CHRISTIAN
»Ich habe Heimweh«, sagt Christian, der immer draussen auf der kleinen Bank vor dem Hospiz auf mich wartet.
Mein Sohn hat heute Geburtstag. Seit neun Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich vermisse ihn und meine kleine Tochter sehr. Gabriel ist sechzehn Jahre alt, meine Tochter zehn Jahre jünger.
Ich wurde in Porto Alegre geboren. Unser Haus steht am Stadtrand. Mit meinen Eltern, zwei Geschwistern, Hühnern, Enten, Hunden und Katzen erlebte ich eine behütete Kindheit. Ich liebte es, auf den Pfirsich-, Bananen-, Orangen-, Nuss- und Zwetschgenbäumen im Garten herumzuklettern, um die Früchte selbst zu pflücken.
Das wenige Geld musste für das Essen reichen. Unsere Spielsachen stellten wir selbst her. Aus Zeitungen bastelten wir kleinere und grössere Papierschiffchen für die riesigen Wasserpfützen, wenn es regnete. Die hölzernen Wäscheklammern und die alten Plastiksäcke benutzten wir für unsere Fallschirme. Mehr brauchten wir nicht, so waren wir glücklich. Wie gern ich mich daran zurückerinnere! Wenn meine Kinder nur auch so eine Kindheit hätten!
Von der ersten bis zur fünften Klasse besuchte ich die Schule in Porto Alegre. Das war eine schöne Zeit – ich durfte Fussball spielen. Ich hatte Talent und wurde in einen Klub aufgenommen.
Mein Vater ist Schweizer. Er und sein Bruder waren noch klein, als sie vor vielen Jahren mit meiner Grossmutter nach Brasilien auswanderten. In Porto Alegre lernte er meine Mutter kennen. Alle lebten sie zusammen im Haus am Stadtrand. Schon bald kamen meine Schwester, später mein Bruder zur Welt. Ich bin der Jüngste.
Das war gegen Ende der Achtzigerjahre. Mein Vater hatte keine Arbeit, und das Geld war knapp. Er beschloss, mit der ganzen Familie in die Schweiz zurückzukehren.
Es war schwierig für mich. Ich hatte Mühe, mich hier in dieser für mich fremden Kultur einzuleben. Als ich jedoch den Aufnahmetest für den Grasshopper Club bestand, war ich glücklich. Ich definierte mich über den Fussball, nicht über die Sprache, und für eine kurze Zeit half es meinem Selbstwertgefühl. Auf dem Platz waren wir ein Team, aber nach dem Training war ich allein und fühlte mich ausgeschlossen. Mein Vater suchte einen anderen Klub für mich. Dort spielten viele Portugiesen. Alle freuten sie sich über mich als neues Mitglied, und obwohl ich der Jüngste war, liessen sie mich teilhaben – auf und neben dem Platz. Ich war damals gerade mal zwölfeinhalb Jahre alt. Meine Kollegen waren älter: vierzehn, fünfzehn oder sechzehn. Das Zusammensein nach dem Fussball half mir, mein Heimweh nach Porto Alegre zu vergessen. Endlich fühlte ich mich eingegliedert – als einer von ihnen. Und ich war bereit, alles zu tun, damit es so blieb. Dazu gehörten auch die Joints, die nach dem Training in dieser Gruppe regelmässig geraucht wurden.
Es dauerte zwei Jahre, bis ich nicht mehr übersehen konnte, dass Fussball und Joints nicht zusammenpassen. Meine Leistungen wurden schlechter. Schliesslich hörte ich auf zu spielen.
Nach dem zehnten Schuljahr machte ich eine Lehre als Autolackierer. Mein Lehrgeld reichte gerade, um jeden Tag Joints, Zigaretten und Bier zu kaufen. An den Wochenenden besuchte ich Technopartys. Ich lernte neue Kollegen und andere Drogen kennen. Ecstasy – LSD – Kokain – Pilze und Amphetamine. Weil ich wie die andern sein wollte, machte ich mit. Und meine Technokollegen waren grosszügig und schenkten mir einen grossen Teil der Drogen. Die meisten dealten für den Eigenbedarf.
Meine Eltern bemerkten wohl, dass ich mich verändert hatte. Sie schoben es auf die Pubertät. Immer wichtiger wurden mir meine Kollegen, die mich mit Stoff versorgten – immer mehr distanzierte ich mich von meiner Familie. Trotz alldem beendete ich meine Lehre gut. Meine Eltern freuten sich sehr über die Abschlussprüfung und erlaubten mir, Ferien im Elternhaus in Porto Alegre zu machen.
Aus den Ferien, die für drei Wochen geplant waren, wurde ein Jahr. Mein Vater erlaubte mir diese Auszeit und schickte mir ab und zu Geld. Ich hatte das Haus für mich allein und traf meine Jugendkollegen. Alle hatte ich sie als Kind das letzte Mal gesehen. Ich wollte mir nicht eingestehen, wie sehr sie sich verändert hatten. Abgezehrt erschienen sie mir. Ich wollte mir nicht die Frage stellen, wie ich auf sie wirkte. Die Partys, die wir feierten, der mit Passionsfrüchten oder Cola gemixte Schnaps, das viele Kokain und Gras liessen es uns ohnehin vergessen. Kokain ist in Brasilien günstiger als Zigaretten. Ein Gramm kostet bloss fünf Franken.
