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E-Book

Von Innen und von Außen

Erinnerungen an depressive Zeiten

AutorKinko Tsuji, Stefan C. Müller
VerlagTWENTYSIX
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783740754778
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Berichtet wird über einen Erkrankungs- und Genesungsweg während einer Depression aus der Betroffenen-Perspektive (von innen) in einer Odyssee, die durch psychiatrische Kliniken in ganz Deutschland führt. Die Frau des Betroffenen beobachtet ihren psychisch erkrankten Mann (von außen) und kommentiert die vielfältigen Ereignisse. Das Autorenpaar möchte Erlebnisse und Probleme offen legen und die Leser anregen, darüber nachzudenken: Was können und sollen wir tun, um Patienten und Angehörige, die mit solchen Erlebnissen konfrontiert werden, besser zu verstehen und um Schlimmes zu vermeiden?

Stefan C. Müller ist Professor der Physik. Er ist in den 80er Jahren nach Dortmund gekommen und war dort viele Jahre hindurch in der naturwissenschaftlichen Forschung tätig. Dort hat er seine zukünftige Frau Kinko kennengelernt. Er trat seine Professur im Jahr 1995 an der Universität Magdeburg an und er hatte eine große Forschungsabteilung. Heute ist er als emeritierter Professor immer noch aktiv in Forschung und Lehre.

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Leseprobe

2. Der Weg in die Krankheit (Herbst 2004)


Stefan:

In diesen Monaten vor Ende 2004 ergaben sich vermehrt seltsame Erfahrungen im täglichen Leben. Sicherlich machte ich insbesondere auf meine Familie einen zunehmend unkonzentrierten Eindruck, obwohl ich eigentlich noch den üblichen Tagesverlauf absolvierte, also auch meinen beruflichen Verpflichtungen nachging.

Aber meist kleinere, dann bisweilen einschneidende Ereignisse lassen doch aufhorchen.

Ich wachte häufig des Nachts auf und lief dann, insbesondere in unserer Magdeburger Wohnung unruhig hin und her, wusch mir dabei dauernd die Hände. Verbunden mit dieser Unruhe war eine deutliche Gewichtsabnahme, wie ich sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte.

Einmal suchte ich spät abends in der dunklen, Magdeburger Wohnung nach einem schwarzen Hemd, das ich gerade zum Trocknen aufgehängt hatte. Es war offenbar verschwunden, und ich hegte den Verdacht, es habe jemand meine Wohnung betreten und das Hemd mitgenommen. Nein, genauer gesagt war ich davon überzeugt, dass sich diese Person noch in der (einstöckigen, mittelgroßen) Wohnung befände. Vermutlich war es einer dieser Verschwinde-Künstler, die sich auch auf engstem Raum praktisch unsichtbar machen können, natürlich mit schwarzer Kleidung und Maske getarnt. Ich forstete die wenigen Zimmer und den Flur nochmals durch – ohne geringste Indizien zu finden. Also schloss ich, dass der unerwünschte Besucher über die Fenster von einem zum anderen Zimmer gelangt sein könnte. Nur dass alle Fenster von innen verschlossen waren. Also auch so nicht! Mir blieb der Vorgang unerklärlich, er trug sicherlich nicht zu meiner inneren Ruhe bei. (Ich fand das Hemd irgendwann am nächsten Morgen. Es war im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt.)

Im beruflichen Alltag machte ich mir in dieser Zeit mehr und mehr sorgenvolle Gedanken über all die Termine, die ich nicht rechtzeitig wahrgenommen hatte bzw. würde wahrnehmen können. In liegengelassener Korrespondenz hatte ich nicht auf ein großzügiges Angebot eines Kollegen aus Bayreuth reagiert, mir eine wichtige Zeitschrift per Vertrag quasi kostenlos zu überlassen. Ein Ingenieur-Professor wartete auf meine Zusage hinsichtlich einer substantiellen Zusammenarbeit, die ich als Sprecher eines Forschungsschwerpunkts zu geben hatte. Zu meinen Pflichten in dieser Position gehörte auch die Planung eines Sonderforschungsbereichs, auf die viele Schwerpunktsmitglieder warteten. Weiterhin hatte ich einigen Mitgliedern unseres Musikinstituts versprochen, Protestaktionen gegen Schließungspläne der Regierung zu unterstützen oder sogar im universitären Bereich zu organisieren. Mit dem Leiter der Augenklinik hatte ich die Betreuung einer gemeinsamen Stelle auf der Grundlage einer Kooperation besprochen. In Gremiensitzungen über Forschung und Lehre, an denen ich als Prodekan der Fakultät teilzunehmen hatte, ließ ich mich immer häufiger vertreten. Und von mehreren überfälligen Gutachten möchte ich erst gar nicht sprechen.

