EINLEITUNG
Kaffeesatzleserei
Victor Norris hatte bei der Bewerbung um eine Stelle in der Kinderbetreuung die letzte Runde erreicht, aber weil er in Amerika an der Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert lebte, musste er sich noch einer psychologischen Beurteilung unterziehen. An zwei langen Novembernachmittagen verbrachte er acht Stunden in der Praxis von Caroline Hill, einer psychologischen Gutachterin in Chicago.1
Norris hatte in den Bewerbungsgesprächen einen sehr guten Eindruck gemacht; er wirkte charmant und freundlich und hatte einen soliden Lebenslauf und makellose Empfehlungen vorzuweisen. Hill fand ihn sympathisch. Seine Ergebnisse bei den kognitiven Tests, die sie mit ihm durchführte, lagen im mittleren bis oberen Bereich, sein Intelligenzquotient lag sogar weit über dem Durchschnitt. Bei dem in Amerika am häufigsten eingesetzten Persönlichkeitstest, dem sogenannten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI), der aus 567 Ja-Nein-Fragen besteht, zeigte er sich kooperativ und gut gelaunt. Auch hier waren die Ergebnisse unauffällig.
Dann zeigte Hill ihm eine Reihe von Bildern ohne Titel und erklärende Texte und forderte ihn auf, ihr zu schildern, was auf jedem einzelnen der Bilder vor sich ging – eine weitere Standardbegutachtung namens Thematic Apperception Test (TAT). Hier lieferte Norris Antworten, die wenig naheliegend erschienen, aber immer noch unverfänglich waren. Seine Geschichten klangen gefällig und enthielten keine unangemessenen Gedanken, und es bereitete Norris keinerlei Unbehagen, sich zu den Bildern zu äußern.
Als am Ende des zweiten Nachmittags die für Chicago typische frühe Dämmerung einsetzte, bat die Psychologin Norris, sich auf einen niedrigen Sessel neben der Couch in ihrer Praxis zu setzen. Sie nahm ihm gegenüber Platz, legte einen großen Notizblock bereit und holte einen dicken Ordner hervor, aus dem sie ihm nacheinander zehn Papptafeln reichte, auf denen jeweils ein symmetrischer Farbklecks abgebildet war. Jedes Mal, wenn sie ihm eine Tafel gab, fragte sie: »Was könnte das sein?« oder »Was sehen Sie?«
Fünf der Abbildungen waren schwarzweiß, zwei wiesen auch rote Formen auf und drei waren mehrfarbig. Bei diesem Test sollte Norris keine Geschichte zu den Bildern erzählen und auch nicht schildern, was er empfand, sondern einfach sagen, was er sah. Es gab kein Zeitlimit und keine Anweisungen dazu, wie viele Antworten er geben sollte. Hill hielt sich so weit wie möglich heraus und ließ Norris nicht nur offenlegen, was er in den Tintenklecksen sah, sondern auch, wie er an die Aufgabe heranging. Er durfte jede Tafel in die Hand nehmen, sie drehen, sie auf Armeslänge entfernt oder dicht vor die Augen halten. Alle Fragen, die er stellte, wurden abgewiegelt.2
Kann ich sie drehen?
Das bleibt Ihnen überlassen.
Soll ich alles einbeziehen?
Wie Sie wollen. Jeder sieht etwas anderes.
Ist das die richtige Antwort?
Es gibt alle möglichen Antworten.
Nachdem sich Norris zu allen zehn Tafeln geäußert hatte, machte Hill einen zweiten Durchgang. »Ich werde Ihnen nun vorlesen, was Sie gesagt haben, und Sie zeigen mir bitte, wo Sie das Entsprechende gesehen haben.«
Norris’ Antworten waren erschütternd. Er schilderte detaillierte, brutale Sexszenen mit Kindern; einzelne Teile der Tintenkleckse sah er als weibliche Formen an, die malträtiert oder zerstört wurden. Hill entließ ihn höflich. Norris verabschiedete sich mit einem festen Händedruck und einem Lächeln; er blickte der Psychologin direkt in die Augen. Dann wandte sich Hill dem Notizblock zu, auf dem sie seine Antworten aufgezeichnet hatte. Sie ordnete Norris’ Reaktionen systematisch verschiedenen Codes der Standardmethode zu und teilte seine Antworten anhand der langen Listen in der Testanleitung als typisch oder ungewöhnlich ein. Dann berechnete sie die Formeln, die all diese Ergebnisse in psychologische Beurteilungen übersetzten: dominanter Persönlichkeitsstil, Index für Egozentrik, Index für Flexibilität des Denkens, Suizid-Konstellation usw. Wie Hill erwartet hatte, ergaben ihre Berechnungen, dass Norris’ Testwerte genauso extrem ausfielen wie seine Antworten.
Der Rorschachtest hatte Norris auf jeden Fall dazu gebracht, eine Seite von sich zu offenbaren, die er sonst nicht sichtbar werden ließ. Er war sich vollkommen bewusst, dass er sich einer Beurteilung unterzog, um eine Stelle zu bekommen. Er wusste, wie er in den Bewerbungsgesprächen wirken wollte und welche nichtssagenden Antworten er bei den übrigen Tests geben musste. Beim Rorschachtest war seine Fassade jedoch gebröckelt. Noch enthüllender als die spezifischen Dinge, die er in den Tintenklecksen gesehen hatte, war die Tatsache, dass er diese freimütig geäußert hatte.
