Prolog
Fünf Jahre ist das nun her, dass ich zum ersten Mal in der Galerie Barbara Wien vor dem Wandteppich von Ingrid Wiener stand. Es war ein kalter Samstagnachmittag im Februar. Draußen hingen die Wolken träge vom Himmel. Die Melancholie, die Berlin jedes Jahr im Winter heimsucht, hatte sich eingenistet, in Brust und Kopf und Stadt, und würde so schnell nicht wieder verschwinden. Also ging ich in Ausstellungen, besuchte Galerien und Museen, lungerte vor Bildern, Filmen und Skulpturen herum, weil die Kunst den endlosen Grautönen etwas entgegensetzte. Der Wandteppich, vor dem ich damals in der Galerie stand, war in etwa so groß wie eine Zeitungsseite. In ihn war in krakeliger Handschrift eine Einkaufsliste eingewebt: »Fleisch, Kaffee, Öl, Käse« stand da mit schwarzem Faden geschrieben. Die Buchstaben ließen sich nur schwer entziffern, so als wären sie in Eile notiert worden. Mit etwas Abstand hätte der Teppich auch Papier sein können, das immer wieder auf- und zugefaltet worden war und deshalb etwas müde an der Wand hing.
»Das ist von Ingrid Wiener«, sagte Barbara Wien, die Galeristin. Sie und ich kennen uns ein bisschen, von Ausstellungen und Eröffnungen und den Stunden danach in verrauchten Berliner Bars. Barbara Wien gehört zu den Galeristinnen und Galeristen, die in den Neunzigerjahren durch ihre Räume und ihr Engagement dazu beigetragen haben, Berlin als Metropole für zeitgenössische Kunst zu etablieren. Etwa zehn Jahre später zog ich, direkt nach dem Abitur, aus Leipzig hierher. Nicht nur, aber auch wegen der lebendigen Kunstszene.
Das Weben, erklärte Barbara Wien, während wir vor dem Teppich standen, sei Ingrid Wieners Kunst. Meist würde sie Fotografien oder Notizzettel abweben, die sie über Jahre aufbewahrt und zufällig wiedergefunden habe. Ich konnte sofort erahnen, wie viel Vergangenheit in diesem Wandteppich steckte, festgehalten von ineinander verschlungenen Fäden. Weben, dachte ich, ist eine langsame Kunst. Wie viele Tage saß sie, diese Ingrid Wiener, wohl am Webstuhl? Woran dachte sie beim Weben der Wörter? Und: Was ist das für ein Mensch, der Einkaufslisten in Wandteppiche verwandelt?
»Die müsstest du kennenlernen«, sagte Barbara Wien.
»Wieso?«, fragte ich, mehr aus Höflichkeit als aus echter Neugier, weil Sätze wie dieser mich immer misstrauisch machen.
Also: Wieso?
»Weil Ingrid zu der Sorte Mensch gehört, die nicht ein, sondern fünf Leben hatte.« Und dann erzählte sie. Dass Ingrid Wiener ursprünglich aus Wien kommt und in den Fünfzigerjahren zwischen Existenzialisten und Schriftstellern wie Konrad Bayer aufwuchs. Dass ihr Lebensgefährte Oswald Wiener Schriftsteller und der Vater der Fernsehköchin und Restaurantbesitzerin Sarah Wiener ist. Dass Oswald Wiener damals bei der legendären Aktion »Kunst und Revolution« Ende der Sechzigerjahre dabei war, wo die Künstler und Aktionisten Günter Brus und Otto Muehl in einem Hörsaal an der Universität Wien alle Tabus brachen. Die Männer zogen sich vor den Studierenden nackt aus, onanierten und urinierten. Schrien, schimpften, tobten. Es folgten staatliche Repressionen und Haftstrafen. Oswald und Ingrid flohen nach Berlin, wo sie zusammen mit ihrem besten Freund Michel Würthle in den Siebzigern in Kreuzberg ein Lokal, das Exil, eröffneten. Dort aßen und tranken die berühmten Künstler und Schriftsteller und Schauspieler ihrer Zeit. Joseph Beuys zum Beispiel, Max Frisch und Martin Kippenberger, Peter O’Toole, David Bowie, Iggy Pop. Die Galeristin Barbara Wien sagte auch, dass die Seele dieses Lokals Ingrid war und das gute Essen von ihr kam. Sie war die schöne Muse, um die die großen Männer kreisten. Die Frau, die sie verehrten und für die sie ein wenig Platz in den eigenen Reihen einräumten. Jetzt lebe Ingrid mit Oswald abwechselnd im Norden Kanadas, in einer alten Goldgräberstadt, und in der Steiermark in Österreich. »Wenn du möchtest, kannst du sie bestimmt besuchen.«
Eine Frau, die webt und kocht und für ihre Schönheit verehrt wird, scheint auf den ersten Blick allen Klischees zu entsprechen. Es sind Fähigkeiten und Eigenschaften, die an alte Rollenbilder geknüpft sind und die eine Frau zunächst nicht befreien, sondern verschwinden lassen. Und ich hätte diese kurze, charmant klingende Lebensgeschichte der Ingrid Wiener, die sich anscheinend vor allem durch die berühmten Künstler und Schriftsteller, die sie umgaben, auszeichnete, nach dem Galeriebesuch vor fünf Jahren auch einfach in den Räumen von Barbara Wien liegenlassen können. Aber aus irgendeinem Grund hatte Barbara Wien es an diesem Samstagnachmittag geschafft, dass ich Ingrid Wiener gedanklich mit nach Hause nahm. Eine Frau, die einen Einkaufszettel abwebt und versucht, in den Fäden eines Wandteppichs einen so winzigen Moment ihres Lebens festzuhalten – da musste etwas Interessantes dahinterstecken. Unterbewusst war es wahrscheinlich auch ein Akt gegen das Vergessen. Frauen wie Ingrid Wiener werden oft genug hintangestellt und dienen nur als Stimme. Als Ehefrau oder Muse von, um die Geschichten von Männern zu erzählen.
