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Neben uns die Sintflut

Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

AutorStephan Lessenich
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446254336
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Wir lagern systematisch Armut und Ungerechtigkeit aus, im kleinen wie im großen Maßstab. Und wir alle verdrängen unseren Anteil an dieser Praxis. Der renommierte Soziologe Stephan Lessenich bietet eine brillante, politisch brisante Analyse der Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Wirtschaft. Er veranschaulicht das soziale Versagen unserer Weltordnung, denn es profitieren eben nicht alle irgendwie von freien Märkten. Die Wahrheit ist: Wenn einer gewinnt, verlieren andere. Jeder von uns ist ein verantwortlicher Akteur in diesem Nullsummenspiel, dessen Verlierer jetzt an unsere Türen klopfen.

Stephan Lessenich, 1965 in Stuttgart geboren, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Bei Hanser Berlin erschien von ihm zuletzt 'Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis' (2016). 

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Leseprobe

Kapitel 2
Externalisierung:
Soziale Ungleichheit, relational gesehen


»Diese Art und Weise macht … den relativen Wohlstand und, im entgegengesetzten Falle, den relativen Uebelstand aus.«

Johann Jakob Hottinger,
Theophrast’s Characterschilderungen (1821)

Kapitalistische Dynamik – und ihr Preis


Die »Externalisierungsgesellschaft« ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Externalisierung wird gesellschaftlich bereits so lange betrieben, wie der globale Kapitalismus existiert – und den wiederum gibt es nicht erst seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Untergang der Sowjetunion. Dem damals ausgerufenen Zeitalter der Globalisierung und der »einen«, nunmehr eben vollständig kapitalistischen Welt setzten die Sozialwissenschaften sogleich die Erkenntnis entgegen, dass es einen globalisierten Kapitalismus schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gegeben habe. In den Jahrzehnten zwischen 1870 und 1914 sei die Internationalisierung von Handels- und Kapitalströmen sogar ausgeprägter gewesen als im späten 20. Jahrhundert, nach dem Ende des Kalten Kriegs und des »Wettbewerbs der Systeme«.

Doch auch eine solche zeitliche Perspektive greift zu kurz, wenn es um die Geschichte des globalen Kapitalismus geht. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem war von seinen Anfängen an auf Expansion, auf die Erweiterung seines Geltungsbereichs, auf die Überschreitung von Grenzen angelegt. Und dies nicht allein im Sinne der ihm eigenen, abstrakten Systemlogik: Dieser zufolge müssen unablässig Profite erwirtschaftet werden, die wiederum profitabel zu reinvestieren sind, um den Kapitalkreislauf in Gang zu halten – das heißt, um das Spiel der Produktion und Reinvestition von Profiten auch in der nächsten Periode aufrechterhalten, also in dann größerem Maßstab fortführen zu können. Diese Logik einer wirtschaftlichen Reproduktion auf beständig erweiterter und zu erweiternder Basis hat zugleich aber eine ganz konkrete, materiale und nicht zuletzt auch territoriale Dimension: Kapitalismus muss, um auf Dauer bestehen zu können, in seinem Wirkungsbereich immer weiter ausgreifen, auf stets neue gesellschaftliche Bereiche, Felder und Räume. Wirtschaften nach dem Prinzip des rentablen Kapitaleinsatzes hat einen eingebauten Verallgemeinerungsanspruch, ja Vollkommenheitszwang: Tendenziell die »ganze Welt« wird zu seinem Revier, prinzipiell »alles« gerät ihm zum Objekt der ökonomischen Verwertung, letztlich »alle« werden in den Sog der kapitalistischen Warenwelt gezogen.

Die Marktstrategien weltweit operierender Firmen und – als andere Seite der Medaille – die staatlichen Standortpolitiken, wie sie rund um den Globus betrieben werden und tagtäglich dem Wirtschaftsteil der Zeitung zu entnehmen sind, bilden nur die gegenwärtige, wenngleich neuerlich forcierte Variante dieser systemisch angelegten Expansionstendenz: Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen gleichermaßen wird der heimische Absatzmarkt regelmäßig zu klein; Teile der Wertschöpfungskette werden in aller Herren Länder ausgelagert, sobald und solange dort insbesondere Arbeitskraft billiger als am eigenen oder bisherigen Standort zu haben ist. In den jeweils neu »aufkommenden Märkten« (emerging markets) dieser Welt geben sich die globalen Investitionshandlungsreisenden die Klinke in die Hand – bis sie plötzlich anderswo kurzfristig attraktivere Investitionsräume entdecken. Nach Taiwan war Vietnam an der Reihe, derzeit steht Kuba am Start, und selbst Nordkorea dürfte demnächst – Raketentests hin oder her – feststellen, dass es um (weiter gehende) marktöffnende Interventionen als Eintrittskarte zum kapitalistischen Weltsystem nicht herumkommen wird.

Dieses kapitalistische Weltsystem ist als solches nicht neu – in historisch wechselnder Gestalt existiert es bereits seit etwa fünfhundert Jahren. Nicht von Beginn an hat es die gesamte Welt umfasst, nicht einmal den gesamten jeweils bekannten Teil derselben. Aber seit jeher hat es sich als ein globales Wirtschaftssystem insofern konstituiert, als es unterschiedliche Weltregionen mit verschiedenartigen wirtschaftlichen Funktionen zusammenspannte und zueinander in Beziehung setzte: Produktions- mit Vertriebs- und Konsumregionen, Räume der Rohstoffgewinnung mit solchen ihrer Verarbeitung und Veredelung, industrielle mit agrarischen Gebieten, die Zentren des Kapitaleigentums mit jenen des Arbeitskrafteinsatzes. Oder, einfacher und in der eingängigen Terminologie formuliert, mit der Weltsystemanalysen die funktionale und regionale Aufteilung der »einen« Welt des modernen Kapitalismus beschreiben: die »Zentren« mit den »Peripherien«. Der Systemcharakter dieses Arrangements beruht darauf, dass dessen einzelne Elemente in ihrer Gestalt wie in ihrem Wandel wechselseitig aufeinander bezogen sind: Wie sich das kapitalistische Weltsystem an seinen jeweiligen Peripherien darstellt, hängt unmittelbar mit seiner spezifischen Ausprägung in den Zentren zusammen (und umgekehrt), Veränderungen an einer Stelle des Weltsystems ziehen immer auch Veränderungen andernorts nach sich.

