Where East Meets West and West Meets East
Bei Fernflugreisen gönne ich mir zuweilen den Luxus, nach einer Zwischenlandung nicht sofort weiterzufliegen, sondern einige Tage im Lande zu bleiben. Den langen Flug nach Hongkong unterbrach ich in Istanbul und Karachi. Langsam wollte ich mich meinem Reiseziel nähern, wollte spüren, welche riesigen Entfernungen zwischen Europa und Asien zu überwinden sind, welche unendliche Vielfalt zu entdecken ist, und wenigstens eine Ahnung davon bekommen, welche Strapazen Forscher, Abenteurer, Entdecker in den vergangenen Jahrhunderten auf dem Landweg überwinden mussten, ehe sie oft nach Jahren ihr Ziel erreichten.
Ich reise, um zu lernen. Ich urteile nicht, sondern versuche zu verstehen. Zuhören, verstehen wollen, soweit es möglich ist, mit den Menschen leben und nicht abseits von ihnen, war das Konzept, das sich bewährte.
So stieg ich bei der Ankunft auf dem Flughafen Kai Tak in Hongkong nicht in ein Taxi, sondern in eine Rikscha. Ich wollte im Schritttempo ins Hotel kommen und nicht möglichst schnell durch unbekannte Straßen rasen. Der Rikscha-Mann sagte »hang hau«, »sehr gut«, als ich ihm mein Hotel nannte. Das waren die ersten chinesischen Worte, die ich auf chinesischem Boden vernahm. Ich hörte Straßenlärm, Musik aus öffentlichen Lautsprechern, eine nicht fassbare Woge menschlicher Laute, blickte auf Schriftzeichen, die ich nicht lesen konnte, auf lateinische Buchstaben, die auf Englisch Auskunft gaben, worum es sich handelte, sah bunte Fassaden, Geschäfte, Verkaufsstände, Wohnblocks, Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Greise, gut gekleidet, ärmlich, korrekt, nachlässig, sportlich. Eine in unablässiger Bewegung befindliche Menschenmenge, Chinesen, nur wenige Europäer. Ob darunter auch Amerikaner waren, wusste ich nicht. Ich übernahm die Bezeichnung »Europäer« instinktiv für alle Weißen. Wie ich später erfuhr, war das in Hongkong üblich.
Ich sah auf den gebückten Rücken, die trappelnden bloßen Füße, den fast kahlen Hinterkopf des Rikscha-Kulis. Bei dem Wort »Kuli« stockte mir der Atem. Aber ich hatte meine Bedenken, mich von einem Kuli ins Hotel fahren zu lassen, niedergekämpft. Diese Menschen leben davon, dass man ihre Dienste in Anspruch nimmt. Wortreiche Erklärungen von Menschenliebe und Verachtung für die gesellschaftlichen Zustände, die sie zwingen, diese Arbeit zu leisten, um sich und ihre Familie ernähren zu können, nützen ihnen nichts.
Noch ahnte ich nicht, dass ich eine Woche vor mir hatte, die zu den eindrucksvollsten meines Lebens gehört. In dieser chinesischen, britisch verwalteten Stadt begegnet Asien Europa und die westliche Welt China. Vielfalt auf allen Gebieten. Neben christlichen Kirchen buddhistische Tempel, neben muslimischen Moscheen Synagogen, neben Lasterhöhlen Gärten der Meditation, neben Großbanken Armenküchen für Obdachlose; neben Luxusrestaurants Menschen, die in Abfalltonnen nach Essbarem suchen; neben Wohnblocks, in denen zweitausend Menschen nur einen schäbigen Schlafplatz haben, Luxusvillen; neben eleganten Geschäften ausgemergelte Gestalten, an der Bambuslatte auf ihren Schultern ein paar Früchte befestigt, die sie verkaufen wollen; neben Luxusdampfern Dschunken; neben Agenten und Auslandskorrespondenten, die ihre Treffpunkte im »Peninsula«-Hotel oder im »Mandarin Oriental« haben, Hunderttausende von Touristen »who stayed an average of 3,9 days«. (Hongkong Report of the Year. 1967)
Im Hotel angekommen, rief ich Eva in München an und wartete in meinem Zimmer etwas länger als eine Stunde, bis die Verbindung hergestellt war. Das »China Travel Office Luexingshe« erreichte ich sofort, wurde willkommen geheißen und gebeten, am nächsten Tag in das Büro zu kommen.
Der Empfang war ausgesprochen herzlich. Ich hatte den Eindruck, dass mir von der Angestellten Li-yen die Fragen von den Augen abgelesen wurden, bevor ich sie gestellt hatte. Sie brachte mich mit höflichen Fragen, Rückfragen, Zwischenfragen, aufmerksamem Zuhören und nur dann und wann einen Satz über ihre Arbeit sagend ins Erzählen, sodass ich richtig in Schwung kam und wahrscheinlich mehr sagte, als ich es bei einem sachlich geführten Gespräch getan hätte. Wie sie meine Worte aufnahm, war ihr nicht anzumerken. Sie blieb gleichbleibend freundlich, schenkte mir ab und zu eine Tasse Tee ein und erklärte mir schließlich, was sie an Deutschland und den Deutschen bewunderte. Das war für mich völlig überraschend, aber es war Balsam auf meine »nationale Wunde«. Zu oft hatte ich das Gegenteil erlebt.
