Früher ist längst vorbei
Mit sechs Jahren sah ich Peterchens Mondfahrt und beschloss, Schauspieler zu werden. Und der Wunsch ist geblieben.
Im Alter von zehn oder zwölf Jahren, wenn andere Jugendliche viel Sport machen, hatte ich große Freude daran, Gedichte und Balladen auswendig zu lernen. Die Bürgschaft und andere. Da ich diese dann auch vortragen wollte, suchte ich Orte, an denen ich das machen konnte.
Ich komme aus Andernach, das ist eine Kleinstadt am Rhein. Ganz in der Nähe unserer Wohnung war die Landesnervenklinik, dort gab ich im Schwesternheim mehrere Abende, an denen ich für die Schwestern und manchmal auch für die Kranken Balladen vortrug, zum Beispiel zu Weihnachten. Das war mein Publikum. Und nebenbei gab es in dieser Kleinstadt eine Laienspielgruppe, in der ich auch schon spielte.
Ich bin in meinem Wunsch konsequent geblieben. Da es in Andernach kein Theater gab, sah ich jede Aufführung der Landesbühne Neuwied, in der Nähe von Koblenz. Meine Reaktion war: Ich will zwar Schauspieler werden, aber so geht das nicht, so finde ich das nicht gut. Daher orientierte ich mich mehr am Film.
Mein erstes Auftreten auf einer professionellen Bühne war bei den Andernacher Burgspielen 1962 als Bauernjunge im Wallenstein. Dort wurden die Hauptrollen immer mit Gästen besetzt, zum Beispiel mit Jürgen Wilke. Das war jener Burgschauspieler, der einspringen musste, wenn Oskar Werner nicht spielte. Jürgen Wilke sagte immer, man muss als Mann beim Theater an die Hosen denken. Die müssen ganz eng geschnitten sein, weil die Frauen immer auf die Hosen gucken, wenn man jugendliche Helden und Liebhaber spielt. Aber ich war ja damals ziemlich rundlich, daher sagte ich zu ihm: »Das gilt für mich nicht, ich spiele keine jugendlichen Liebhaber.«
Martin Schwab war als Anfänger an der Landesbühne Neuwied engagiert und spielte den Schwedischen Hauptmann, der Thekla die Todesnachricht überbringt. Ich war damals noch Schüler, ging zu ihm und erklärte: »Sie waren großartig. Mir haben Sie am besten gefallen.« Seitdem kennen wir uns.
Der Widerspenstigen Zähmung, Andernacher Burgspiele 1962, mit Jürgen Wilke und Ellen Schwiers
Später lernte ich den Beruf des Buchhändlers mit einer dreijährigen Lehre in der Gilde-Buchhandlung in Bonn. Unsere Buchhandlung war für Inter Nationes zuständig. Inter Nationes war eine Stelle des Auswärtigen Amtes, die die Goethe-Institute belieferte und deutsche Bibliotheken einrichtete. Also musste ich größtenteils gar nicht Bücher verkaufen, sondern war in einer Abteilung, die Bibliotheken ausstattete. Mein Themenkreis war die Belletristik. Damals wurde noch sehr zwischen deutscher und österreichischer Literatur unterschieden. Es war sehr spannend, wenn ich zum Beispiel ein Buch von Peter Handke in so einer Bibliothek unterbringen wollte. Ich machte diese Ausbildung in Verlagskunde sehr gerne, weil wir richtig bibliografieren mussten. Das gibt es heute gar nicht mehr. Heute sitzt im großen Laden einer an der Kassa und einer am Computer.
Ich mag das haptische Erlebnis eines Buches, schlage noch heute lieber im achtbändigen Etymologischen Wörterbuch von Duden nach, als dass ich etwas google. Natürlich habe ich auch E-Books, weil ich ja nicht einen Koffer voll Bücher in den Urlaub mitnehme, wenn ich alles auf einem haben kann, aber das Nachblättern in einem Buch ist heute noch spannend für mich. Ich rieche auch gerne an neuen Büchern, aber leider hat man uns vor zwei Jahrzehnten dieses Erlebnis durch das Einschweißen der Bücher genommen. Früher haben sie den Geruch von danebenstehenden, die schon lange da waren, angenommen, heute haben alle einen Einheitsgeruch.
Von Bonn aus fuhr ich nach Bochum und machte die Aufnahmeprüfung für die Westfälische Schauspielschule, die es heute nicht mehr gibt. Auf der Rückfahrt im Zug dachte ich allen Ernstes: Jetzt muss Marlon Brando aufpassen. Ich war fest davon überzeugt, dass ich Hollywood-Filmschauspieler werde.
Als Buchhändler interessierte ich mich sehr für Literatur. Knapp vor meiner Aufnahmeprüfung war von Peter Handke Kaspar erschienen. Diese Rolle wollte ich vorsprechen. Ich fand den Text auch deshalb so gut, weil er den ersten Satz, »Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein anderer gewesen ist«, in tausenden Variationen sagt. Er fängt an zu gehen, er sagt den Satz, er singt den Satz, er spricht ihn leise, er schreit ihn.
