Inklusive Pädagogik als Herausforderung für Policy und Praxis – internationale und vergleichende Aspekte
Ilektra Spandagou (The University of Sydney)
Die Auswirkung Inklusiver Pädagogik auf Bildungssysteme weltweit in den letzten 30 Jahren ist unbestritten. Inklusive Pädagogik beeinflusst, wie Bildungssysteme und Schulen Diversität erkennen und darauf reagieren, besonders auf Schüler/innen mit Behinderungen und/oder speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf. Die Einführung von Grundsätzen und Vorgehensweisen der Inklusiven Pädagogik hat neue Möglichkeiten und Chancen für die Bildungsbeteiligung eröffnet. Diese Chancen reichen von erstmaligem Zugang zu formaler Bildung in Ländern mit neu aufkommenden schulischen Maßnahmen für Schüler/innen mit Behinderungen bis zu gleichberechtigter Teilnahme an allen Bildungsstufen.
Gleichzeitig wird die Inklusive Pädagogik für eine Reihe von Unzulänglichkeiten kritisiert; unter anderem dafür, dass sie unrealistische Erwartungen an Schulen setze und ihre Versprechen nicht einhalte. Inklusive Pädagogik ist weder einfach noch geradlinig und bedeutet daher eine Herausforderung in zweifacher Hinsicht. Einerseits stellt sie existierende Schulgestaltungen und Vorgehensweisen in Frage, indem sie demonstriert, wie inadäquat diese für die Versorgung aller Schüler/innen sind, und andererseits ist sie ein herausforderndes Unterfangen. Dieser Buchbeitrag erörtert einige dieser Herausforderungen in einem internationalen, vergleichenden Rahmen.
1 Inklusive Pädagogik verstehen
Einer der Hauptkritikpunkte an Inklusiver Pädagogik ist, dass es keine allgemein anerkannte Definition gibt. Das kann frustrierend sein, z. B. für Lehrkräfte in Ausbildung, die sich zum ersten Mal dem Thema nähern und wissen wollen, was genau Inklusive Pädagogik ist und wie man sie umsetzt. Aber darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Der Grund dafür ist, dass die Inklusive Pädagogik von Anfang an verschiedene Gruppen von Eltern, Befürworter/innen, Lehrer/innen, Akademiker/innen etc. zusammengebracht hat, die alle besorgt darüber waren, in welchem Ausmaß das Erziehungssystem es verabsäumte, Schüler/innen zu inkludieren. Während es ein gemeinsames Endziel gab – nämlich Erziehungssysteme inklusiver zu machen –, unterschieden sie sich in ihrer Vorstellung vom Endziel und darin, auf welche Schüler/innengruppen sie sich konzentrierten. Um die Vielfalt der Inklusiven Pädagogik zu verstehen, müssen wir daher ihre Anfänge betrachten (Armstrong, Armstrong & Spandagou, 2011).
Inklusion und Inklusive Pädagogik sind relativ neue Konzepte der Erziehung. Sie begannen vor allem in der englischsprachigen Literatur der späten 1980er und frühen 1990er Jahre aufzutauchen. Frühe Bezugnahmen auf Inklusion waren als Kritik an der Integration und ihrer Begrenzungen formuliert. Integrationsprogramme in einer Reihe von Ländern ermöglichten zum ersten Mal, dass Schüler/innen mit Behinderung in Regelschulen und -klassen unterrichtet werden. Volle Integration wurde jedoch vorwiegend Schüler/innen ermöglicht, die man als für die Integration »geeignet« betrachtete, anstatt vom Grundsatz auszugehen, dass alle Schüler/innen ein Recht auf Bildung haben. In den Vereinigten Staaten von Amerika war Inklusion und vor allem »volle Inklusion« ein Aufruf, Modelle der Schulorganisation zu finden, die eine Inklusion aller Schüler/innen mit Behinderung in den Unterricht ermöglichen könnten, einschließlich derer mit schweren Behinderungen. Ähnliche Überlegungen im Vereinigten Königreich zielten darauf ab, die Schule durch Veränderung unter der Perspektive der Effektivitätssteigerung inklusiver zu machen. Zur selben Zeit bildete ein wichtiger Einflussfaktor für Inklusion die Behindertenbewegung, die auf dem sozialen Modell von Behinderung und ihrer Forderung nach gleicher und voller Teilhabe für Menschen mit Behinderung in allen Aspekten der Gesellschaft basierte. Das soziale Modell von Behinderung, das Behinderung als ein soziales Konstrukt ansieht, betrachtet Erziehung eine mögliche Form, wie behinderte Menschen in der Geschichte unterdrückt wurden. Damit in Verbindung stehen ebenso frühere Schriften über Inklusion, die darauf abzielten, sich von der Fokussierung auf bestimmte Gruppen von Schüler/innen, darunter Schüler/innen mit einer Behinderung, wegzubewegen, um das Bildungssystem zu reformieren und dessen inhärente Funktion der Exklusion. Dies beinhaltet, dass Massenbildungssysteme so organisiert sind, dass sie bildungs- und soziale Ungleichheiten reproduzieren, und zwar mit der Rechtfertigung individueller Besonderheiten wie Behinderung oder speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf (für einen detaillierteren Überblick über die Ursprünge der Inklusiven Pädagogik siehe A. C. Armstrong, Armstrong & Spandagou, 2010). Es ist wichtig festzuhalten, dass in anderen Ländern zur selben Zeit ähnliche Bildungsdebatten geführt wurden. Als sich ein internationaler Diskurs zur Inklusiven Pädagogik zu entwickeln begann, war die englischsprachige Literatur weitgehend verfügbar und daher besonders einflussreich.
