111 Einleitung
Die längste Zeit in der Geschichte der Menschheit änderte sich wenig am wirtschaftlichen Wohlstand. Erst in der industriellen Revolution begann dieser dramatisch zu steigen. Die rasant wachsende wirtschaftliche Produktion brachte uns beispiellosen Reichtum (siehe Abb. 1.1). Diese Entwicklung war anfangs auf wenige europäische Länder und Nordamerika beschränkt, aber im Lauf des 20. Jahrhunderts erfasste sie fast sämtliche Weltregionen. Heute ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung fast der gesamten Welt von der kapitalistischen Dynamik bestimmt, in der Form von Wachstum als auch sich periodisch wiederholenden Krisen. Wie ist die außergewöhnliche Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft zu erklären?
Die Forscher des Kapitalismus führen den rasanten Wohlstandszuwachs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Vielzahl von Faktoren zurück, darunter technologischer Fortschritt, institutioneller Wandel, Arbeitsteilung, Ausweitung des Handels, Kommodifizierung, Wettbewerb, Ausbeutung, Wachstum der Produktionsfaktoren und kulturelle Entwicklungen.1 Die tiefen Krisen, in die der Kapitalismus wieder und wieder stürzt, werden auf Überakkumulation, Versagen der Regulierung, mangelnde Investitionen und schwachen Konsum, psychologische Faktoren sowie Fehleinschätzungen von Risiken zurückgeführt.2
So umfassend diese Erklärungen sind, lassen sie doch einen weiteren, nicht weniger wichtigen Aspekt der kapitalistischen Dynamik weitgehend außer Acht: ihre temporale Struktur. Veränderungen der zeitlichen Orientierung der Akteure und die 12Erweiterung des Zeithorizonts in eine unbekannte wirtschaftliche Zukunft sind wesentliche Bestandteile der Entstehung der kapitalistischen Ordnung und ihrer Dynamik. Das gilt für wirtschaftliche Expansions- und Krisenphasen gleichermaßen. Der Kapitalismus ist ein System, in dem die Akteure — seien sie Unternehmer, Investoren, Arbeitskräfte oder Konsumenten — ihre Aktivitäten auf eine Zukunft ausrichten, die sie als offen und ungewiss wahrnehmen, auf eine Zukunft, die sowohl unvorhersehbare Chancen als auch unkalkulierbare Risiken birgt.
Abb. 1.1: Wachstum des globalen Pro-Kopf-BIP. Datenquelle: Maddison (2001: S. 264, Schaubild B-21).
Das Wachstum von Wettbewerbsmärkten und die Ausweitung der Geldwirtschaft haben diese temporale Ausrichtung auf eine offene Zukunft in das institutionelle Gewebe von Wirtschaft und Gesellschaft eingeflochten. Aber sie ist auch in der einzigartigen Fähigkeit des Menschen verankert, sich eine zu13künftige Welt vorzustellen, die anders sein wird als die gegenwärtige. In dem Bemühen, Gewinne zu erzielen, ihr Einkommen zu erhöhen oder ihren sozialen Status zu verbessern, erzeugen Akteure Imaginationen einer wirtschaftlichen Zukunft und richten ihre Entscheidungen danach aus, ob sie diese Zukunft verwirklichen oder vermeiden wollen. Wir müssen die zeitliche Disposition der wirtschaftlichen Akteure in Bezug auf die Zukunft und die Fähigkeit, diese Zukunft mit kontrafaktischen wirtschaftlichen Imaginationen zu füllen, unbedingt berücksichtigen, wenn wir verstehen wollen, wie sich der Kapitalismus von vorhergehenden Wirtschaftsordnungen unterscheidet und wie seine Dynamik möglich wird. In diesem Buch untersuche ich die Bedeutung imaginierter Zukünfte für die Dynamik des Kapitalismus.
Die Zukunft zählt
Indem wir Bildern der Zukunft eine tragende Rolle in unserem Verständnis des Kapitalismus zuweisen, weichen wir von den Ansichten ab, die die meisten zeitgenössischen Soziologen und Politikwissenschaftler der Analyse wirtschaftlicher Abläufe zugrunde legen. In den letzten dreißig Jahren ist der Grundsatz »Die Geschichte zählt« zum Schlachtruf des historischen Institutionalismus und Teilen der Soziologie geworden. Zur Erklärung gegenwärtiger Resultate untersuchen die historischen Institutionalisten langfristige strukturelle Pfade, die Entwicklungslinien formen und gegenwärtige Entscheidungen prägen (Mahoney 2000). Die institutionellen Pfade unterscheiden sich von Land zu Land, doch es ist nicht leicht, einen einmal eingeschlagenen Pfad zu verlassen: Im Allgemeinen ändern nur externe Schocks seinen Verlauf. Die soziologischen Institutionalisten betonen zwar die Bedeutung von Kognition, richten ihren Blick jedoch ebenfalls in die Vergangenheit, indem sie den gesellschaftlichen Wandel als Prozess der isomorphen Anpassung an exis14tierende institutionelle Modelle betrachten (DiMaggio und Powell 1991).3 Politikwissenschaftler und Soziologen sind sich darin einig, dass die gegenwärtigen Ereignisse von den vergangenen Geschehnissen geprägt sind.