In der Schauspielschule saß damals in der Prüfungsrunde ein berühmter Mann, Hans Schalla, der das Bochumer Schauspielhaus führte. Er fragte: »Was werden Sie denn vorsprechen?«
Ich sagte: »Handke.«
Darauf er: »Wie, Handke? Kenne ich nicht.«
Ich erklärte: »Das ist ein österreichischer Autor.«
Dann spielte ich diesen Anfang aus Kaspar vor, und alle waren beeindruckt. Ich sprach noch etwas aus dem Zerbrochnen Krug und aus Antigone vor und wurde gleich genommen.
Der Direktor der Schauspielschule war Paul Riedy, der in der Nazizeit Oberspielleiter am Burgtheater war. Aber wir beurteilten das damals nicht. Ich war Ende der Sechzigerjahre dort, da waren wir politisch zwar ziemlich engagiert, waren auch ein bisschen gegen alles, trauten uns aber nicht wirklich, etwas zu tun.
Ich hatte das Glück, auf der Schauspielschule einen Lehrer zu haben, von dem ich einiges lernte. Damals wurden die Texte sehr deklamiert, und das behagte mir, der ich so viele Filme gesehen hatte, gar nicht. Ich wollte die Texte direkter. Und von diesem Lehrer lernte ich das genaue Beachten der Interpunktion. Dass es ganz wichtig ist, ob da ein Komma, ein Gedankenstrich, ein Ausrufezeichen oder ein Punkt steht. Das sagt sehr viel aus, wenn es der Originaltext und keine Übersetzung ist: Wenn man danach geht, kann man einen Text auch sehr gut entschlüsseln. Aber man lernt, fand ich, an der Schauspielschule ziemlich wenig. Hauptsächlich, wie man es nicht macht.
Ich hatte nur zwei wirklich gute Lehrer. Den, der mir die Interpunktion bewusst gemacht hat – der andere unterrichtete Körperlehre. Er war ausgebildet bei Jacques Lecoq in Paris. Pantomime interessierte mich nicht, aber er machte auch Maskenübungen. Gerne würde ich heute noch ein Commedia dell’Arte-Stück spielen wie Goldonis Diener zweier Herren, das ich damals in der berühmten Inszenierung von Giorgio Strehler gesehen hatte, mit Masken und Halbmasken. Das erfordert eine eigene Technik. Ebenso wie es ein guter Clown im Zirkus macht, der von allen Seiten gesehen wird und daher nicht wie auf einer Bühne spielen kann. Auch die Maske erfordert ein anderes Spielen. Ich hatte wirklich Glück, diese zwei Lehrer zu haben.
Das Maskenspiel hat mir auch deshalb so gut gefallen, weil man, sobald man eine Maske anhat, versteckt ist und sich nicht beobachtet fühlt. Unter der Maske war ich total frei. Auch heute noch möchte ich am Anfang einer Produktion wissen, wie ich aussehe. Ich habe mich bei den Proben zum Eingebildeten Kranken als Einziger jeden Tag weiß geschminkt, dadurch war ich frei.
Ich sprach einmal mit Ingrid Andree und ihrer Tochter Susanne Lothar darüber und fragte Susanne: »Ich verstehe nicht, du schminkst dir immer extrem dick die Lippen, warum?«
Sie erklärte: »Es nimmt mir die Angst. Das ist für mich wie eine Maske.«
Ich verstehe das, denn man ist ja als Schauspieler immer der Beobachtung anderer ausgesetzt. Bis heute finde ich es eine feine Sache, dass ich als jetzt siebzigjähriger Mensch im Grunde genommen das machen darf, was Kinder machen. Ich darf Kostüme anziehen, darf mich schminken und darf spielen. Und darf jemand anderer sein. Wunderbar beschreibt das Peter Zadek in seinem Buch My Way:
»Was vielleicht für Brecht die Theorie war – dass man neben einer Rolle steht und sie beobachtet und herstellt und analysiert –, sehe ich mehr als das Spiel selbst mit einer Figur, einem Stück oder einer Rolle. Auch auf meiner Bühne gibt es eine gewisse Entfernung zur Wirklichkeit, aber ein kleiner Junge, der sagt ›Ich bin ein Bär‹ und der auf allen vieren läuft und brummt, der spielt zwar, doch in dem Moment, in dem er das tut, denkt er nicht darüber nach, dass er spielt, sondern er denkt darüber nach, was er als Bär zu tun hat. Und der andere kleine Junge, der ihm als Kaninchen davonläuft, ist in dem Moment das Kaninchen, und trotzdem bringt der Bär das Kaninchen nicht um, weil es ein Spiel ist. Schauspieler, die in der Lage sind, diesen Schwebezustand herzustellen, gibt es ganz selten. Ein paar von ihnen kenne ich. Einer heißt Wildgruber, eine andere Eva Mattes, eine weitere Angela Winkler und Edith Clever, Ilse Ritter, Hannelore Hoger, Rosel Zech und Gert Voss und Ignaz Kirchner und einige andere. Sie beherrschen dieses Spiel zu einem hohen Grad, so dass das Spiel nie verlorengeht und die Realität auch nicht.«
Das ist eine sehr...