So wie Inklusive Pädagogik von verschiedenen Richtungen vorangetrieben wurde, hatte sie auch verschiedene Schwerpunkte. Für manche bezieht sich Inklusive Pädagogik auf Schüler/innen mit Behinderung, für andere auf die breiter gestreute Kategorie von Schüler/innen mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf, und für wieder andere liegt die Betonung auf » allen« Schüler/innen. Dies beinhaltet eine Reihe von Implikationen, wobei eine wesentliche davon die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Etikett darstellt. Für die Befürworter/innen der Inklusiven Pädagogik, denen es darum geht, das Recht auf eine inklusive Bildung für Schüler/innen mit Behinderung zu fördern, ist es unerlässlich, sich auf die Barrieren zu konzentrieren, welche diese Schüler/innen erfahren. Das bedeutet, dass klare Grundsätze gesetzlich verankert werden müssen, um diese Barrieren ausfindig zu machen und durch angemessene Einrichtungen und nötige Anpassungen zu beseitigen. Die Sorge ist, dass, diese Schüler/innen, insbesondere solche mit leichteren Behinderungen, bei Bildungsentscheidungen weder gesehen noch berücksichtigt werden und auch keine Unterstützung verfügbar ist, wenn diese benötigt wird. Zum Beispiel brauchen blinde Schüler/innen die Bereitstellung der nötigen Technologien und Materialien, gebärdensprachige taube Schüler/innen Übersetzer/innen und so weiter. Die Verfügbarkeit dieser Unterstützung ist in vielen Ländern das Resultat eines langen Ringens von Menschen mit Behinderung.
Jene allerdings, die für die Inklusion einer größeren Gruppe von Schüler/innen eintreten, die gewöhnlich als Schüler/innen mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf beschrieben wird, argumentieren, dass die Ressourcen überbeansprucht und ungenügend sind. Da es nun vermehrt unterschiedliche Labels gibt, die Schüler/innen und die Art, wie sie lernen, sich verhalten und schlichtweg wie sie sind, beschreiben, machen auch Familien und Interessengruppen vermehrt Druck für zusätzliche Ressourcen. Ein Beispiel ist Autismus: In einigen Ländern gibt es einen substantiellen Anstieg von Menschen mit einer Autismus-Diagnose, und zwar in einem Ausmaß, das als »Epidemie« beschrieben wird. Zum Beispiel wird geschätzt, dass in Australien, laut der vom Australischen Statistischen Amt (Australian Bureau of Statistics) in Auftrag gegebenen Studie »2012 Behinderung, Altern und Pfleger/innen« (2012 Survey of Disability, Ageing and Carers), bei 115.400 Menschen (0,5 % der Bevölkerung) Autismus vorliegt, was einem Anstieg von 79 % gegenüber den geschätzten 64.000 Autist/innen im Jahr 2009 entspricht (Australian Bureau of Statistics, 2014). Die große Mehrheit dieser Population ist im Schulalter, davon im Jahr 2012 geschätzte 33.000 Kinder im Alter von 5–9 Jahren und 26.400 Kinder im Alter von 10–14 Jahren. Dies entspricht jeweils 28,6 % und 22,9 % der Gesamtpopulation von Autist/innen. Während die Sichtbarkeit und Bereitstellung von Ressourcen und die Unterstützung für die Schüler/innen von Nutzen sind, gibt es auch Bedenken, dass sie Nachteile bringen, da Visibilität zu Abstempelung und in weiterer Folge zu verschiedenen Formen der Exklusion führen kann. Für diejenigen also, die auf inklusive Bildung für alle Schüler/innen Wert legen, ist Etikettierung problematisch, weil es die Schüler/innen und ihre Diagnose in den Mittelpunkt stellt und nicht die Richtungsentscheidungen...