Einleitung
»Unter den für die Aufnahme in die Abt. 3 der Deutschen Volksliste vorgesehen Personen befinden sich solche, die in rassischer Hinsicht ungeeignet sind, in die deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen zu werden. Ein Zustrom blutmässig unerwünschter Elemente in den deutschen Volkskörper muss aber unbedingt unterbunden werden.«1
So Heinrich Himmler am 30. September 1941 bei einem Versuch, die Selektion der einheimischen Bevölkerung im besetzten Westpolen unter seine Kontrolle zu bringen.
Die sogenannten eingegliederten Ostgebiete waren zu diesem Zeitpunkt längst zu einem Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten deutschen Dienststellen geworden. Im Krieg gegen Polen besetzt und bereits im Oktober 1939 an das Deutsche Reich angeschlossen, mutierte dieses Territorium zu einem »Exerzierplatz« nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik: Hier wurde die Bevölkerung systematisch selektiert, hier lag der Schwerpunkt nationalsozialistischer Deportationspolitik, und hier wurden auch die ersten Schritte auf dem Weg in den Massenmord an politischen Gegnern, Insassen von Heilanstalten und später der jüdischen Bevölkerung gegangen.2 Die Erklärungsstränge für diese Gewaltexplosionen kreuzen sich in zwei für den Nationalsozialismus zentralen Begriffen: »Volksgemeinschaft« und »Lebensraum«. Obwohl Polen nicht der erste östliche Nachbar war, der der Aggressionspolitik des Deutschen Reiches zum Opfer fiel, und auch nicht dessen primäres Zielobjekt, so war es doch dieses Land, genauer: die westlichen Landstriche, die zuerst germanisiert werden sollten und auf die die Nationalsozialisten ihre fürchterliche Vision, ihre Dystopie vom »deutschen Lebensraum im Osten«, zuerst projizierten.
Der nationalsozialistische Anspruch, die annektierten Gebiete zu germanisieren, umfasste freilich ein weites Tätigkeitsfeld, das vom Raub polnischen Eigentums3 über Versuche, das einheimische Bildungssystem durch ein deutsches zu ersetzen4 oder den Städten ein »deutsches Gepräge« zu geben,5 bis zur Landschaftsgestaltung reichte.6 Im Zentrum aller Bestrebungen stand jedoch die Germanisierung der Bevölkerung. Im Kern bedeutete dies die Selektion der einheimischen Bevölkerung in »Fremdvölkische«, die zu vertreiben oder aber zu ermorden waren, und in »Deutsche«, die – zusammen mit den hierher umgesiedelten Volksdeutschen aus Osteuropa und Umsiedlern aus dem Deutschen Reich – den Kern der hier durchzusetzenden »Volksgemeinschaft« bilden sollten.
Angesichts der Bedeutung, die diesem Komplex in der nationalsozialistischen Ideologie und in der Begründung des Krieges zukam, hätte es nicht erstaunt, wäre dieses Gebiet unmittelbar nach seiner Annexion einer von langer Hand vorbereiteten, kohärenten und systematischen Germanisierungspolitik unterworfen worden.7 Schließlich hatte Hitler bereits 1922 den Rahmen hierfür vorgegeben und wenige Jahre später schriftlich fixiert.8 Wenn die »Außenpolitik des völkischen Staates« – so Hitler hier – »zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis« zu schaffen habe, dann würde eine Rückkehr zu den Grenzen von 1914 nicht ausreichen.9 Solche Forderungen seien im Gegenteil »politischer Unsinn«, ein möglicher Erfolg so »erbärmlich […], daß es sich […] nicht lohnen würde, dafür erneut das Blut unseres Volkes einzusetzen«.10 Eine nationalsozialistische Außenpolitik würde stattdessen den »Blick nach dem Land im Osten [weisen]. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.«11 Was mit der dort lebenden Bevölkerung geschehen sollte, blieb in »Mein Kampf« noch vage, auch wenn Hitler in kursorischen Passagen für ein konsequent rassisches Vorgehen plädierte: »Germanisation« dürfe eben nicht in erster Linie als »äußerliche Annahme der deutschen Sprache« missverstanden werden – eine Kritik, die vor allem auf die Versuche Preußens und des Habsburgerreiches anspielte, die nicht deutsch sprechende Bevölkerung notfalls auch unter Zwang zu assimilieren. »Germanisation« – so Hitler weiter – könne »nur am Boden vorgenommen werden […] niemals an Menschen«. Aus rassischer Perspektive erschien das Scheitern dieser früheren Politik so wenig verwunderlich wie bedauernswert. Sei es doch ein »kaum faßlicher Denkfehler, zu glauben, daß […] aus einem Neger oder einem Chinesen ein Germane wird, weil er Deutsch lernt«. Die damit zwangsläufig einhergehende »Blutsvermischung« hätte außerdem die »Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse« und die Vernichtung der »kulturellen Kräfte« des »deutschen Volkes« bedeutet, sodass es »heute kaum mehr als Kulturfaktor [hätte] angesprochen werden können«.12 Noch deutlicher wird Hitler im – freilich unveröffentlichten – »Zweiten Buch«:
