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E-Book

Imre Kertész

Leben und Werk

AutorIrene Heidelberger-Leonard
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783835327436
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die erste Werkbiographie über den großen ungarischen Schriftsteller. Lange vor der Niederschrift seines weltberühmten »Romans eines Schicksallosen' hat Imre Kertész einen kurzen Text geschrieben, der sich wie eine Grundschrift seines Werkes liest: In »Ich, der Henker', einem lange Zeit unpublizierten Textfragment aus den 50er Jahren, schreibt der Holocaust-Überlebende nicht, wie zu erwarten wäre, aus der Perspektive des Opfers, sondern aus der des Täters: Ein Massenmörder legt Rechenschaft ab, zeichnet sich selbst als Rädchen im Getriebe, als Henker wider Willen und verwischt die Grenzen zwischen Täter und Opfer. Bereits in diesem frühen Text zeigt sich Kertész` Überzeugung, dass Opfer und Täter im Totalitarismus austauschbar geworden sind. Sie fügen sich beide in ihre »Schicksallosigkeit', ihren Verlust der Persönlichkeit. Ein Überlebender kann laut Kertész nicht ohne Schuld sein - nur die Toten sind frei von Schuld. Irene Heidelberger-Leonard legt erstmalig eine Werkbiographie dieses Ausnahme-Schriftstellers vor. Sie zeigt, wie eng Kertész` Leben mit seinem Werk verknüpft ist, aber auch wie groß die Freiheiten sind, mit denen er sein Leben in der Literatur gestaltet: Das Schreiben seiner Lebensgeschichte ist für ihn eine existentielle Notwendigkeit, es ist die einzige Möglichkeit, aus der Passivität der Opferrolle auszubrechen und seine Individualität zurückzugewinnen. Irene Heidelberger-Leonard zeichnet ein feinsinniges Porträt des Nobelpreisträgers, der die Selbsterforschung und deren ästhetische Verwandlung zu seinem Lebensinhalt gemacht hat.

Irene Heidelberger-Leonard, geb. 1944, war bis 2009 Professorin für Neue deutsche Literatur an der Universität Brüssel und ist Honorary Professor an der University of London. Sie erhielt 2005 für ihre Biographie »Jean Améry. Revolte in der Resignation' (2004) den Einhard-Preis für »hervorragende Biographik'. Heidelberger- Leonard ist außerdem Gesamtherausgeberin der Jean Améry-Werkausgabe in neun Bänden (2002-2008).

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Leseprobe

KAPITEL 2


»Abwechselnd Opfer und Henker […] sein«


Galeerentagebuch, S. 86

 

 

 

 

 

 

Der Roman eines Schicksallosen ist eigentlich nicht das erste Werk von Imre Kertész. Seine schriftstellerischen Anfänge kreisen alle um eine andere Arbeit mit dem irritierenden Titel: Ich, der Henker.1 »Stutzig«2 macht an diesem Text die Perspektive: Imre Kertész schreibt nicht, wie zu erwarten wäre, aus der Perspektive des Opfers, sondern aus der des Täters. Aufschlussreich ist das Motto, das das Manuskript des Fragments Ich, der Henker trägt:3 »… [U]nsere Liebe gehört dem Schicksal, jedem Schicksal …«. Es ist ein Zitat aus Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Liest man den Satz bei Thomas Mann zu Ende, wird das ganze Ausmaß von Kertész’ Ideologiekritik deutlich: jedes Schicksal werde geliebt, »sei es auch der den Himmel mit Götterdämmerungsröte entzündende Untergang!«4 Die Schicksalshörigkeit der Deutschen ist es, die Thomas Mann im Doktor Faustus an den Pranger stellt, insbesondere die wagnerisch überhöhte Untergangssehnsucht der Hitler-Anhänger. Kertész universalisiert diese Schicksalshörigkeit als das Kennzeichen eines jeden Menschen, der sich der Diktatur unterwirft. Auch Kertész’ Henker ist schicksalshörig. Sein Vokabular – man denke nur an die Gnade, die ihm zuteilwird – stammt aus der Sprache der Religion. Kertész’ Massenmörder ergibt sich in seine Kriminalität, als wäre er der neue Messias, der sich für die Menschheit opfert, indem er ihre Sünden auf sich nimmt. Das Ich, der Henker-Fragment, so heißt es in einer unveröffentlichten Tagebuch-Notiz vom 18. 1. 1959, »ist vor allem […] Selbst-Ironie«.5

