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Zwischen Inklusion und Exklusion – Empirische Aspekte der schulischen Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen
Clemens Hillenbrand & Conny Melzer
Auf Basis der internationalen Forschungen zur inklusiven Bildung werden die empirischen Befunde für den Förderschwerpunkt Lernen in schulischer Perspektive zusammenfassend dargestellt. Insbesondere die vorliegenden Meta-Analysen finden im Überblick Beachtung, die Darstellung unterscheidet auch systematisch zwischen Längsschnitt- und Querschnittuntersuchungen. Grundlegende Forschungsergebnisse liegen sowohl zum Vergleich der verschiedenen inklusiven Settings als auch bezogen auf wirksame Interventionsansätze bei Lernschwierigkeiten vor. Die Ergebnisse relativieren die Bedeutung schulorganisatorischer Faktoren und unterstreichen die hohe Relevanz der Qualität pädagogischer Arbeit. Damit wird zugleich deutlich, welch komplexe Aufgaben sich für die Lehrkräfte in inklusiven Settings stellen und wie hoch die Bedeutung der Lehrerbildung für eine gelingende inklusive Bildung einzuschätzen ist.
»If, as many would argue, inclusion is essentially a matter of rights and entitlements, then those rights cannot be strengthened by a finding that inclusion enhances attainment and neither can they be weakened by a finding to the contrary« (Dyson/Farrell/Polat/Hutchenson/Gallanough, 2004, S. 18f.).
Vorbemerkung
Das Recht auf eine inklusive Bildung in einer inklusiven Gesellschaft stellt ein Menschenrecht dar, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft Geltung beansprucht. Wissenschaftliche, insbesondere empirische Befunde stellen dabei keine Stärkung oder Schwächung dieses Rechts dar, wie Dyson und Kollegen im Zitat ausdrücken. In diesem Kapitel werden die Ergebnisse sowohl von internationalen als auch nationalen Studien zu den Auswirkungen von Projekten inklusiver Bildungssysteme auf die Leistung, den Lernerfolg bzw. die sozialen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern rezipiert und kritisch diskutiert. Die Ergebnisse argumentieren nicht auf juristisch-menschenrechtlicher Ebene, können keine Begründung oder In-Frage-Stellung des Auftrags inklusiver Bildung sein, sondern zeigen Ansatzpunkte und Problemstellen, wie das Recht realisiert und damit der Prozess inklusiver Bildung im schulischen Alltag umgesetzt werden können. Die Berücksichtigung empirischer Befunde dient der Maximierung positiver Auswirkungen inklusiver Bildungssysteme bei gleichzeitiger Reduktion der Risiken. Für das Bildungssystem gelten auch die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu denen u. a. »non-discrimination; full and effective participation and inclusion in society; respect for difference and acceptance of persons with disabilities as part of human diversity and humanity; equality of opportunity; Accessibility« (UN-BRK, Art. 3) gezählt werden.
Bildung stellt in dieser Perspektive eine wichtige soziale Lebensaufgabe dar, die über alle Ebenen des Systems hinweg, also von der frühen Bildung bis ins hohe Erwachsenenalter hinein, diese Prinzipien wirksam zu realisieren hat – inklusive Bildung muss eine »effective education« (UN-BRK, Art. 24, (3)) verwirklichen. Der erste Weltbericht über Behinderung der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank argumentiert daher: Inklusive Bildung »is based on the right of all learners to a quality education that meets basic learning needs and enriches lives. Focusing particularly on vulnerable and marginalized groups, it seeks to develop the full potential of every individual« (World Health Organization/World Bank, 2011, S. 304).
Im Mittelpunkt des Kapitels steht die zusammenfassende Darstellung des empirischen Forschungsstands zu den Wirkungen inklusiver Bildungsprozesse im nationalen und internationalen Kontext zur Verwirklichung dieser Zielsetzungen. Dazu gehört auch die Darstellung von Vorgehensweisen für eine Realisierung inklusiver Bildung durch eine »effective education«, von evidenzbasierten Merkmalen und Ansätzen auf verschiedenen Ebenen im Kontext inklusiver Bildungssysteme und die Ableitung von Handlungsmöglichkeiten für den pädagogischen Alltag. Daraus resultieren zudem Konsequenzen für die pädagogische Professionalisierung und die Lehrerbildung, die eine Vermittlung notwendiger Kompetenzen zur Umsetzung einer qualitativ hochwertigen inklusiven Bildung verlangt.
