Livland
Unter Großherren und Kirchenherren
Jacob Michael Reinhold Lenz wurde 1751 am Reinholdstag, dem 23. Januar,1 im livländischen Seßwegen2 geboren, fünf Tage später getauft. Zum Namenspatron wählte er nachher nicht einen Heiligen mit seinem Rufnamen, sondern den Stärksten: den Erzengel Michael.3
Der Große Nordische Krieg zwischen Rußland und Schweden, 1700 bis 1721, hat das Land gezeichnet, die Erinnerung daran ist allgegenwärtig. Als der vierzehnjährige Jacob Lenz eine Schulrede hielt, auch dann in seinem Epos Die Landplagen, schilderte er die schrecklichen Folgen des Kriegs. Schlimmer noch war für Livland die Pest, die 1709 im belagerten Riga, der 20 000 Einwohner zählenden Hauptstadt, ausbrach und zwei Drittel der Bevölkerung hinwegraffte. Mit den Ritter- und Landschaften sowie den Städten schloß Zar Peter I. schon 1710 Kapitulationen, gegenseitige Verträge. Durch sie wurden der deutschen Oberschicht aus Adel und Bürgertum, die ein Zehntel der Einwohner ausmachte, die Privilegien bestätigt,4 die sie unter der schwedischen Herrschaft besaß: ständische Rechte der Ritterschaft – Immunitäten, Gerechtigkeiten (Bauernabgaben), Freiheiten –, deutsches Recht, deutsche ständische Selbstverwaltung, deutsche Verwaltungssprache, evangelische Religion nach dem ungeänderten Augsburgischen Bekenntnis,5 deutsch-lutherische Landeskirche, adlige Vorrechte der lutherischen Geistlichkeit. Livlands Grundgesetz, das Privilegium Sigismundi Augusti des polnischen Königs Sigismund II. August vom 28. November 1561, wurde auf solche Weise bekräftigt. Jetzt war allerdings neben der evangelischen auch die griechische Religion zugelassen, die russisch-orthodoxe Kirche. Wo Deutsch bei Behörden und Institutionen noch nicht Geschäftssprache war, wurde es eingeführt. Ihre rechtliche Sanktion erhielten die Vereinbarungen durch den Friedenstraktat von Nystad, 30. August 1721. Das vorher schwedische Livland war von nun an de iure eine russische Provinz unter der Bezeichnung Fürstentum oder Herzogtum Livland.
Ins entvölkerte Land kamen seit 1710 aus den reichsdeutschen Staaten, vor allem aus Mecklenburg, Pommern, Ostpreußen, Schlesien, auch aus Thüringen und Sachsen, Handwerker und, so nannte man die Studierten, Literaten, das waren vor allem Theologen, daneben Juristen und Mediziner. Die weitaus meisten von ihnen nahmen eine Stellung als Hofmeister an, so hatten sie eine Warte, von der sie sich nach einem öffentlichen Amt umsehen konnten.6 (I,56) Viele Theologen bekamen, nachdem sie das Mindestalter für Pfarrer erreicht hatten, fünfundzwanzig Jahre, eine Pfarre, andere wurden Lehrer, die Juristen Justizsekretäre oder Advokaten, die Mediziner Kreisärzte oder praktizierende Ärzte. Einige blieben Hofmeister ihr Leben lang, wechselten, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, zu einem anderen Gut. Die meisten von ihnen blieben unverheiratet, weil das Einkommen zu gering war. Manche heirateten eine Schülerin oder eine Pfarrwitwe, gelegentlich konnte ein Hofmeister seine verwitwete Prinzipalin zur Frau nehmen. Oder die entlassene Favoritin des Barons, dann reichte deren Abfindung aus für die Gründung eines eigenen Hausstands. Es konnte auch sein, daß der Patronatsherr dem Kandidaten der Theologie, wenn er die vom jungen Herrn geschwängerte Magd heiratete, zu einer Pfarre verhalf.7
Unter den Eingewanderten war Christian David Lenz, der Vater von Jacob Michael Reinhold Lenz.
Seit 1749 ist er der Prediger von Seßwegen, einem Kirchspiel8 im lettischen Teil Livlands. Früher stand hier sogar ein erzbischöfliches Schloß, seither ist die Attraktion der Jahrmarkt, der dreimal im Ort stattfindet und einmal beim Gut Karstenbehn. Gehandelt wird mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Vieh. Und mit Leibeigenen. Das Seßwegensche Pfarrhaus ist eher bescheiden, aus Holz gebaut. Aber wie es auf einem Hügel steht, blickt man auf die anderen Höhen mit den Bauernhäusern, von denen es sich ausreichend abhebt, von diesen Rauchhütten ohne Schornstein und mit einer so niedrigen Tür, daß man nur gebückt hineinkommt, auch noch über eine hohe Schwelle steigen muß. Irgendwo in der Wand ist ein Loch, durch das der Rauch abzieht, und ein anderes Loch stellt das Fenster dar, das mit einem Holzschieber verschlossen wird. Der Raum ist nicht hoch, man kann an die Streckbalken fassen. Licht kommt von Kienfackeln oder selbstgezogenen Talgkerzen. Die Behausung der Armen prägte sich demjenigen, der sie gesehen hatte, für immer ein; sogar in Jacob Lenz’ Ode auf Kant9 sind die Rauchhütten erwähnt, und in der Geschichte auf der Aar wird das Vegetieren in einer solchen Behausung geschildert. Der Himmel spannt sich mit den hohen Wolken weit über Livland; die Hölle auf Erden ist den Hütten näher, die im kurzen Sommer heiß, im langen Winter kalt sind.
