Sonnenschein ist der Gesundheit förderlicher
als Pillen und Elixier,
und Reisen in fremde Länder sind ein
mentales Tonikum:
sie mögen die Taschen leeren,
doch sie nähren den Geist.
Ethel Brilliana Tweedie
DAS LEBEN DER ETHEL B. TWEEDIE: REGELN BEFOLGEN UND (ZUGLEICH) GEGEN SIE VERSTOSSEN
Eine Reise von England nach Island ist 1886 ein Abenteuer – zumal, wenn die Reisenden junge Frauen wie Ethel und ihre Freundin sind. Doch selbst für sie war es damals kein großes Abenteuer mehr und schon gar kein Wagnis, denn sie reisten in Gesellschaft von drei jungen Männern. Aber eine solche Unternehmung war gerade ungewöhnlich genug, um aufregend zu sein und in der Londoner High Society für Aufsehen zu sorgen: Ferien in Island, das war etwas ganz Neues und darum sehr chic.
So steht denn am Anfang der Reise die schwerwiegende Frage, wohin die kleine Freundesschar nach der turbulenten Londoner Saison fahren könnte. Selbstverständlich würden sie verreisen, alle verreisten im Herbst, doch die üblichen Ziele schienen den jungen Wilden sterbenslangweilig. Sollten doch die gesetzten Damen und Herren wie jedes Jahr in die Schweiz oder nach Deutschland fahren, die vierundzwanzig Jahre alte Ethel Brilliana Harley war schon oft auf dem Kontinent gewesen, sie hatte sogar in Deutschland die Schule besucht. Sie, ihr Bruder und ihre Freunde wollten etwas mehr Aufregung.
Dass Ethel den scherzhaft gemeinten Vorschlag einer Island-Tour aufgriff, beweist Mut, Unternehmungsgeist und leises Aufbegehren, wie sie ihn in die Tat umsetzt, zeigt, dass sie die Konventionen und Verhaltensregeln ihrer Herkunft keine Sekunde in Frage stellt: Eine junge Frau ihres Standes verbringt den Herbst keinesfalls in London, aber sie will nicht mehr nach Bad Homburg oder Sils Maria, schon gar nicht in Begleitung ihrer Eltern. Sie will praktisch ans Ende der Welt, aber als Unverheiratete selbstverständlich nicht allein, sondern in sittsamer Begleitung ihres Bruders. Doch außer ihm und einer Freundin sind noch zwei junge, ledige Männer dabei, mit denen sie nicht verwandt ist. Das war durchaus ein wenig risqué. Und dann war da noch die skandalöse Sache mit dem Reiten, auf die wir später zu sprechen kommen werden. Die erstaunliche Kunst, vorgegebene Regeln strikt zu befolgen und zugleich gegen sie zu verstoßen, sollte zu einem Kennzeichen ihres Lebens werden.
Über ihre Reisegefährten, die beiden Männer sowie die offenbar gleichaltrige Freundin, erfahren wir erstaunlicherweise so gut wie nichts. Dabei war vor allem der »A. L. T.« genannte Mitreisende nicht irgendwer: Alec Leslie Tweedie, dreizehn Jahre älter als Ethel, hatte ihr seit Jahren unermüdlich Heiratsanträge gemacht, aber sie wollte ihn nicht. So war sie verständlicherweise außer sich vor Empörung, als er bei Beginn der Reise unangemeldet am Kai in Leith auftauchte, um sich – gegen Ethels Willen – der Gruppe anzuschließen. Sie drohte, nicht an Bord zu gehen, falls er mitführe, er gab sein Ehrenwort, sein Werben für die Dauer der Reise auszusetzen. Wie immer das konkret ausgesehen haben mag – sie schreibt: »Er war immer da, wenn ich ihn da haben wollte, und nie, wenn ich das nicht wollte«: Sechs Wochen nach der Rückkehr aus Island waren sie verlobt, weitere sechs Wochen später verheiratet. Ihre dreimonatige Hochzeitsreise führte sie, konventioneller war es damals kaum möglich, durch Frankreich, die Schweiz, Italien und Deutschland, danach war Ethel, wie sie viel Jahre später schrieb, eine »beschützte, verwöhnte, gut gekleidete junge Ehefrau, die nur dem Vergnügen lebte«.
Das war nun nichts Neues. Sie war auch vorher »beschützt, verwöhnt und gut gekleidet« gewesen, denn sie wurde 1862 mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in einer Welt, die man sich vermutlich wie eine großbürgerliche Variante von Downton Abbeyvorstellen darf: Sehr wohlhabend, sehr formell, sehr gebildet, sehr elegant. 1906 erinnerte sich eine ehemalige Lehrerin an die junge Ethel: »Ich dachte damals, dass Du Dich nur für den Sitz der entzückenden Schürzen über Deinen schwarzen Seidenkleidern interessiertest, mit engem Mieder und winziger Taille. Wie alt warst Du? – 14 – 16, glaube ich, und die wunderbarste Figur, die ich je gesehen habe. Überaus unartig, unaufmerksam und eitel (dachte ich), mit sehr kleinen Füßen in winzigen, eleganten Schuhen unter dem kurzen Rock des schwarzen Seidenkleids.« Die »wunderbare Figur« verdankte sich auch dem Umstand, dass sie mit ihren ein Meter zweiundsiebzig für eine Frau außerordentlich groß und zudem sehr sportlich war. Sie ritt seit ihrem siebten Lebensjahr allmorgendlich mit ihrem Vater durch den Hyde Park und lief als Jungverheiratete in Norwegen mit großem Vergnügen Ski, da wusste in London noch kein Mensch, was Skier waren.
