HEIMAT BRASILIEN
Sie war von ausgesprochen romanischem Typus, in ihrer Jugend eine vielbewunderte Schönheit und außerordentlich musikalisch.
Thomas Mann
Ihr Leben hatte begonnen wie ein Roman. Sie war nicht im Haus ihrer Eltern, überhaupt in keinem Haus, sondern im brasilianischen Urwald geboren worden. »Zwischen Affen und Papageien« sei sie zur Welt gekommen, hatte ihr Vater lachend behauptet.1 In Freiheit und glücklicher Ungebundenheit war sie aufgewachsen, mit den Mulatten- und Kreolenkindern hatte sie gespielt und mit den schwarzen Sklaven, die die Plantagen ihres Vaters bearbeiteten. Gern war sie bei den Großeltern gewesen, dem Großpai Manoel und der Großmai Maria, auf deren Besitzung Ilja Grande die üppigsten Pflanzen wuchsen, die seltensten Tiere lebten. Die kleine Julia war noch keine sieben Jahre alt, als der Vater sie auf ein Schiff brachte, das nach Europa segelte, genauer: nach Frankreich und von dort in den Norden Deutschlands, wo seine Geburtsstadt lag.
Dieser Vater war ein hochgewachsener Mann mit blauen Augen und blondem Backenbart und hieß Johann Ludwig Hermann Bruhns. Er stammte aus einer traditionsreichen Lübecker Handelsfamilie und hatte ursprünglich die schon vom Großvater gegründete Firma übernehmen sollen. Doch für den abenteuerlustigen Jungen war diese Aussicht zu beschränkt, er hatte große Pläne, und mit neunzehn heuerte er auf einem französischen Segler an, um in das Land seiner Sehnsucht zu entfliehen. Brasilien war damals ein begehrtes Land für viele Europäer. Gerne akzeptierten sie das Angebot des portugiesischen Königs João VI. an ausländische Kaufleute, sich in Rio de Janeiro anzusiedeln.
Der junge Ludwig Bruhns, der seine Lehrzeit in der Firma seines Vaters hinter sich hatte, ging zunächst nach Santos, erwarb dann Plantagen im Süden, baute Kaffee und Zuckerrohr an und brachte es in wenigen Jahren zu großem Vermögen. Er änderte seine Vornamen, hieß nicht mehr Johann Ludwig Hermann, sondern João Luiz Germano, wurde nicht nur wohlhabend, sondern war auch wohl angesehen, ein kluger Mann, zuverlässig und geschickt. So konnte er es wagen, sich sieben Jahre nach seiner Ankunft um die Tochter eines begüterten und vornehmen Handelspartners zu bewerben. Die siebzehnjährige Maria Luiza da Silva war ihm längst durch ihr freundliches Wesen und ihre anmutigen Bewegungen aufgefallen, eine südländische Schönheit mit einem ebenmäßigen Gesicht in Form eines klassischen Ovals, wie man es nicht oft antraf, mit nachtschwarzem, zu Zöpfen geflochtenem Haar und großen dunklen Augen – die ganze Gestalt war ungemein anziehend und reizend. Auch trug Maria Luiza zufällig dieselben Vornamen wie Johann Ludwigs Mutter Marie Luise Bruhns zu Hause. Ihr streng katholischer Vater Dom Manoel Caetano da Silva, Geschäftsmann und Großgrundbesitzer portugiesischer Abstammung, war schon in der vierten Generation in Brasilien ansässig. Der Bewerber, dessen Fähigkeiten er kannte, schien vertrauenswürdig – Dom Manoel willigte ein.
Die Hochzeit des 27jährigen João Luiz Germano Bruhns aus Deutschland mit der märchenhaften portugiesischen Braut fand am 4. Februar 1847 auf der Ilja Grande, dem Besitz ihrer Eltern, statt. Das Geschenk von Dom Manoel bestand in zwei schwarzen Sklaven, einem Kreolen namens José und einer Kreolin namens Ludovina, vierzehn und sieben Jahre alt, die er zur Vermählung der Tochter nicht ganz billig erworben hatte. Der glückliche Bräutigam hatte als Wohnsitz das an der Küste gelegene Dorf Angra dos Reis gewählt. Es war der Geburtsort seiner Frau. Dort kamen in den folgenden Jahren drei Kinder zur Welt: 1848 Sohn Manoel, 1849 Tochter Maria Louise, genannt Mana, 1850 Sohn Luiz. Daß alle Kinder im katholischen Glauben erzogen wurden, war so selbstverständlich wie die Tatsache, daß ihr protestantischer norddeutscher Vater für sie Katholik wurde. Daß sich im fernen Deutschland 1848 eine Revolution ereignete, erfuhr man erst Wochen später, und es interessierte auch weniger als die Tatsache, daß ein viertes Kind sich ankündigte. Ehepaar Bruhns hatte sich eben entschlossen, ihr Domizil an die Küste von Paraty zu verlegen, und eine Karawane aus Kindern, Sklaven und Gepäck – der Vater zu Pferde voran, die schwangere Mutter im Tragsessel – zog die Küste entlang, als sich die Geburt ankündigte. Man schickte Sklaven und Kinder voraus, bettete die Mutter unter Palmen, und so kam am 14. August 1851 das Kind zur Welt. Es war ein Mädchen.