Der vorliegende Band konzentriert sich auf Problemstellungen des Lernens in unserem Bildungssystem, die in der Fachdiskussion als »Förderschwerpunkt Lernen« (Kultusministerkonferenz, 1994; 1999), als komplexe Lernschwierigkeiten (Heimlich, 2016), scheiternde Lernprozesse im Unterricht (Möckel, 2001) oder als Lernschwierigkeiten (Gold, 2011) verstanden werden.
Nimmt man die Definition der UN-Konvention zum Ausgangspunkt (UN-BRK, Art.1), müssen solche Problemstellungen als Produkte der Interaktion zwischen individuellen Merkmalen und sozialen, hier insbesondere der unterrichtlichen, Barrieren verstanden werden. Die Interaktion, nicht die individuellen Merkmale allein, führen also zu diesen Problemlagen. Die mangelhafte Berücksichtigung individueller Merkmale im Unterrichtsprozess führt zu einem scheiternden Lernprozess. Die Klärung des Interaktionsprozesses verlangt also einerseits eine wissenschaftliche Untersuchung der Merkmale, die häufig mit scheiternden Lernprozessen verbunden sind, und zugleich die Beachtung, welche Barrieren auf Seiten des Bildungsangebots, z. B. der Schule und des Unterrichts, zu einem Scheitern beitragen. Beide Dimensionen interagieren, für eine bessere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Lernenden müssen Vorkehrungen (»accomodations«, UN-BRK, Art.2) getroffen werden, um wirksame Bildung (effective education) zu gewährleisten.
Dieser spezifische Gegenstandsbereich wird aus der Perspektive der (empirischen) Forschung zunächst näher dargestellt. Fragen eines inklusiven Bildungssystems für die Unterstützung und Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse in diesen Situationen werden international und auch national intensiv erforscht, die Ergebnisse sollen anschließend vorgetragen werden, bevor die empirischen Befunde zu wirksamen Maßnahmen in diesem Kontext dargestellt werden.
2.1 Grundlagen empirischer Forschung zum Förderschwerpunkt Lernen
Die Fragen im Kontext von Lernschwierigkeiten, die individuellen und sozialen Merkmale, die erschwerten Lernprozesse und damit die Zielgruppe von Lernenden mit dem Förderschwerpunkt Lernen werden in der internationalen Forschung intensiv untersucht. Wenn die Befunde im Folgenden dargestellt werden, muss mit Blick auf die UN-Konvention immer beachtet werden, dass diese nur eine Seite darstellen, die erst in der Interaktion mit den Barrieren, und damit den schulischen Lernbedingungen und -angeboten, zu einer Beeinträchtigung und Behinderung des Lernens führen. In den folgenden Teilen dieses Beitrags wird daher auf die hinderlichen sozialen Faktoren eingegangen, die als Barrieren das Lernen erschweren.
2.1.1 Häufigkeit
Die Frage der Häufigkeit (Prävalenz) weist einerseits auf eine hohe Stabilität hin, andererseits zeigen die Befunde hohe Variabilität (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, 162ff.). Die absolute Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, alle Formen zusammengenommen, ist seit dem Schuljahr 2000/2001 sehr konstant. Während zu Beginn des Jahrtausends, also vor der Unterzeichnung der UN-Konvention, 479.940 Schülerinnen und Schüler eine sonderpädagogische Förderung erhalten, davon knapp 60.000 (12,4 %) in allgemeinen Schulen ein integratives Bildungsangebot nutzen, werden im Schuljahr 2011/12 durch die Schulstatistik 493.200 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf registriert, von denen 138.061 (28 %) integrative Beschulungsformen nutzen. Durch den allgemeinen Schülerrückgang steigt in diesem Zeitraum bei gleichbleibenden absoluten Zahlen die relative Häufigkeit eines sonderpädagogischen Förderschwerpunkts von 5,3 % auf 6,6 %. Die Entwicklung der Zahlen im Förderschwerpunkt Lernen weist hingegen bemerkenswerte Veränderungen auf. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen stellt in Deutschland traditionell die größte Gruppe innerhalb der Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf dar. Allerdings sind die Anteile in den letzten Jahren stark rückläufig: von 258.854 (54 %) im Schuljahr 2000/2001 auf 197.356 (40 %) im Schuljahr 2012/13. Die aktuellen Statistiken der ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) zeigen für 2014 einen weiteren Rückgang auf 37,7 % aller Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung...