Durch die Welt streifen und sehen, was von ihr hängen bleibt
Peter Eötvös und der Jazz
Wolfgang Sandner
Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gab es seinerzeit – wie man sich vielleicht erinnern mag – kein Kulturabkommen. Beiden deutschen Teilen fiel es schwer, offiziell gebührend voneinander Notiz zu nehmen. Einige weniger hartgesottene Politiker aber hatten in zähem Ringen immerhin erreicht, dass einmal im Jahr «kulturelle Austauschprojekte» gefördert wurden. So kamen etwa Anfang der achtziger Jahre die Bürger der Bundesrepublik in den Genuss einer Ausstellung zu Leben und Werk des bedeutenden Berliner Baumeisters Karl Friedrich Schinkel, während es im Gegenzug eine Tournee der Kölner Manfred-Schoof-Bigband durch fünf Städte der Deutschen Demokratischen Republik gab. Es versteht sich, dass einiges passiert sein musste, damit diese Tournee in so hoch offizieller Mission überhaupt möglich wurde. Und zwar auf beiden Seiten. Zum einen die Ansicht, dass nicht nur Streichquartette Kulturträger sind, dass auch die Jazzmusik eines Albert Mangelsdorff etwa längst die Orientierung an amerikanischen Vorbildern aufgegeben und eine eigenständige europäische Musiksprache entwickelt hat, so dass sie zum nationalen Kulturexport taugt. Zum anderen aber die Einsicht, dass außer Paul Robesons Gospelgesang, «der zu den Herzen aller unterdrückten Menschen findet und den Friedenskämpfern in der ganzen Welt Kraft gibt» (Walter Ulbricht, 1960), auch noch die begriffslose Sprache der Freejazz-Saxofone gehörte, die zur «Befriedigung und gleichzeitigen Entwicklung differenzierter ästhetischer Bedürfnisse in der sozialistischen Gesellschaft» beiträgt (1. Konferenz zur Unterhaltungskunst in der DDR, 1978).
Als Zeuge dieser Bigband-Konzerte, die nirgends plakatiert oder sonst irgendwie annonciert, aber stets ausverkauft waren, erinnere ich mich vor allem an das Konzert im Ost-Berliner «Haus der jungen Talente». Karlheinz Drechsel, der Conferencier der Veranstaltung, hob besonders hervor, dass die 22 Mitglieder der westdeutschen Band alle «namhaft» seien. Der Nachdruck, mit dem auf die Prominenz der Musiker gepocht wurde, wirkte nicht nur für den Beobachter aus dem Westen leicht bizarr. Zwei Bürger der DDR, die das Glück hatten, Karten für das gefragte Konzert mit den «namhaften» Gästen aus dem anderen Teil Deutschlands zu bekommen, griffen das Wort in einem kurzen, leisen Dialog auf: «Und wir, sind wir vielleicht nicht namhaft?» Der spitzfindige Frager wurde von seinem Partner belehrt: «Nee, wir sind wohnhaft.» Der erste führte den Gedanken zu Ende: «Und habhaft.»
Jedem der rund eintausend für Schwingungen aller Art empfänglichen Zuhörer musste in Berlin damals klar gewesen sein, dass dies ein außerordentliches Konzert, ein kulturpolitisches Ereignis, ein historischer Augenblick gewesen ist. Falls es jemanden gab, der es wirklich nicht wusste, der es nicht aus der Aufstellung zahlreicher Fernsehkameras und der spürbaren Anwesenheit «offizieller Organe» schließen konnte, für den wurden die Ansagen noch einmal konkreter. Das Konzert sei Teil einer Tournee durch die DDR, die die Reihe der in den letzten Jahren mit der BRD vereinbarten «kulturellen Maßnahmen» fortsetze: großer Applaus. Und um die Zusammenarbeit zu intensivieren, werde das Konzert aufgezeichnet und parallel von der westdeutschen Firma «Mood Records» und der ostdeutschen «Amiga» auf Schallplatte veröffentlicht: noch größerer Applaus. Den größten Beifall aber gab es, als Manfred Schoof selbst ans Mikrofon trat und sagte, er sei glücklich, hier zu sein.
Man muss sich solche Ereignisse ins Gedächtnis zurückholen, um auch atmosphärisch zu begreifen, in welchem Spannungsverhältnis zwischen politischem Dogmatismus und individuellem Bedürfnis in den Ländern des sozialistischen Lagers generell Kultur nur möglich war. Dem Jazz aber kam in dieser Zeit und in dieser geopolitischen Situation eine besondere und zudem noch ambivalente Rolle zu: Je nach Stand der Diskussion und gesellschaftspolitischer Opportunität wurde er als ein Mittel der «degenerierten Ideologie des amerikanischen Monopolkapitalismus» (Ernst-Hermann Meyer, Musik im Zeitgeschehen, 1953) aufgefasst oder mit jenen Strömungen afro-amerikanischer Kultur in Verbindung gebracht, die doch eher das unterdrückte, das «andere» Amerika repräsentierten.
Peter Eötvös ist zu jener Zeit in Ungarn aufgewachsen, in einem Land, in dem cum grano salis ähnliche Lebensbedingungen herrschten und – wie er es selbst in Gesprächen mitteilte – die kulturelle Szene in eine offizielle und eine des Untergrunds zerfiel. Wobei nicht unberücksichtigt bleiben darf, wie sehr doch auch der so genannte Underground funktionsfähig war und – nicht nur aus Gründen der besseren Kontrolle – vom Staat geduldet wurde. In anderem Zusammenhang hat Eötvös später eindrucksvoll beschrieben, wie der Begriff «Jazz» für ihn die Aura des Mysteriösen, Verbotenen annahm, weil er ihn häufig nur auf Kurzwelle hören konnte. Solche Sender in den fünfziger Jahren einzuschalten, wurde grundsätzlich wie das Hören westlicher antikommunistischer Propaganda eingestuft. In der Regel blieben die Nebengeräusche stärker als die Musiksignale selbst, die sich ausnahmen, als kämen sie irgendwo aus fernen Galaxien. So sehr verband sich für Eötvös der musikalische Sound mit diesen Nebengeräuschen, dass ihm, als er in den sechziger Jahren Jazz live hören konnte, etwas Wichtiges, nahezu Substanzielles zu fehlen schien. So frei von allen Störfaktoren kam ihm die Musik irgendwie leer vor. Auch wenn er diesen für ihn wunderbar verwirrenden Geräuschpegel der Kurzwelle später in der elektronischen Musik und der Musique concrète eines Pierre Schaeffer wiederfand, so hat doch der Jazz danach viel von seiner mysteriösen Qualität eingebüßt.
Zurück zur realen Situation der fünfziger Jahre in Ungarn. Nicht geringen Einfluss auf die musikalische Ausrichtung der Untergrundszene, zu der Eötvös eine Affinität entwickelte und sich später zugehörig fühlte, gewann damals der an der französischen nouvelle vague orientierte polnische Film eines Roman Polanski oder Andrzej Wajda mit seiner starken Bindung zum Jazz, vor allem zum Cool Jazz eines Miles Davis, Chet Baker oder Gerry Mulligan. Es war sozusagen die zweite Begegnung mit Jazz und seiner emotionalen Wirkung auf den Komponisten Eötvös, ohne allerdings damals schon Spuren im Werk zu hinterlassen. Man könnte vielmehr sagen, was sich in irgendeiner Form mit Jazz in Verbindung bringen lässt – sei es als improvisatorischer Impuls, als Klangfarbe, als Artikulationsweise oder als rhythmische Qualität – taucht im Œuvre von Peter Eötvös erst nach einer mehr als zwanzigjährigen Inkubationszeit auf, möglicherweise erstmals in der «Musikalischen Aktion für einen kreativen Schlagzeuger und 27 Instrumente» unter dem Titel Triangel von 1993, sieht man einmal von der eher jazzunspezifischen und auch nur wahlweisen Verwendung von Sopransaxofonen und einem Schlagzeuger in der zwanzig Jahre zuvor entstandenen «Szene mit Musik für japanische Sprecherin» Harakiri ab.
Triangel setzt im Grunde den jazzerfahrenen Schlagzeuger voraus, ohne ihn zugleich auf ein jazzspezifisches Idiom festzulegen. Der Solist bestimmt nicht nur die Dauer des Werks, die Klangdichte, Tonhöhen, Klangfarben und Dynamik. Er setzt durch den Gebrauch bestimmter Schlaginstrumente und die daraus entstehenden Resonanzen auch Reaktionen des Kollektivs aus anderen Instrumenten in Gang. Dennoch handelt es sich nicht eigentlich um Jazz-Improvisation, vielmehr um differenzierte, nicht einem Idiom zuzurechnende Reaktionsformen. Was der Solist im vom Komponisten festgelegten Rahmen spielt, wird von der Instrumentalgruppe quasi beantwortet, wobei er wiederum die Reaktionen der Musiker in seine Klangvorstellungen zurückübersetzen muss. Das ständige Zuhören-Müssen, die musikalische Kommunikation, eben wie in Jazzbands, ist das Merkmal dieses Stücks.
In diesem Zusammenhang sei allerdings auf ein ganzes Bündel von Schwierigkeiten verwiesen, das mit der Definition dessen zusammenhängt, was nach der Entwicklung zum Freejazz überhaupt noch als «jazzspezifisch» angesehen werden kann. Wenn der Freejazz als ein fundamentaler Bruch mit der Jazztradition empfunden wurde – und zwar in weit größerem Maße als zwei Jahrzehnte zuvor der Bebop –, so hängt das mit allgemeineren Prinzipien zusammen, die sich unabhängig von stilistischen Divergenzen bei vielen Jazzmusikern in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gemeinsam ergaben und die eine Parallele zur atonalen und später zwölftönigen Komponierweise Arnold Schönbergs gestatten: die Aufgabe von...