Schon Adam Smith, einer der Begründer der klassischen Nationalökonomie, hatte darauf hingewiesen, nach welchem Prinzip sich der »Wohlstand der Nationen« zuallererst herstellt: nach jenem der strategischen Nutzung relativ günstiger Gegebenheiten nämlich. Warum prosperieren manche Regionen, andere hingegen nicht? Warum schreiten die einen ökonomisch voran, während die anderen zurückbleiben? Smith’ Antwort mit den »relativ« günstigen Gegebenheiten bezieht sich nicht allein auf den schlichten Sachverhalt, dass die grundlegenden Bedingungen für Wohlstandsentwicklung an dem einen Ort vergleichsweise besser gewesen sein mögen als an dem anderen: milderes Klima, ausbleibende Naturkatastrophen, ein friedlicheres Gemeinwesen – vor allen Dingen aber fleißigere Arbeiter, risikofreudigere Unternehmer, geistreichere Erfinder. So einfach wird die Sache häufig dargestellt, ist sie aber in aller Regel nicht. Smith’ Verweis auf die Relativität von gesellschaftlichem Reichtum ist vielmehr im Sinne seiner Relationalität zu verstehen: Die der Wohlstandsproduktion zuträgliche Konstellation am einen Ort steht in einer erkennbaren und benennbaren Beziehung zu einer weniger wohlstandsförderlichen Konstellation andernorts, der Aufstieg der einen in einem Zusammenhang damit, dass andere das Nachsehen haben. Oder damit, so wäre an dieser Stelle wohl zu präzisieren, dass ihr Aufstieg überhaupt nur durch das Zurückbleiben der anderen ermöglicht wird.

Smith beschreibt diesen letztlich relationalen Charakter des gesellschaftlichen Wohlstands zunächst allerdings nicht am Beispiel von Nationen, sondern an dem des frühkapitalistischen Zusammenspiels von städtischer und ländlicher Entwicklung. In ihrem wirtschaftlichen Handel mit dem Umland machten sich die Stadtbewohner den Umstand günstiger Austauschbedingungen – die für sie positiven terms of trade, wie man heute sagen würde – systematisch zunutze. Zu diesen die Stadtgesellschaft begünstigenden Handelsbedingungen zählte insbesondere das Produktivitätsgefälle zwischen handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit: Mit demselben Arbeitseinsatz konnten im städtischen Handwerk deutlich wertvollere Güter hergestellt werden als in der bäuerlichen Agrarwirtschaft, beim direkten Austausch ihrer Waren befanden sich die städtischen Produzenten somit strukturell im Vorteil. Schon Smith’ Analyse zeigt, wie sich aus einem solchen asymmetrischen Verhältnis von preisgünstigen stadtgesellschaftlichen und kostenträchtigen landgesellschaftlichen »Importen« (bzw. von mehr oder weniger wertvollen »Exporten«) im Lauf der Zeit und aufgrund verschiedener sozialer Mechanismen ungleiche ökonomische Entwicklungspfade ergeben können: Die Städter sind eher in der Lage, sich nach innen zusammen- und nach außen abzuschließen, ihre Produktionstätigkeit untereinander zu koordinieren, zu regulieren und gegen äußere Konkurrenz zu schützen, sich als wirtschaftliche Interessengemeinschaft zu verfassen und den Wettbewerbsdruck auf die Zulieferer in der ländlichen Umgebung auszulagern, etwa indem man möglichst niedrige Preise für den Einkauf produktionsnotwendiger Güter zahlt. Auf die Dauer stabilisieren und potenzieren sich diese Vorteile und lassen eine Konstellation entstehen, die man als ein Gleichgewicht des Ungleichgewichts bezeichnen könnte: Die Dynamik der städtischen Wohlstandssteigerung geht Hand in Hand mit sozioökonomischer Stagnation im ländlichen Raum.

Weltsystemanalysen, wie sie seit den 1970er Jahren im Umlauf sind, deuten nun diesen lokalen Zusammenhang, also die Strukturen ungleichen Tauschs und die sich daraus ergebenden Ungleichheitsverhältnisse zwischen »Zentrum« und »Peripherie«, konsequent global – und verfolgen dieses Ungleichheitsarrangement über lange historische Zeiträume hinweg. Das moderne, kapitalistische Weltsystem entstand demnach aus der wirtschaftlichen wie politischen Krise des europäischen Feudalismus im »langen« 16. Jahrhundert, welches sich von der Erschütterung des norditalienischen Städtesystems im ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Beilegung des Dreißigjährigen Kriegs im Westfälischen Frieden von 1648 spannt. Der damit verbundene Aufstieg Europas zum politischen und ökonomischen Zentrum der damaligen Welt ist nur vor dem Hintergrund einer räumlichen Hierarchisierung zu verstehen, die sich dem ungleichen Austausch mit den – aus Sicht des Zentrums – globalen Peripherien der Zeit verdankt. Und er lässt sich nur nachvollziehen, wenn man einen Faktor berücksichtigt, der Adam Smith – und mit ihm dem gesamten klassischen wie neoklassischen ökonomischen...

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