Eigentlich gewöhnt man sich notwendigerweise daran, dass bei der üblichen Terminflut dieser oder jener Termin verschoben werden muss. Also regelt man das mit den „Bittstellern“ und versucht, einen Teil davon zu delegieren. Das hatte ich über viele Jahre zu beherrschen gelernt. Und nun schlug diese durchaus nicht so ungewöhnliche Situation wie ein Wogenmeer über mir zusammen. Ich sprach dann sogar mit dem Dekan über gewisse Verzögerungen, die mich belasten und recht fertig machen würden.

Konsequenz: mir wurde Urlaub bis Beginn Dezember empfohlen, den ich wider eigene Überzeugung annahm. Ein wenig half es mir, als mich meine Sekretärin in die Arme nahm und sagte: „Aber Herr Professor, Sie haben mich so oft unterstützt, wenn ich aus Krankheitsgründen zu Hause bleiben musste – jetzt sind Sie auch mal dran“. Somit entfloh ich dem stressigen Tagesgeschäft an der Universität und hoffte, in Dortmund die Ruhe und Souveränität wiederzufinden, die mir abhandengekommen war.

Kinko:

Im Oktober 2004 war Stefan in Salzwedel zum Seminar, dann flog er nach Jerewan in Armenien wegen einer Zusammenarbeit, machte auf der Rückreise Zwischenstopp in Berlin wegen einer Jubiläumsveranstaltung und fuhr noch nachts nach Heidelberg zu einer großen Tagung. Das war innerhalb von zwei Wochen.

Ich arbeite ab und zu mit einer Hochgeschwindigkeits-Kamera. Im Sommer und Herbst 2004 machte ich einige sehr interessante Aufnahmen von der Oberfläche eines sich drehenden Wasservolumens. Es ergaben sich Muster wie Hexagone, Streifen und andere. Ich wollte über diese Strukturen mit Stefan diskutieren, weil Strukturbildung sein Fachgebiet ist. Aber er interessierte sich gar nicht dafür. Als ich ein besonders hübsches Bild zeigte, sagte er nur halb-herzig: „Schön“. Und das war alles. Normalerweise greift er solche Sachen sofort auf und bietet eine Zusammenarbeit an. Hatte er seine wissenschaftliche Neugier verloren? Neugier zu verlieren, ist für einen Wissenschaftler fatal.

Das hat mich wahrhaftig sehr beunruhigt. Stefan ist richtig krank, Stefan leidet unter Depressionen, dachte ich. Was soll ich machen? Ich kannte keine Psychiater vor Ort; ich überlegte, warum also nicht die beste Möglichkeit wahrnehmen? Ich rief direkt den Direktor von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Magdeburg an. Dann sprach ich nicht für Stefan, sondern für mich einen Termin in etwa zwei Wochen ab.

Also fuhr ich Mitte Oktober nach Magdeburg. Im Vorzimmer des Professors war die Sekretärin sehr nett zu mir. Vielleicht hat sie gedacht, dass ich krank bin. Ich erzählte dem Professor meine Gedanken und Sorgen über Stefan. Der Professor fragte mich, ob Stefan noch seine Vorlesung macht. “Ja, gerade jetzt hier in medizinische Fakultät.“ „Dann kann es nicht so schlimm sein. Auf jeden Fall muss er selber hierher kommen.“

Erstaunlicherweise ohne Protest rief Stefan den Professor an und vereinbarte mit ihm einen Termin. In den folgenden zwei Wochen verlor er weiter an Gewicht. Er erzählte über sein verschwundenes und wiedergefundenes Hemd und über den Phantom-Besucher, der durch die Fenster seiner Wohnung kam. Deshalb hatte ich solche Angst: ob er sich bis zu diesem Termin unter Kontrolle würde halten können?