Welch ein Glück für Jacob Lenz, er zählt nicht zu den Unteren. Bei seiner Taufe, die der Vater spendet, sind die Paten Generalsuperintendent Jacob Andreas Zimmermann, nach dem der Täufling den Rufnamen bekommt10 – Freunde der Familie nennen ihn auch Reinhold –, Obristlieutenant Otto Reinhold von Igelström, Erbherr auf Selsau und Kronenhof, Regimentschirurgus Gebhard Elert Horlebusch, Catharina von Tiesenhausen auf Gravendahl sowie Helena von Berg. Der Generalsuperintendent läßt sich allerdings durch Horlebusch mitvertreten, und statt Helena von Berg ist Helena von Tiesenhausen anwesend.
Die deutschen Pastorenfamilien in Livland fühlen sich wie der Stamm Levi. »Das ist das Recht, das die Priester gegenüber dem Volk haben«, heißt es im fünften Buch Mose, das Recht »gegenüber denen, die ein Schlachtopfertier schlachten, sei es ein Stier oder ein Lamm: Man soll dem Priester den Bug, die Kinnbacken und den Labmagen geben. Du sollst ihm den ersten Ertrag von Korn, Wein und Öl und den ersten Ertrag der Schafschur geben.«11 Allerdings bekamen die levitischen Priester in Israel kein Land, anders die evangelischen Priester in Livland. Hier gehören zu einer Kirche Felder, Wiesen, Gärten, Waldungen, im Durchschnitt dreihundert Hektar, nicht mitgerechnet das Bauernland, dazu Viehherden und die Pastoratsbauern, Leibeigene, über die der Pfarrer als Gutsherr die unbeschränkte Hauszucht, die niedere Gerichtsbarkeit, ausübt mit Stock, Peitsche und Ruten. Selbst der unbeirrte Kämpfer gegen die Leibeigenschaft, Johann Georg Eisen, Pastor zu Torma und Lohusu im Nordosten Estlands, peitschte seine ›eigenen‹ Leute aus, wenn sie ungewissenhaft, ungehorsam, faul waren oder wenn sie gestohlen hatten. Warum sie sich so verhielten, hatte er in seinen Büchern geschrieben: sie waren Leibeigene. Beobachtungen, die Jacob Lenz in Livland gemacht hat, sind eingegangen in die Briefe eines jungen L– von Adel: Ich sehe es kommt nichts dabei heraus, so berichtet der junge Herr seiner Mutter, wenn der Bauer wie das Vieh gehalten wird, er wird faul und unlustig.12 (II,828)
Von Steuern und öffentlichen Lasten sind die Pastorate befreit, genauso von Soldatenstellungen und Einquartierungen. Einkünfte bezieht der Pfarrer nicht nur aus der Landwirtschaft, er hat daneben die Priestergerechtigkeit, das sind die jährlichen Abgaben von den Erbhöfen und den Bauern seines Kirchspiels: Geld oder Korn, Flachs, Heu, Butter, Schafe, Hühner, Brennholz. Dazu kommen die Gebühren für seine Amtshandlungen: Taufen, Konfirmationen, Anschreibung der Kommunikanten, Aufgebote, Trauungen, Begräbnisse, endlich die Klingelbeutelgaben und in Lettland noch das Beichtgeld zweimal im Jahr. Zum heiligen Amt gehört auch das zu bezahlende Ablesen der Namen, wenn Gläubige eine Fürbitte in das Kirchengebet eingeschlossen haben möchten, bei Krankheit und wenn gesät oder geerntet wird. Erst recht, wenn einer entlaufen will, nur muß er in diesem Fall sein Anliegen verschweigen. Erzählt man sich von einer Kirche, die dort gesprochenen Fürbitten seien besonders wirksam, wallfahren die Bauern zum Priesterhof mit Hammeln, Butter, Honig und bestellen das Ablesen für ein Jahr im voraus.
Neben den Gebühren, die der Pfarrer erhebt, erhält er Geschenke, auch die Armen geben von dem wenigen, was sie besitzen, bringen ihm Krebse oder einen Fisch, einen Vogel oder einen Hasen, ein Körbchen voll Beeren. Von seinen Hausbesuchen, bei denen er die Kinder im Katechismus und im Lesen examiniert, die Erwachsenen nach ihrem Lebenswandel befragt, Kranken das Abendmahl reicht, nach Läuflingen forscht, von diesen Betfahrten kehrt der Lehrer des hl. Evangeliums, der Diener der Sakramente mit Lebensmitteln reichlich beschenkt zurück.
Die Kirche ist eine Herrenkirche. Der Erbherr, der Großherr, wird mit »Gnädiger Herr« angeredet, die offizielle Anrede des Pfarrherrn ist »Wohlehrwürdiger«, die Bauern sagen »Gnädiger Kirchenherr«. Sie küssen ihnen den Rockschoß und die blankgewichsten Stiefel, den weltlichen wie den geistlichen Gutsherren. In den Briefen eines jungen L– von Adel hat Lenz geschrieben, der Herr, der bei einem Bauern einkehre, müsse sich für einen reisenden Handwerksburschen ausgeben, damit die Leute sich nicht vor ihm in acht nehmen. (II,827-828) Im dramatischen Fragment Die Kleinen brechen die Diener ihren Tanz ab, als sie merken, daß ein Herr sich unter sie gemischt hat. Die Demutshaltung der Leibeigenen und anderer hat Jacob Lenz niemals vergessen: der Geiger Schlankard, im...