Die »Selbst-Ironie« allein erklärt allerdings noch nicht, warum er, Kertész, als Opfer, mit einem Text beginnt, in dem er in die Haut des Henkers schlüpft. Gewiss spielt dabei die Schuld, überlebt zu haben, eine Rolle. Entscheidender aber für Kertész’ Erproben der Täterperspektive dürfte seine Überzeugung bzw. seine Erfahrung sein, dass Opfer und Täter im Totalitarismus austauschbar geworden sind, weil, so Kertész in Dossier K., sie sich beide »von der Bürde der Persönlichkeit« befreiten.6 Der unschuldige Häftling, der in seiner Überlebensnot mit dem Lagersystem paktiert, der gesetzestreue Stalinist, der aus Zugehörigkeitszwang dem Machtapparat zuarbeitet – sie stehen beide mit dem mörderischen Regime im Bunde. »Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der das durchlebt hat, kann […] nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein.«7 In Kertész’ Augen sind nicht nur die Henker schuldig, auch die Opfer sind nicht frei von Schuld. Beide fügen sich in ihre ›Schicksallosigkeit‹. Die These schockiert, da es doch ein gewaltiger Unterschied ist, ob man Böses antut oder Böses erleidet. Noch nie hat ein Überlebender sich so vehement dagegen gesträubt, auf seine Opferrolle reduziert zu werden, noch nie ist ein Überlebender so rücksichtslos mit sich ins Gericht gegangen wie Imre Kertész.

Beim Schreiben von Ich, der Henker schwebte Kertész zunächst ein Pendant zu Dostojewskis Schuld und Sühne vor, wobei er den Unterschied zwischen Raskolnikow und Lipsius, dem Mörder in seiner Geschichte, deutlich hervorhebt: »Der Mord macht Raskolnikow groß und menschlich, von Lipsius8 nimmt er seine seelische Selbständigkeit, Individualität und er wird […] maschinenhaft.«9 Von den zahllosen Varianten dieses ersten Werks, Kertész selber spricht von etwa 400 Seiten,10 lässt er nur ein knapp 20-seitiges Kapitel gelten, das dreißig Jahre später in dem Roman Fiasko Eingang findet und ein halbes Jahrhundert später noch einmal in der Publikation Opfer und Henker im Transit Verlag erscheint:11 Hier legt ein diesmal namenloser Massenmörder ein Bekenntnis ab. Aber es ist nicht ein Schuldbekenntnis, eher ist es eine Anklageschrift fast im Sinne des Eichmann-Porträts, das Hannah Arendt vier Jahre später zeichnen wird: ein Angriff auf normative Moralvorstellungen.12 Denn Kertész’ Massenmörder ist als Objekt der Geschichte ein Henker wider Willen: »[H]ier ist nur die Rolle wesentlich, die Tatsache, daß der Mensch fähig ist, Henker oder Opfer zu sein, und im Getriebe der Todesmaschinerie wie ein Rädchen funktioniert«.13

Nach drei langen Jahren entscheidet sich Kertész schließlich, »den ganzen Ich, der Henker-Komplex beiseite zu legen, und statt dessen«, so heißt es in einem Notat vom 18. März 1960, »meine eigene Mythologie zu schreiben – die Geschichte meiner Deportation.«14 Die »eigene Mythologie schreiben«, Mythologie zu verstehen als ein Narrativ, frei von Wert und Zeit, das wird sein Programm. Er wolle von einem 14 Jahre alten »durchschnittliche[n], kräftige[n], gierige[n] Jüngling« erzählen, »der in ein Konzentrationslager gerät, das körperliche Elend kennen lernt, […] bis er sich mit dem Gedanken des Todes anfreundet – […]. Man lässt ihn aber nicht sterben. […] Seine Kondition wird in Ordnung gebracht, und man schickt ihn nach Hause – und als er zu Hause ankommt, greift in seine zurückgekehrten Erinnerungen die Erkenntnis ein, dass nach dem Bann des Todes die Welt der Ziele, der Tätigkeiten und der Verpflichtungen, die pedantische Schule […] falsch, albern und nichtig ist.«15 Am Inhalt seines ersten Romans wird sich auch im Laufe der dreizehnjährigen Niederschrift nichts ändern. Was sich ändert, ist die Art, in der er diesen Inhalt zu vermitteln sucht. Auf keinen Fall wolle er mit seinem Buch seinem Schicksal einen Sinn geben. Im Gegenteil, auf die »pure Zufälligkeit der Dinge«16 komme es ihm an, gegen sie wolle er protestieren.