Aber nicht alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen stimmen der Einschätzung zu, die Gegenwart werde im Wesentlichen von der Vergangenheit bestimmt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept der Temporalität in der Soziologie hat Andrew Abbott darauf hingewiesen, dass Soziologen und Ökonomen gegensätzliche Strategien verfolgen, um gegenwärtige Ereignisse zu erklären. »Während die Soziologen die gegenwärtigen Ereignisse als Ergebnis vergangener Geschehnisse betrachten, schließen die Ökonomen von der Zukunft rückwärts auf die Gegenwart: Die Entscheidungen werden anhand des gegenwärtigen Werts der erwarteten zukünftigen Belohnungen erklärt.« (Abott 2005: 406) Arjun Appadurai (2013: 286) sieht es ähnlich: »Die Ökonomie hat sich als wichtigstes sozialwissenschaftliches Feld etabliert, in dem modelliert und vorausgesagt wird, wie Menschen ihre Zukunft konstruieren.« Während die wirtschaftswissenschaftliche Forschung demnach die Zukunft in ihren Erklärungsmodellen berücksichtigt (siehe Kapitel 3), ist dies in den soziologischen und politikwissenschaftlichen Analysen des wirtschaftlichen Handelns nicht der Fall. Ich argumentiere in diesem Buch, dass die Fähigkeit zur Imagination zukünftiger Zustände in der Soziologie und der politischen Ökonomie eine sehr viel größere Rolle spielen sollte, insbesondere für die Untersuchung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Selbstverständlich existiert die Fähigkeit des Menschen, sich eine Vorstellung von einer möglichen Zukunft zu machen, unabhängig vom Kapitalismus. Imaginationen zukünftiger Zustände sind unerlässlich, um die Entwicklung der Moderne im Allgemeinen zu verstehen, und sie existieren (wenn auch in unterschiedlicher Form) auch in traditionellen Gesellschaften. Beispielsweise entwirft die religiöse Eschatologie Zukunftsvorstellungen, die von der wirtschaftlichen Entwicklung unabhän15gig sind. Desgleichen ist die Ausrichtung der kapitalistischen Wirtschaft auf eine offene wirtschaftliche Zukunft nicht auf die Ebene der Handlungsorientierung beschränkt: Die kapitalistische Wirtschaft institutionalisiert bestimmte Formen des systemischen Drucks, die eine temporale Ausrichtung auf wirtschaftliche Chancen und Risiken in der Zukunft erzwingt. Um den Einfluss der temporalen Ausrichtung der Akteure auf die wirtschaftlichen Abläufe wirklich verstehen zu können, müssen wir diesen institutionalisierten Druck genau untersuchen.
Im Kapitalismus erzwingen insbesondere zwei institutionelle Mechanismen eine Ausrichtung der Akteure auf die Zukunft: Wettbewerb und Kredit. Der mit der Ausbreitung des Wettbewerbs auf dem Markt einhergehende unablässige Wandel der Umwelt zwingt die Akteure, wachsam zu bleiben und auf Bedrohungen anderer Akteure zu reagieren, die von den gängigen Praktiken abweichen. Sie müssen nach neuen Chancen Ausschau halten und andere Wege suchen, um sich gegen die wahrgenommenen Bedrohungen zu wehren. Sie müssen sich unentwegt weiterentwickeln, um nicht zurückzufallen. Der Wettbewerb zwingt die Unternehmen, ihre Produktion effizienter zu gestalten und unablässig neue Produkte auf den Markt zu bringen. Wenn ein Unternehmen seine Produktivität erhöht und neue Produkte anbietet, zwingt es seine Konkurrenten, ebenfalls Innovationen voranzutreiben, ihre Produktionsmethoden effizienter zu gestalten und noch bessere Produkte zu entwickeln. Der Wettbewerbsdruck ist auch auf die Beschäftigten übertragen worden, deren berufliche Aussichten und sozialer Status von ihrem Erfolg auf dem Arbeitsmarkt abhängen. Der Wettbewerb zwingt ...