Während dieser Zeit lernte ich meine Frau kennen. Sie hatte bereits einen acht Monate alten Sohn. Ich sah, wie liebevoll sie sich um ihn kümmerte. Bald war sie die Einzige, die es schaffte, mich die Welt ohne Drogen wieder bunt, interessant und farbig sehen zu lassen. Ich verliebte mich unsterblich und machte ihr einen Heiratsantrag. Wenige Monate danach versprachen wir uns in der Kirche, für immer zusammenzubleiben. Von Anfang an fühlte ich mich verantwortlich für ihr Kind. Um meiner Frau zu beweisen, wie ernst es mir damit war, adoptierte ich unseren Sohn.
Die geplante Rückreise in die Schweiz verzögerte sich immer wieder. Meine Eltern entschlossen sich, ihre Zelte dort abzubrechen, um ihren Lebensabend in Brasilien zu verbringen. Während sie nun im Haus am Stadtrand wohnten, zog ich mit meiner Frau und unserem Sohn in deren alte Wohnung.
Ich schaffte es, das Kokain auf ein Minimum zu reduzieren. Das Gefühl, mich echt und nicht künstlich wahrzunehmen, gab mir Aufwind. Ich fand eine Stelle als Autolackierer. Der Lohn jedoch war kärglich und genügte kaum für unsere kleine Familie. Wir entschlossen uns, doch in die Schweiz zurückzukehren. Das ausbezahlte Geld der Pensionskasse meiner Frau reichte knapp, um ihr Flugticket zu bezahlen. Ich bekam mein Billett vom Schweizer Konsulat.
Mit nichts anderem als mit zwei Koffern und der Telefonnummer eines ehemaligen Kollegen kamen wir am Flughafen in Kloten an. Mein Kollege holte uns ab und erlaubte uns, vorübergehend bei ihm in seiner Wohnung zu leben. Das Sozialamt unterstützte uns und half mir, bald eine eigene Wohnung zu finden. Ich schaffte es, das Kokain ganz wegzulassen, und fand eine Stelle bei der Post.
Bald jedoch, vor allem, wenn ich brasilianische Kollegen traf, war es wieder da, dieses starke Verlangen. Als wäre es nie weg gewesen. Längst hatte es meine Frau bemerkt, längst sniffte ich wieder exzessiv, längst war es unser zentrales Streitthema. Mich mit meinen Ausrastern, Ängsten, Depressionen und Panikanfällen zu ertragen, war nicht einfach für sie. Meine Frau fühlte sich hilflos und alleingelassen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit den Kindern – in der Zwischenzeit wurde unsere kleine Tochter geboren – nach Porto Alegre zurückzukehren. Ich war einverstanden.
Meine Eltern nahmen uns bei sich auf. Wir freuten uns auf das Zusammenleben und gaben uns Mühe, das Gewesene zurückzulassen. Das Kokain jedoch liess mich nicht mehr los. Es war allgegenwärtig. Es nicht zu schaffen, frustrierte mich und machte mich depressiv. Meine Eltern bemerkten meinen Zustand und schwiegen – wohl aus Rücksicht auf meine Kinder.
Genau wie das Kokain, meldeten sich meine früheren Kollegen. Alle hatten wir immer nur das Gleiche im Kopf, und laufend kamen neue Kollegen dazu. Von einem dieser Kollegen wusste ich, dass er süchtig nach Crack war.
Es war an einem Wochenende. Mein Vater erlaubte mir, sein Auto zu benützen, nachdem ich ihm versprochen hatte, kein Kokain zu nehmen. Also trank ich nur Cola, gemischt mit Schnaps, und rauchte Joints. Ich war längst wieder zu Hause, als mich mein Kollege anrief: Er habe sein Crack im Auto vergessen.
Als ich den orange-weissen »Stein« im Auto fand, wurde ich neugierig. Nur ein einziges Mal wollte ich es selbst ausprobieren. Ich drückte eine Bierdose zusammen und machte sie flach. Mit einem Schraubenzieher bohrte ich auf der oberen Seite viele kleine Löcher in die Dose – am Schluss ein grosses. Ich steckte den Stein in die Dose, zündete ihn an und nahm den ersten Zug. Es dauerte zwei Sekunden, dann kam der Flash. Ich war noch in der gleichen Sekunde süchtig. Ich schien innerlich zu explodieren. Noch nie in meinem Leben hatte ich ansatzweise Ähnliches erlebt. Es fühlte sich an wie eine Reise ins Weltall – wie in einer Rakete der Nasa. Ich flog und flog und flog und wollte nichts anderes mehr in meinem Leben.
Der Flash endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Nach wenigen Sekunden war ich zurück auf dem Boden der Realität. Niemals hatte sie sich so brutal, grausam und eiskalt angefühlt, die Landung. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch. Die ganze Nacht über war ich in diesem Loch und konnte nicht schlafen. Meine Gedanken drehten sich nur um Crack. Bereits am nächsten Morgen kaufte ich es in den Slums von Porto Alegre. In den Favelas wird es dir an jeder Ecke angeboten. Vor Jahren war es Kokain. Heute hat sich Crack gerade in den Armenvierteln wie eine Epidemie ausgebreitet. Es ist billiger als Leim und jede andere Droge.
Von da an sollte es mein ständiger Begleiter sein. Nichts sonst war mir mehr wichtig. Ich fühlte mich wie ferngesteuert, verfolgt und alleingelassen. Innert kürzester Zeit nahm ich dreissig Kilogramm ab. Wie ein Zombie geisterte ich umher. Ich gab mir Mühe, das Crack nur während der Nacht und versteckt im Garten oder auf der Strasse zu rauchen. Meine Eltern dachten, ich leide an einer schlimmen Krankheit – vielleicht wollten sie es auch einfach nicht wahrhaben. Die Nachbarn jedoch beklagten sich bei...