»Der völkische Staat durfte umgekehrt unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen. Er mußte im Gegenteil den Entschluß fassen, entweder diese rassisch fremden Elemente abzukapseln, um nicht das Blut des eigenen Volkes immer wieder zersetzen zu lassen, oder er mußte sie überhaupt kurzerhand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen.«13
Wenn sich Hitler also eher auf die Kritik der bisherigen Versuche Preußens und der Habsburgermonarchie verlegt hatte, denn Programmatisches zu formulieren, so war doch eines klar: Die von einem nationalsozialistischen Deutschland in Osteuropa zu besetzenden Gebiete könnten nur entvölkert ihre Funktion als erweiterter »deutscher Lebensraum« für ein »Raum ohne Volk« erfüllen, wie sie auch auf Dauer nur durch die Besiedlung von »Deutschen« zu sichern waren.
Die Verhältnisse in Hitlers Deutschland waren freilich andere. So erschwerten bereits die strukturellen Eigentümlichkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft jede langfristige Planung für die Zeit nach dem Krieg. Nach der Kapitulation Polens meldete dann auch gleich eine Vielzahl von Akteuren ihren Anspruch an, die Germanisierung dieser Gebiete federführend zu übernehmen: das Reichsinnenministerium, die Provinzverwaltungen und schließlich Himmler in seiner neuen Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), um nur die wichtigsten zu nennen. An diesem Punkt zeigt sich aber auch, wie irreführend und vereinfachend Annahmen sind, die die Politik der NSDAP nach der Machtübergabe als Umsetzung nationalsozialistischer Ideologieproduktion sehen – oder gar als direkte Übersetzung von aus dem Parteiprogramm oder »Mein Kampf« entnommener Parolen aus einer Zeit, in der Hitler und seine Gefolgsleute kaum mehr waren als ein unbedeutender Teil der politischen lunatic fringe der Weimarer Republik, bar jeder Notwendigkeit oder Möglichkeit, ihre Parolen in nationale Politik umzusetzen.
Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Formulierung und Durchsetzung der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im annektierten Westpolen. Es konnte keine Rede davon sein, dass die einem polykratisch strukturierten Herrschaftssystem inhärenten Fliehkräfte konkurrierender politischer Interessen durch einen gemeinsamen Rekurs auf zentrale Elemente nationalsozialistischer Ideologie entschärft worden wären. Im Gegenteil: Gerade die Inkohärenz der nationalsozialistischen Ideologie erlaubte es den rivalisierenden Akteuren, auch widersprüchliche Politikentwürfe ideologisch zu legitimieren. Typisch dann auch die Konsequenzen: jahrelange Auseinandersetzungen, in denen oftmals über die grundlegendsten Fragen keine Einigkeit herzustellen war und die schließlich nicht durch eine Entscheidung von höchster Stelle aus Berlin beendet wurden, sondern aus Moskau – durch die Rote Armee.
Himmlers eingangs zitierte Anordnung verweist auf eine dieser Auseinandersetzungen. Anlass waren die Kriterien der sogenannten Deutschen Volksliste, die als Selektionsinstrument die einheimischen »Deutschen« erfassen sollte. Diese Anordnung wirft eine Reihe von Fragen auf: Weshalb hatten sich die verantwortlichen deutschen Stellen bis zum September 1941, also nach immerhin zwei Jahren deutscher Besatzungsverwaltung, noch immer nicht auf allseits akzeptierte Selektionskriterien einigen können? Vor allem aber: Wie kam es, dass die praktizierte Selektionspraxis nicht den Vorgaben Hitlers gefolgt war und sich auf die »Germanisierung des Bodens« beschränkte, sondern offensichtlich auf die Assimilierung von Nichtdeutschen zielte, sodass sich Himmler zu einer nachträglichen Kurskorrektur genötigt sah und den Ausschluss...