »Angst« kommt aus dem Lateinischen und ist verwandt mit den Begriffen »angustus« und »anguster«, die Enge und Bedrängnis bedeuten. Wir empfinden Angst in Situationen, die uns einengen und in denen wir offensichtlich aufgefordert sind, etwas zu tun. Angst wird definiert als menschliches Grundgefühl, das sich als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Sie wächst in Situationen, die als bedrohlich empfunden werden und für die eines typisch ist: das Uneindeutige, die Unklarheit gegenüber dem, was als Nächstes folgen und wirklich passieren wird. Anders gesagt: Angst ist ein Grundgefühl, das in uneindeutigen Gefahrensituationen auftritt. Auslöser können zum Beispiel wirkliche oder vorgestellte Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit, der Sicherheit oder der Selbstachtung sein. Ist die Gefahrensituation eindeutig, wissen wir also genau, wer oder was der Auslöser ist – etwa eine Spinne, ein wildes Tier oder ein Auto, das heranrast –, dann sprechen wir nicht mehr von Angst, sondern von Furcht.
Nun haben Reaktionen wie Anspannung und Erregung aber auch einen positiven Effekt: Sie setzen Energien frei und leiten sie in Handlungen um. Dieser wichtige Aspekt wird allerdings kaum wahrgenommen, denn die Angst steht als Gefühl nicht hoch im Kurs. Das zeigen schon Redewendungen wie »vor Angst wie gelähmt sein« und »vor Angst vergehen«. Am liebsten würden wir alle unsere Ängste aus unserem Sein verbannen – angstfrei leben, keine Angst mehr haben, das sind Ziele des modernen Menschen. Und so tauchen auch im pädagogischen Zusammenhang regelmäßig ein Schlagwort und eine damit verbundene Forderung auf: die »angstfreie Schule«.
Aber nicht nur die Angst vor der Klassenarbeit lässt sich so leicht verscheuchen. Ängste treten auf und erfüllen uns, noch bevor wir darüber nachdenken können, oder sie wirken längst in uns, ohne dass wir sie überhaupt wahrgenommen hätten. Ängste sind offensichtlich allgegenwärtig und gehören zu unserem Leben ganz einfach dazu. Daher sollten wir versuchen, sie nicht ausschließlich als negative Grunderregung wahrzunehmen, die wir einfach nur loswerden wollen.
Es gibt viele Beispiele, wie Angst auch als lustvolle Erfahrung gesucht und erlebt wird, etwa in Form des Thrills. Denken wir nur an Kletterer und andere Extremsportler. Was reizt, ist der Kontrast zwischen der aufregenden Gefahrensituation und ihrer Bewältigung. Das führt nicht nur bei Extremsportlern zu einer Steigerung des Lebensgefühls und zu Wohlbefinden, auch das erfolgreich bewältigte Referat vor der ganzen Klasse kann einem Schüler große Befriedigung verschaffen, wenn er seine Redeangst überwunden hat. Immer wieder einen neuen Kick zu suchen gehört zur persönlichen Entwicklung dazu, es kommt aber auf die richtige Balance an. Nicht umsonst gilt die Pubertät als gefährliche Zeit, weil hier oft diese Balance zwischen dem Suchen des Kicks und maßvoller Kontrolle fehlt.
Biologisch gesehen, hat die Angst einiges zu bieten: Sie erhöht die Aufmerksamkeit, sie steigert das Seh- und Hörempfinden, sie erhöht die Muskelspannung und die Reaktionsgeschwindigkeit. »Unnütze« Dinge wie Verdauung, Darm und Blase hält sie für den Zeitraum der zu erbringenden Höchstleistung zurück. Sie bringt die Herzfrequenz in die richtige Position und erhöht den Blutdruck. Überspitzt gesagt: Ohne Angst ist ein gelungenes Leben nicht denkbar.
Angst beherrscht uns Menschen. Daher beschäftigen sich nicht nur psychologische Theorien mit ihrer Funktion und ihrer Bedeutung. Ein Blick auf die menschliche Entwicklungsgeschichte gibt Aufschluss über die wichtige Funktion der Angst. Stellen wir uns vor, wie Menschen vor einigen Millionen Jahren lebten: Eine Gruppe von Jägern und Sammlern wandert durch die Savanne. Mannshohes Gras, plötzlich ein Knistern, ein Knacksen, ein Knurren und Brüllen – die Jäger und Sammler denken nicht mehr nach, sondern rennen augenblicklich zum nächsten Baum, denn sie wollen nur eines: nicht gefressen werden. Dann stellt sich heraus, dass es nur ein kleines Wildschwein war, und ohne nachzudenken, wird zum Angriff übergegangen. Oder bleiben wir im Hier und Jetzt: Eine Wespe will sich auf Ihren Handrücken setzen. Bevor Sie nachgedacht haben, haben Sie sie vertrieben, also angegriffen.
Im Sinne unserer Entwicklungsgeschichte hat Angst eine außerordentlich wichtige Funktion. Sie ist ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus, der in tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet – und das ganz ohne das Zutun unseres Bewusstseins. Angst ist ein wichtiges Steuerungsinstrument bei gefahrenträchtigem Verhalten und ein Warnimpulsgeber, somit ist sie eine unverzichtbare Grundausstattung des Selbsterhaltungstriebes. Angst ist entwicklungsgeschichtlich deshalb so bedeutend, weil sie die entscheidende Hilfestellung dazu gibt, zu überleben und sicher zu sein. Das gilt für früher genauso wie für heute. Zwar wird sie damals wie heute regelmäßig zu früh ausgelöst – aber sicher ist sicher.
Viele von uns haben aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass Angst auch Handeln blockiert, indem es jegliche Gefahren und Risiken ausblendet. Das zeigt sich zum Beispiel beim sogenannten Blackout in Prüfungssituationen. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts formulierten die Psychologen Yerkes und Dodson das sogenannte Gesetz der Angst. Demzufolge besteht ein simpler Zusammenhang zwischen dem Erregungsniveau eines Menschen und seiner Leistungsfähigkeit. Ob der Mensch herausfordernden Situationen gewachsen ist, hängt von seinem Aktivitätsniveau ab, das durch Erregung so sehr erhöht sein kann, dass sein Handeln beeinträchtigt oder blockiert wird.
Nur wer keine Gefahren spürt, kennt keine Angst. Das Gefühl der Angst ist eine Alarmanlage, die zu unempfindlich, aber auch zu sensibel eingestellt sein kann. Letzteres ist gefährlicher.
Ein Baby kommt bereits mit diesen das Leben schützenden und persönliche Leistungen steigernden Alarminstrumenten auf die Welt. Biologisch vorgegeben reagiert es einfach auf einige Reize schneller. Der Psychologe Martin Seligman beschreibt das so, dass wir von Natur aus auf das Leben vorbereitet sind.
Nun gibt es eine Reihe Reize, die Ängste auslösen, die wir auch als Urängste bezeichnen: Dunkelheit, Verlust des Gleichgewichts, Körperkontakt von hinten, Spinnen, Schlangen und ähnliche Tiere, wütende Gesichter. Das schützt uns bei sogenannten heimischen Gefahrenquellen. Vorbereitet sind wir auch, auf uneindeutige Situationen zu reagieren, mit dem Ziel, sie zu klären und ihnen aktiv zu begegnen. Auf neuzeitliche Gefahrenquellen wie etwa Schusswaffen oder Elektrokabel, die herumliegen, sind wir hingegen biologisch nicht vorbereitet. Trotzdem empfinden wir Angst beim Anblick eines Gewehrs oder einer Pistole, die auf...