Am 4. November waren Stefan und ich bei dem Professor. Gott sei Dank! Es war inzwischen nichts passiert. Ich wartete fast eine Stunde im Wartezimmer, bis auch ich gerufen wurde. Der Professor sagte, dass Stefan eine leichte Depression habe, und verschrieb ein Medikament, Zoloft, und zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit. Stefan erhielt den nächsten Termin in zwei Wochen. Seine Frage an den Professor war: „Darf ich zu einer Konferenz nach Chile und auf die Osterinsel fliegen?“ „Fragen Sie Ihren Bauch“, lautete die Empfehlung des Professors.

Am gleichen Abend erzählte Stefan, dass er einen Termin für eine Stellenbewerbung an der Universität Münster nicht beachtet hatte, was ihm gänzlich unverständlich und als katastrophale Unterlassung erschien.

Beim nächsten Treffen mit dem Professor bekam er ein anderes Medikament „Remergil“, weil „Zoloft“ ihn unruhig machte. Die Arbeitsunfähigkeit wurde verlängert.

Ende November 2004 begleitete ich Stefan wieder nach Magdeburg, da er einen Termin für die Sprechstunde mit dem Professor und einen Termin für ein MRT hatte. Die Tomographie zeigte einige Folgeerscheinungen wegen länger andauerndem, zu hohem Blutdruck. Stefan telefonierte mit seinem Hausarzt wegen der Möglichkeit, die Reise nach Chile /Osterinsel zu unternehmen, und zwar mit erhöhter Medikation. Aber schließlich sagte er das Südamerika-Unternehmen ab. Während dieser Zeit äußerte er oft: Die Polizei kommt, um mich festzunehmen, oder: wir werden arm, oder: es gibt ein Disziplinarverfahren gegen mich.

Der Hausarzt verschrieb Stefan eine ziemlich hohe Dosis gegen hohen Blutdruck. Stefan nahm weiteren Urlaub, um einfach zu Hause in Dortmund zu bleiben – bisher war das auch noch nie passiert.

Stefan:

Nun, aus den wenigen Tagen des bis zum Beginn der Adventszeit 2004 verordneten Urlaubs wurden dann viele Wochen, bevor ich an meine Arbeitsstätte zurückkehrte. Denn immer mehr machte sich in mir ein Gefühl des Bedroht Seins und der Angst vor Geschehnissen um mich herum breit, die mit meinen Sinnen kaum, aber eben doch ein wenig wahrgenommen wurden. Ich verbrachte die ersten Tage überwiegend in unserem Dortmunder Haus und verließ diesen „Schutzwall“ nur selten. Ich war nicht mehr sicher, ob ich gut genug zu meinem lieben Auto „SAAB“ war, da Folgendes passiert war: als ich mit dem SAAB zu den Müllcontainern fahren wollte, traf ich beim ungeschickten Wenden auf eine Bordsteinkante. Durch das Holpern auf dem Rückweg musste ich feststellen, dass ich mir einen platten Vorderreifen eingehandelt hatte. Natürlich war ich verärgert, denn da hatte ich noch vor, in der kommenden Woche meine Fahrten nach Magdeburg wieder aufzunehmen. Schließlich hatte ich dort Termine. Aber ich traute mir die notwendige Reparatur mit Reifenwechsel und Transfer zur Werkstatt nicht zu. Ein ungewohntes Gefühl der Hilflosigkeit hatte mich beschlichen. Kinko bat einem netten und praktisch veranlagten Nachbarn um Hilfe, und er machte das Gefährt binnen zweier Tage wieder flott.

Bei meinen unruhigen Streifzügen durch unser Haus hielt ich immer wieder vor diversen Fenstern an, um sehr genau zu beobachteten, was sich da draußen befand und was sich dort abspielte. Mir fielen die schiefen (d.h. nicht rechteckigen) Fenster zweier Häuser in der Nachbarschaft auf, die ich als völlig...

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