In ihrem Elternhaus verkehrten neben der Londoner Gesellschaft auch namhafte ausländische Besucher. Ethels Patenonkel beispielsweise war der deutsche Chemiker Justus von Liebig, »der seine berühmte Suppe erfand, um das Leben meiner Mutter zu retten«. Was nach ziemlicher Angabe klingt, ist (ziemlich) wahr. 1853 war »Emma Muspratt, die Tochter eines englischen Freundes, bei von Liebig in München zu Besuch und erkrankte an schwerem Typhus. Sie wurde täglich schwach und schwächer, da sie nicht in der Lage war, Nahrung aufzunehmen.
Liebig wusste, dass es bei dieser Krankheit kaum eine geeignete normale Nahrung gab, weil der Patient das Essen im Darm nicht verarbeiten konnte. In dieser Situation kam ihm der Gedanke, er könne Emma vielleicht mit einer Fleischbrühe stärken, wie er sie vor Jahren bei der Untersuchung des Fleisches hergestellt und beschrieben hatte. So nahm er frisches Hühnerfleisch, hackte es klein und legte es acht bis zwölf Stunden in stark verdünnte Salzsäure. Dann filtrierte er das Fleisch ab, neutralisierte die Flüssigkeit und flößte diese der Kranken langsam ein. Sein Bemühen hatte vollen Erfolg. Emma wurde von Tag zu Tag kräftiger und nach zwei Wochen wieder gesund.«
Diese Emma heiratete den erfolgreichen englischen Mediziner George Harley, der in Gießen bei von Liebig studiert hatte. Das Paar bekam drei Söhne und zwei Töchter. Für Ethel, die ältere der beiden, hatte der Vater offenbar konkrete Träume, denn er gab ihr den Namen Brilliana, nach einer im Jahr 1598 geborenen Ahnin, der »einzigen Frau namens Harley, die mit ihrem Schreiben den Ruhm der Familie mehrte. Schreibende Männer hatten wir im Übermaß, aber nur eine Frau. Es erstaunt also nicht, dass ich wollte, dass unsere Tochter den Namen weiterführt.«
Diesen Erwartungen schien Ethel nicht entsprechen zu wollen. Sie besuchte zwar das Queen’s College (das erste College, das Mädchen besuchen durften), und ging auch in Deutschland zur Schule, aber sie war eine schlechte Schülerin, die sich nur für Literatur und Geschichte interessierte und gern zeichnete und malte (was sie ihr Leben lang tun sollte, später begann sie auch, ernsthaft zu fotografieren). Es scheint, als habe sie dem Ideal ihrer Zeit von einem wohlerzogenen jungen Mädchen ohne ernsthafte intellektuelle Interessen perfekt entsprochen, und doch sagte sie später, sie habe schon als Kind eine »Arbeiterin« in sich gespürt, die »vage versuchte, aus dem Kokon der schützenden Konventionen zu schlüpfen; etwas in mir suchte ein Ventil, ein Mittel des Selbstausdrucks.« Dieses Ventil wurde das Schreiben.
1888 machte sie aus den Tagebuchnotizen der Islandreise ein Buch, das sie mit eigenen Zeichnungen illustrierte. Es wurde ein Erfolg und erlebte mehrere Auflagen. 1896, im neunten Jahr ihrer Ehe, hatte sie bereits eine Reihe Zeitungsartikel sowie fünf Bücher veröffentlicht, und zwar zu so unterschiedlichen Themen wie die Oberammergauer Passionsspiele, die Butterherstellung in England und Dänemark und eine Winterreise nach Norwegen.
1896 war auch das Jahr, in dem ihr beschütztes und luxuriöses Leben abrupt endete: Alec Tweedies Firma geriet aufgrund unglücklicher Umstände in finanzielle Schwierigkeiten und obwohl er und Ethel sofort drastische Sparmaßnahmen ergriffen – drei Dienstboten wurden entlassen, Kutsche und Pferde verkauft –, verlor er sein gesamtes Vermögen, ein halbes Jahr später starb er im Schlaf.
Kurz darauf starb auch ihr Vater. Unklar ist, ob von den fünf Geschwistern nur sie nichts bekam oder ob es nichts mehr zu erben gab, sicher ist, dass sie leer ausging. Mit vierunddreißig Jahren war sie plötzlich völlig mittellos und musste umgehend einen Weg finden, sich und ihre Söhne zu ernähren, die damals sechs und acht Jahre alt waren.
Bislang hatte sie die Einkünfte aus ihren Veröffentlichungen gespendet, jetzt wurde das Schreiben von einem halbernsten Zeitvertreib zu ihrer einzigen Erwerbsquelle, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich nie wieder in die (vermeintliche) Sicherheit und...