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Im Laufe der Zeit

Kontinuität und Veränderung bei Hans Werner Henze

VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783795786342
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Zur Feier des 75. Geburtstages von Hans Werner Henze fand in der Alten Oper in Frankfurt ein Symposium statt. Namhafte Vertreter aus Feullieton und Wissenschaft trugen Akzente zu Henzes Biografie und neue Erkenntnisse zum Schaffen dieses bedeutenden zeitgenössischen Komponisten zusammen. Dieser Band ist eine hervorragende Erweiterung aller Bibliotheken und Sammlungen zur zeitgenössischen Musik.

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Leseprobe

Hans Werner Henze und Luigi Nono – eine besondere Freundschaft

Jürg Stenzl

«Henze é veramente amico!»

Luigi Nono an Bruno Maderna, 1953

«über meinen freund und genossen luigi nono, den ich für einen der größten musiker unserer zeit halte, habe ich niemals ein negativum gedacht oder gesagt»

Hans Werner Henze, Leserbrief an den Spiegel,

15. Dezember 1968

Der Altersunterschied zählte nicht – Luigi Nono war zwei Jahre älter –, als sich Hans Werner Henze und Luigi Nono 1950 in Darmstadt kennen lernten.

Von 1946-48 studierte Henze bei Wolfgang Fortner in Heidelberg und besuchte bereits 1946 die ersten Kranichsteiner/Darmstädter Ferienkurse, wo sein erstes öffentlich aufgeführtes Werk, das Kammerkonzert für Flöte, Klavier und Streicher erklang, eine Musik in der Hindemith-Nachfolge. Im selben Jahr übergab in Venedig Gian Francesco Malipiero den eben mit seinem Jurastudium fertig gewordenen Luigi Nono zum Studium von Hindemiths Unterweisung im Tonsatz seinem Studenten Bruno Maderna. Damit begann Nonos Musikstudium.

1947 dirigierte Hermann Scherchen in Darmstadt den zweiten Satz von Henzes 1. Sinfonie. Mit dem Violinkonzert, Ende 1948 in Baden-Baden uraufgeführt, hat Henzes intensive Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik begonnen; gleichzeitig studierten Maderna und Nono Luigi Dallapiccolas dodekaphonen Liriche greche und beide vertonten ebenfalls von Quasimodo übersetzte altgriechische Texte.

1948 vertont Henze Gedichte von Walt Whitman – Whispers from Heavenly Death – und beschließt sein Cembalokonzert Apollo et Hyazinthus mit einer Vertonung von Georg Trakls Gedicht Im Park, um im folgenden Jahr mit den Ballett-Variationen eine Synthese von Strawinsky und Dodekaphonie zu versuchen. In dieser Zeit haben Maderna und Nono durch die brasilianische Pianistin, Komponisten und Scherchen-Schülerin Eunice Catunda die Lyrik von Federico García Lorca kennen gelernt, und Hermann Scherchen (der Widmungsträger von Henzes 2. Sinfonie) war als prägende Vaterfigur in ihr Leben getreten, als sie seinen Dirigierkurs besuchten – mit jenen Folgen, die Nono 1953 rückblickend in einem Brief an Scherchen festhielt: «… von welch grundlegender Bedeutung es für uns [sc. Maderna und Nono] war, Ihnen 1948 in Venedig begegnet und sogleich mit Ihnen verbunden zu sein. 1948 hat wirklich alles für uns begonnen. Wenn Bruno und ich heute etwas sind, so sind wir es, weil wir Ihre Söhne sind.»1

Als sich Nono und Henze in Darmstadt trafen, hatte Henze bereits seine 3. Sinfonie abgeschlossen, und sein erstes Bühnenwerk, die «Oper für Schauspieler» Das Wundertheater (nach Cervantes), war uraufgeführt worden. Nicht zu reden von den zwei Ballettpartituren, den erwähnten Ballett-Variationen und 1950 Rosa Silber. Henze hatte in Berlin durch Paul Dessau Brecht kennen gelernt und war für die Spielzeit 1950/51 als Hauskomponist des Staatstheaters Wiesbaden engagiert worden; im Sommer hatte er mit der Komposition seines «Lyrischen Dramas» Boulevard Solitude begonnen, dessen Uraufführung im Februar 1952 in Hannover ihn endgültig zum führenden deutschen «Jungkomponisten» machte. Ungeachtet einer zugrunde liegenden Zwölftonreihe weist die Partitur von Boulevard Solitude eine erstaunliche stilistische Vielschichtigkeit auf. Gerade diese Vielschichtigkeit – untrügliches Kennzeichen eines Theatermusikers – weist darauf hin, dass die Distanzierung von den gleichaltrigen Komponisten in Darmstadt längst eingesetzt hatte. Nono war zwar zwei Jahre älter als Henze, aber 1950 in Darmstadt verfügte Henze fraglos über einen Status als Komponist, den Nono erst anvisierte.