Das Anwesen, in das die Familie mit dem Neugeborenen einzog, lag in einer flachen Bucht am Atlantischen Ozean. Ludwig Bruhns hatte die schöne Fazenda mitsamt Lagerhalle und Bootshaus ein halbes Jahr zuvor erworben. Zehn Hütten standen allein für die Sklaven zur Verfügung. Nachdem die Familie mit Sack und Pack untergekommen war, konnte das Neugeborene in der heiligen Taufe den Namen Julia erhalten. Noch heute existiert der vergilbte Taufschein, worin der Familie da Silva bescheinigt wird, daß sie »Weiße und Freie« und katholischen Glaubens seien. Taufpate in der Hauptkirche Nossa Senhora dos Remédios war der Apotheker und Kolonialwarenhändler Francisco Alves da Costa Guimarães, der der Familie auch später nützlich wurde.
Die Fazenda trug zu Recht den Namen Boa Vista – Schöne Aussicht. Das Haus thronte an einer erhöhten Stelle, und vom Balkon aus hatte man einen traumhaften Blick über den Atlantischen Ozean. In früheren Zeiten hatte diese Bucht als Versteck für die Gold- und Diamantfunde gedient, die im bergigen Hinterland entdeckt worden waren. Der einzige Weg, um das Gold mit Maultieren zu den Schiffen zu bringen, war ein noch von den Indios geschaffener Pfad, der durch das unwegsame Gebirge bis zum Meer führte. Die kostbare Beute mußte vor spanischen und französischen Piraten geschützt werden, wozu sich die verschwiegene Bucht hervorragend eignete. Zugleich vermehrten die Goldfunde den Reichtum der Stadt Paraty, die im Lauf des Jahrhunderts auch durch den Anbau von Kaffee und Zuckerrohr einen großen Aufschwung erlebte. Im Ort entstanden prächtige, mit farbigen Fliesen dekorierte Villen, wuchsen hübsche Bürgerhäuser mit hölzernen Balkonen und grünen Innenhöfen im portugiesischen Kolonialstil empor; afrikanische Sklaven, die jahrelang die Hälfte der Einwohner stellten, besorgten die Arbeiten auf Schiffen und Plantagen.
Wenn Julia Mann ihren Kindern die ferne Heimat schilderte, ließ sie Palmenhaine und strohgedeckte Hütten, pfeilschnell vorüberschießende Kolibris und krächzende Urubus wie in einem farbigen Kaleidoskop vor ihnen entstehen. Sie erzählte aber nicht nur davon, sie zeichnete ihre brasilianische Kindheit auch auf – auf den lockeren Folioseiten eines verblichenen, mit Fäden zusammengebundenen Kontobuches, das heute im Archiv der Akademie der Künste Berlin liegt.
Das Kindheitsparadies endete jäh. Maria Luiza da Silva starb bei der Geburt ihres sechsten Kindes, und auch das Neugeborene starb. Sie war achtundzwanzig Jahre alt. Im Sterberegister der Hauptkirche von Paraty ist verzeichnet: »Beigesetzt wurde auf dem Friedhof dieser Gemeinde Dona Maria Senhorinha da Silva Bruhns, Weiße, gebürtig in der Stadt Angra dos Reis, verheiratet mit João Luiz Germano Bruhns, mit allen Sakramenten und ohne Testament.« Ihr Todestag war der 19. März 1856. Sie hinterließ einen unglücklichen Mann und fünf kleine Kinder.
Ludwig Bruhns, mit vierunddreißig Jahren Witwer, gab die Kinder fort. Manoel, Mana und Luiz kamen in ein Internat in Rio, die fünfjährige Julia und der dreijährige Paolo zum Großpai Dom Manoel und zur Großmai Dona Maria da Silva in ihr Haus auf der Ilja Grande südlich von Rio de Janeiro. Der Großvater war bemüht, die Enkelin durch kleine Späße zu erheitern, die Großmutter war herrisch und verbot ihr, die schwarzen Sklaven zu besuchen und in ihren Hütten carne seca zu essen, Trockenfleisch mit schwarzen Bohnen. Jeder...