Die vorher eingeschlagene Henker-Perspektive weist ihm hierzu den Weg: Ich, der Henker wird zu einer Grundschrift, von der sich alles Zukünftige ableitet. War das Henker-Fragment das Ergebnis einer ersten Inversion der Opfer-Perspektive in ihr Gegenteil, so ist der Roman eines Schicksallosen aus einer zweiten Inversion hervorgegangen.17 Es ist, als hätte sich Kertész erst in einem weiteren Anlauf auf die gemäßigtere Perspektive des Romans eines Schicksallosen einpendeln können, in der der Junge eine Zwischenstellung einnimmt zwischen Opfer und Henker. Eine Perspektive, die versucht, die Logik des Lagers, der Täter zu verstehen. Sein Protagonist erzählt nicht primär seinen eigenen Leidensweg, vielmehr wird er zum Sprachrohr einer exemplarischen Geschichte. Im Galeerentagebuch lesen wir über György Köves: »Wie aber, wenn der Mensch nicht mehr ist als seine Situation, die Situation im ›Gegebenen‹?«18 Der Rahmen für seinen Roman, erklärt Kertész, sei das Passionsspiel mit seinen vorgegebenen Stationen:19 Der Abschied vom Vater, das letzte Abendmahl, die Ankunft in Auschwitz, die Selektion, die Arbeit, der Nah-Tod, die Wiedergeburt (Köves überlebt seinen eigenen Tod) – so weit der »Gemeinplatz«20 in der herkömmlichen Lagerliteratur. Aber nicht um die Beschreibung der Ereignisse gehe es ihm, das hätten andere vor ihm gemacht. Bei Kertész ereignet sich Auschwitz »Schritt für Schritt«21 – in der Sprache selbst, einer eigens für diesen Ort erschaffenen, einer exterritorialen Sprache, die vom ersten bis zum letzten Satz in einem schwer nachvollziehbaren Verhältnis zu dem Beschriebenen steht. Indem Kertész vom »Glück der Konzentrationslager«22 spricht, sprengt er nicht nur die Opfer / Täter-Dichotomie, sondern er verbietet es auch dem Leser, sich in den vorgeprägten Schreckensbildern gemütlich einzurichten.

Kertész’ exterritoriale Sprache scheint stark von einer ihrerseits exterritorialen Musik inspiriert worden zu sein: Schönbergs atonaler Kompositionstechnik, die in Ungarn geächtet war. Adornos Philosophie der Neuen Musik, die sich der Deutung der Atonalität widmet, war ebenfalls verboten. Aber Kertész, der schon Ende der fünfziger Jahre indirekt auf Adornos Musik-Exegesen in Thomas Manns Doktor Faustus gestoßen war, war es offenbar gelungen, sich Adornos Schrift zu beschaffen: Am 26. Dezember 1970 notiert er ins Galeerentagebuch: »Durch die Lektüre Adornos sehe ich wieder völlig klar.«23 »Was die radikale Musik erkennt, ist das unverklärte Leid des Menschen«,24 schreibt Adorno und zitiert Schönberg: Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen; die Musik solle nicht schmücken, sie soll wahr sein. »Mit der Negation von Schein und Spiel tendiert Musik zur Erkenntnis«,25 und er fährt fort: »Die seismographische Aufzeichnung traumatischer Schocks wird aber zugleich das technische Formgesetz der Musik.«26 In diesem Sinne wird auch der Junge aus dem Roman eines Schicksallosen zum Seismographen, er nimmt wahr, artikuliert das Wahrgenommene, aber er fällt kein Urteil. Nicht zur Identifikation führt dieser Figurenentwurf, sondern zum Weiterdenken. Für den Autor des Romans eines Schicksallosen drängt sich die Frage auf, wie eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vorgenommen werden kann, ohne dass der Autor sich den Blickwinkel des Totalitären aneignet?27 Nur indem die Technik des Romans »der Zwölfton- bzw. Reihentechnik, also einer...

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