Genau aus diesem Grund hatte Hill den Rorschachtest verwendet. Er stellt eine spezielle und ergebnisoffene Aufgabe dar, denn es ist keineswegs klar, was die Tintenkleckse darstellen, beziehungsweise wie man auf sie reagieren soll. Ganz entscheidend ist, dass es sich um eine visuelle Aufgabe handelt, die mögliche Abwehrmechanismen und bewusste Strategien der Selbstdarstellung aushebelt. Man kann sehr gut steuern, was man sagen will, aber man kann nicht steuern, was man sehen will. Victor Norris konnte nicht einmal steuern, was er über das äußern wollte, was er gesehen hatte. In dieser Hinsicht war sein Verhalten typisch. Hill hatte bereits im Studium eine Faustregel gelernt, die sie in der Praxis wiederholt bestätigt sah: Eine gestörte Persönlichkeit kann sich bei einem IQ-Test und beim MMPI häufig zusammenreißen oder auch beim TAT gut abschneiden, ist aber aufgeschmissen, wenn sie mit den Tintenklecksen konfrontiert wird. Wenn jemand vortäuscht, gesund oder krank zu sein, oder andere Aspekte seiner Persönlichkeit bewusst oder unbewusst unterdrückt, ist der Rorschachtest vielleicht das einzige Beurteilungsinstrument, bei dem die Warnlampe aufleuchtet.
Hill erwähnte in ihrem Bericht nicht, dass Norris ein Kinderschänder sei oder sein könnte – das lässt sich mit keinem psychologischen Test nachweisen. Sie zog allerdings die Schlussfolgerung, dass Norris’ »Bezug zur Realität extrem anfällig« sei. Sie konnte ihn nicht für eine Stelle empfehlen, in der er mit Kindern arbeitete, und riet dem Arbeitgeber, ihn nicht einzustellen. Und er wurde auch nicht übernommen.
Norris’ beunruhigende Ergebnisse und der Widerspruch zwischen seiner charmanten Oberfläche und der verborgenen dunklen Seite prägten sich Caroline Hill tief ein. Elf Jahre nach dieser Begutachtung erhielt sie einen Anruf von einem Therapeuten, der mit einem Patienten namens Victor Norris arbeitete und ihr ein paar Fragen stellen wollte. Der Therapeut musste den Namen des Patienten nicht zweimal sagen. Hill durfte zwar keine Einzelheiten über Norris’ Testergebnisse mitteilen, aber sie legte die wichtigsten Erkenntnisse dar. Der Therapeut staunte. »Das haben Sie mit dem Rorschachtest herausgefunden? Ich brauchte zwei Jahre, um an diese Sachen ranzukommen! Ich dachte, der Rorschachtest sei Kaffeesatzleserei!«
TROTZ JAHRZEHNTELANGER KONTROVERSEN ist der Rorschachtest heutzutage bei Gericht zulässig, er wird von Krankenkassen erstattet und weltweit bei Evaluationen im Arbeitsleben, Sorgerechtsverfahren und in psychiatrischen Kliniken eingesetzt. Die Befürworter des Tests sehen in diesen zehn Tintenklecksen ein wunderbar sensibles und akkurates Instrument, das anzeigt, wie die Psyche funktioniert, und verschiedenste Geisteszustände offenbart, darunter auch latente Probleme, die durch andere Tests oder direkte Beobachtung nicht nachweisbar sind. Die Kritiker des Tests, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psychologenschaft, halten die fortgesetzte Anwendung für einen Skandal – ein peinliches Überbleibsel einer Pseudowissenschaft, das schon vor Jahren zusammen mit Wahrheitsserum und Urschreitherapie hätte abgeschafft werden sollen. Nach Meinung der Gegner beruht die erstaunliche Kraft des Tests darauf, dass ansonsten vernünftige Menschen durch Gehirnwäsche dazu gebracht werden, an ihn zu glauben.
Teils aufgrund dieses Mangels an Übereinstimmung unter den Fachleuten, aber vor allem aufgrund eines Misstrauens gegenüber psychologischen Tests im Allgemeinen begegnet die breite Öffentlichkeit dem Rorschachtest in der Regel mit Skepsis. Vor kurzem wurde ein Vater beschuldigt, sein Baby zu Tode geschüttelt zu haben; das Gericht entschied schließlich, er sei unschuldig am Tod seines kleinen Sohnes, doch der Mann erklärte, die Beurteilungen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, seien »pervers«, und ganz besonders ärgerte ihn, dass er den Rorschachtest hatte machen müssen. »Ich habe mir Bilder angesehen, abstrakte Kunst, und erzählt, was ich gesehen habe. Ob ich hier einen Schmetterling sehe. Heißt das, ich bin aggressiv und ausfallend? Das ist doch verrückt.« Er beteuerte, dass er »auf die Wissenschaft vertraue«, die er als »grundsätzlich männliche« Weltsicht bezeichnete, doch die Sozialeinrichtung, die ihn beurteilte, neige zu einer »im Grunde weiblichen« Weltsicht, die »Beziehungen und Gefühle bevorzuge«.3 Der Rorschachtest ist in Wirklichkeit weder grundsätzlich weiblich noch eine Übung in Kunstdeutung, doch solche Einstellungen sind typisch. Der Rorschachtest liefert keine konkrete Zahl wie etwa der Intelligenztest oder eine Blutuntersuchung. Dies gilt aber für alle Ansätze zum Begreifen des menschlichen Geistes.
Der ganzheitliche Ansatz des Rorschachtests ist ein Grund, warum er auch außerhalb von Arztpraxen und Gerichtssälen so bekannt ist....