Hier, in diesem touristischen Stützpunkt der Volksrepublik China in der britischen Kronkolonie Hongkong, wurde ich vom ersten Augenblick an mit offenen Armen empfangen und als »Freund des chinesischen Volkes« begrüßt. Fast beiläufig wurde erwähnt, dass ich so viel Geld in ausländischen Währungen nach China mitnehmen könne, wie ich wolle, jedoch keinen einzigen Yuan (1 Yuan = DM 1,60); dass ich am 20. April um acht Uhr vormittags in meinem Hotel abgeholt und zusammen mit vier anderen Deutschen (drei Herren, eine Dame), aus denen die »Delegation« bestände, von einem Mitarbeiter von Luexingshe begleitet an die Grenze gebracht werden würde. Meinen Koffer könne ich in meinem Hotelzimmer lassen, er würde für mich nach Kanton transportiert und dort bei meiner Ankunft für mich bereitstehen.
Meinen Wunsch nach Einzelunternehmungen werde man, so gut es ginge, berücksichtigen, doch werde es mich sicherlich nicht stören, bei Mahlzeiten, Fabrikbesichtigungen, Theateraufführungen mit den anderen zusammen zu sein. An jedem Ort seien freie Tage und freie Vor- oder Nachmittage eingeplant, jeder könne dann seine Wünsche äußern.
Ich hatte einige Erfahrungen darin, mich bei von Betreuern begleiteten Reisen seitlich in die Büsche zu schlagen, und hoffte, dass es auch diesmal gelingen würde.
Li-yen wechselte das Thema und empfahl mir, chinesische Gerichte nur mit Stäbchen zu essen, dann schmeckten sie besser, und erwähnte beiläufig, dass in China jährlich achtzig Kilogramm Reis pro Person verzehrt würden. »Achten Sie darauf: Reiskörner müssen wie Perlen auseinanderfallen und leicht wie Blütenschnee vom Pflaumenbaum sein.«
Hätte ich noch Vorurteile gehabt, spätestens in diesem Moment hätten sie sich in nichts aufgelöst. Nur das Mao-Porträt hinter ihr passte nicht so recht in dieses Vorgespräch, das eher einer Plauderstunde ähnelte und das ich mir ganz anders vorgestellt hatte.
Dann bat sie mich, ihren Landsleuten auf dem Festland (in Hongkong sprach niemand von »Rotchina«) vorurteilsfrei und ohne Argwohn zu begegnen. »Wir gehören zu den ehrlichsten Völkern der Welt. Geld bedeutet uns nicht viel. Wir fühlen uns alle als Mitglieder einer großen Gemeinschaft. Deshalb ist es auch nicht so wichtig, welche Position man einnimmt, wichtig ist, dass man dazugehört und das leistet, was man leisten kann, und das nicht für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft. Einen Tourismus gibt es in China praktisch nicht, und so werden Sie vielleicht manchmal unzufrieden sein. Bitte vergleichen Sie nicht mit Ihrem Heimatland oder mit Hongkong. Jeder Chinese wird sich Mühe geben, Ihnen den Aufenthalt in unserem Lande so angenehm wie möglich zu machen. Wenn es mal nicht klappt, verlieren Sie nicht die Geduld. Es heißt bei uns: ›Ein Mensch, der die Beherrschung verliert, verliert sein Gesicht.‹«
Sie strahlte mich an, und ich begriff, dass sie mir sagen wollte, wie ich mich zu verhalten hatte, und dass es von mir abhinge, was die Chinesen über »den Deutschen in ihrem Land« denken würden.
Schließlich erfuhr ich noch, dass ein Brief nach China aus Westdeutschland sieben Tage dauere und dass es nicht möglich sei, von China aus nach Hause zu telefonieren. Post für mich müsse an »Luexingshe, China Travel, Peking« adressiert werden, da die Hotels, in denen ich wohnen würde, vorher nicht festgelegt seien. Ebenso sei es mit der Reiseroute. »Aber seien Sie unbesorgt, Luexingshe weiß, wo Sie sind. Wir senden Ihnen Ihre Post nach und übermitteln Ihnen jede für Sie wichtige Nachricht.«
Ich war vollkommen von ihnen abhängig. Das gehört zu den Erfahrungen dieser Reise. Das Gespräch war zu Ende. Die hübsche, junge, fließend Englisch sprechende Chinesin gab mir die Hand, zeigte auf das Mao-Porträt an der Wand: »Mao Tse-tung sagt: ›Einmal sehen ist besser als zehnmal hören.‹«
Die Frage blieb: Was bekomme ich zu sehen? Aber auch Einschränkungen und Verbote sprechen ja eine klare Sprache. Und dann gab Li-yen dem Gespräch noch einmal eine Wendung ins Private: »Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, wenn Sie wieder zu Hause sind? Darüber würde ich mich freuen.«
Ich trat hinaus auf die Straße, ließ mich mitnehmen von der Menschenmenge, und es schien mir, als sei keine Stadt bunter, lebhafter, von Menschen vollgepfropfter als Hongkong. Menschen, eingepfercht auf einer Fläche von etwa tausend Quadratkilometern, zwischen Hochhäusern und Gassen, Schlupfwinkeln, Wohnlöchern und Wohnkasernen, glanzvollen Gebäuden und Elendsquartieren, in Dschunken lebend oder in Luxusvillen. Hongkong hat rund vier Millionen Einwohner, zu denen Tausende von Flüchtlingen gehören. Die meisten kamen aus Korea, Kambodscha, Vietnam, China. Für Peking wäre es ein Leichtes, diese britische Bastion durch Grenzöffnung mit Flüchtlingen zu überfluten, der Kronkolonie die Wasserzufuhr zu sperren und die Lebensmittellieferungen (Reis, Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch, Soja) einzustellen. Die Bewohner müssten dann hungern, denn was in der Stadt und im Hinterland an landwirtschaftlichen Produkten angebaut wird, reicht knapp für ein paar Hunderttausend Menschen.
Vieles ging mir durch den...