Es gibt eine Fotografie in Schwarz-Weiß von Christian Skrein aus dem Jahr 1968 mit dem Titel »Wir nicht«. Es ist eines der wenigen Zeugnisse, die sich leicht über sie finden lassen. Auf dem Foto steht Ingrid Wiener als sehr schöne junge Frau in einem hellen Anzug zwischen sechs Männern aus der Wiener Kunstszene. Die Hände hat sie in den Jackentaschen vergraben. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr über die Schultern. Sie hat dichte Augenbrauen und einen sinnlichen Mund. Ihre Augen sind halb geschlossen. Stolz sieht sie auf diesem Bild aus. Die Männer rechts und links von ihr tragen ebenfalls Anzüge und schauen selbstbewusst und ernst in die Kamera. Einige haben Zigaretten im Mundwinkel oder in der Hand. Sie wirken wie eine eingeschworene Bande. Die Fotografie diente damals als Vorlage für ein Plakat, das das österreichische Establishment provozieren sollte, und gehörte zu einer Reihe von Aktionen, die die jungen Männer, darunter auch Oswald Wiener, Ingrids späterer Lebensgefährte, in Wien veranstalteten, um den Konformitäten und der Nachkriegsstille, in die sich die Gesellschaft eingeschlossen hatte, etwas entgegenzusetzen.
Ingrid Wiener war also nicht nur Textilkünstlerin, Köchin und Muse. Sie war offensichtlich, genau wie die Männer auf diesem Bild, eine Ungezogene, Unangepasste. Eine, die sich nicht hinter alten Rollenbildern versteckte, sondern die sich selbstbewusst neben den Männern in der ersten Reihe positionierte. Eine, die nicht vergessen werden wollte. »Ich nicht« könnte die Fotografie auch heißen.
Und hier wird die Geschichte, die Barbara Wien andeutete, interessant. Wer trägt dazu bei, das Bild einer Zeit zu zeichnen? Die Männer in Ingrids Leben haben vor allem unter den Begriffen »Wiener Gruppe« und »Wiener Aktionismus« österreichische und internationale Kunstgeschichte geschrieben. Ihre Arbeiten hängen heute in den großen Museen dieser Welt. Sie halten Vorträge. Ihnen werden Bücher gewidmet. Und oft bleibt es bei dieser einseitigen Betrachtung der Geschichte.
Ingrid Wiener kann dieser Geschichte eine neue Sichtweise hinzufügen. Sie kann sie in gewisser Weise geraderücken. Ich möchte die Geschichte von Ingrid Wiener nicht erzählen, damit die großen Männer, die sie umgaben, noch deutlicher hervortreten können: die Wiener Gruppe und die Wiener Aktionisten und die berühmten männlichen Gäste des Exils, ihres Lokals in Berlin. Natürlich werden sie eine Rolle spielen, aber ich will nachspüren, wie sich Frausein damals anfühlte. Was es bedeutete, mit zwei Weltkriegen im Rücken aufzuwachsen und eigene Wege zu finden. Was es hieß, sich aus den festgefahrenen Rollen zu befreien, und was es brauchte, um sich in die erste Reihe zu stellen.
Dieses Buch soll ein Porträt werden. Keine lückenlose Biografie und auch keine Chronologie. Meine Sicht auf Ingrid Wiener und ihr Leben kann nur eine bestimmte Sichtweise sein und keine allgemeine historische Wahrheit. Die Ereignisse, von denen dieses Buch erzählen wird, sind wahr und nicht erfunden. Aber es gäbe sicher Personen, deren Erzählperspektive eine andere wäre.
Ich habe die Zeit, über die ich in diesem Buch schreiben will, nicht miterlebt. Ich kann ihr nur nachspüren, die Erinnerungen von Ingrid, ihren Freundinnen und Freunden, Weggefährtinnen und Weggefährten nur einfangen und neu zusammensetzen. Für dieses Buch habe ich über Jahre hinweg immer wieder Gespräche und Interviews geführt und Ingrid in der Steiermark besucht. Ich habe mit ihr gekocht und ihr beim Weben zugeschaut, ihr Archiv aus Bildern, Filmen, Briefen, Postkarten und Zeitungsausschnitten studiert und in Wien, Berlin und Graz ihre Freundinnen und Freunde getroffen.
Ingrid ist eine Frau, die sich schwer greifen lässt, die leicht entwischt und immer etwas Abstand hält. So als gehöre sie nicht ganz zu uns und unserer Welt. Auf ihren Gobelins, ihren Wandteppichen, bildet sie oft Gegenstände und Erinnerungsstücke aus ihrem Alltag ab, wie jenen alten Einkaufszettel, aber auch Schneidebretter, Gurken auf Zeitungspapier, den Kabelsalat unter ihrem Schreibtisch, den Stiefel ihres Freundes Dieter Roth. Die Fragen, die dahinterstehen, sind: Was ist wichtig, was braucht es zum Leben, was bleibt?
Dabei webt Ingrid Wiener die Gegenstände nicht einfach ab. Sie schreibt auch ihre Stimmung in dem Moment des Webens mit ein. Das bedeutet, dass die Fäden mal sehr fest und mal sehr locker sind und dass das Bild, das dabei entsteht, sich zwangsläufig von der Vorlage unterscheidet. Weben ist ein unglaublich langwieriger Prozess, den man aushalten und aussitzen muss. Und so ist es auch mit Ingrid....