Die Darmstädter Uraufführung von Nonos «Opus 1» durch Hermann Scherchen und das – überforderte – Orchester des Landestheaters, den Variazioni canoniche sulla serie dell’Op. 41 di Arnold Schoenberg vom 27. August 1950, rief heftige Proteste hervor. «Henze ohrfeigt einen der Pfeifer und wird dafür heftig zur Ordnung gerufen», heißt es kryptisch blumig in Klaus Geitels Monografie von 1968.2 Geitel fährt fort: «Nono wird für ihn der reinste und edelste Komponist dieser Nachkriegsjahrzehnte bleiben, ein Komponist von absoluter Integrität. – Henze bewundert Nonos Musik, den Canto sospeso und einige seiner Orchesterstücke, die er als gezielten Ausdruck des Schmerzes empfindet; einen sehr harten und aggressiven, gleichzeitig echt venezianischen Ausdruck im Sinne der alt-venezianischen Schule. Vogelgeschrei scheint ihm aus diesen Stücken Nonos zu klingen und über die Kanäle eines winterlichen Venedigs zu fegen, auf denen man Tote zu Grabe führt. Vielleicht hört Henze», so Geitel weiter, «Nonos Musik nie, wie sie – Nonos Absicht entsprechend – gehört werden sollte. Aber Nono und sein Werk finden in Henze einen ihrer aufrichtigsten Freunde. Mehr noch: Nono wird Henze für lange Zeit zum moralischen Fixpunkt, an dem er sich orientiert. Der dritte Akt des König Hirsch, in dem nach Zerstörung und Qualen den Menschen die Freiheit geschenkt wird, ist Nono und seiner Frau, Nuria Schönberg, gewidmet.»3

Geitels Passus ist meines Wissens der einzige Text, der die Freundschaft zwischen Henze und Nono erwähnt. Auch in Henzes Aufsätzen und der Autobiografie Reiselieder mit böhmischen Quinten von 1996 stehen nur spärliche, meist anekdotische Angaben. Geitels Text wirkt wie eine Nacherzählung. Viele Einzelheiten werden angetippt und diese lassen sich durch Texte und Briefe auch belegen; aber die Proportionen erscheinen durch einen gegenwärtigen «Aufnahmezustand» (wie Mauricio Kagel und Hansjörg Pauli sagen würden) verzerrt und durch keine die historische Situation bedenkende Perspektive bestimmt. Auf einer historischen und ästhetischen Rekonstruktion der sich verändernden Konstellationen dieser Freundschaft müsste eine Darstellung aufbauen, die sich um deren Bedeutung für beide Komponisten bemüht. Das ist in diesem beschränkten zeitlichen Rahmen nicht möglich. Voraussetzung ist die Auswertung der 86 Henze-Briefe im Nono-Nachlass4 und des umfangreichen Briefwechsels mit Karl Amadeus Hartmann, dem gemeinsamen Freund. Ich werde im Folgenden punktuell vorgehen und mich bemühen, ausgewählte Stationen zu erhellen.

Ohrfeige bei der Uraufführung der Variazioni canoniche hin oder her: mit «18. Oktober 1950» ist Henzes kurzer Text datiert, der 1951 im ersten Jahrgang der französischen Zeitschrift Musique contemporaine erschien: «Variazioni de Luigi Nono».5 Ein poetischer Text, auch im zentralen Abschnitt, wo Henze den Eindruck, den Nonos Werk hinterlassen hat, mit eigenen Bildern wiedergibt: «Die Variationen von Nono geben einen luziden Eindruck vom Seelenzustand der Jugend. Indem er die Lineatur einer klangreichen und gebundene Sprache wiederfindet, einen von angeborener Meisterschaft getragenen Ariadnefaden wie im Klavierkonzert Schönbergs aufnimmt, lässt Nono seine lapidaren und transzendierenden Eindrücke hören: sie sind traurig und mild, vielleicht Zeichen von Künftigem, diese stillen Vogelrufe.

Alles in dieser Musik ist nur Ruhe in der Bewegung, aber ein stärkerer Akzent kommt – zwei Töne oder ein gedämpfter Trommelwirbel – ein Akzent, der eine ganze Gedankenentwicklung ersetzt. Diese Musik vereint Vergangenheit und Zukunft: die Gegenwart und Unendlichkeit im Raum der vierten Dimension, die erstaunlicherweise die Idee von der apollinischen Schönheit wieder gestaltet. Auf der Höhe des Lebensberges dürfen wir seine Schwingungen hören; heute kann Musik nur auf diese Weise gerechtfertigt werden.»

Ein erstaunlicher Text, in dem Henze Nono als einen Gleichgesinnten, «Seelenverwandten» entdeckt. Er hört auf die Sparsamkeit und Verhaltenheit dieser Musik, scheint zu ahnen, dass es in deren Innerstem lodert, reagiert auf die weiter geführten Traditionen, die der Werktitel Kanonische Variationen suggeriert und versteht den Verweis auf Schönbergs Zwölftonreihe – die er offenbar als jene des Klavierkonzerts und nicht der Ode an Napoleon Buonaparte versteht – als Ariadnefaden in die Zukunft. Die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft aber heißt für Henze Renaissance von «apollinischer Schönheit». Die Erscheinung des jungen Nono in Darmstadt hat nicht nur Henze beeindruckt. «Er war von marmorner Schönheit», liest man in seiner Autobiografie.6

Offensichtlich führten die heftigen Proteste dazu, dass Henze in Nonos Variazioni das Manifest einer Künstlerphysiognomie sah, die seinem Selbstverständnis entsprach: der Künstler als Außenseiter. «Das Schicksal, um das sich der Künstler bemüht, ist die Gabe seines ‹to be› auf Kosten des ‹to be› der andern. Indem er sich ganz hingibt, schafft der...

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