6 Digitales Taschengeld
Sie sind überall! Diese kleinen bunten Verlockungen, an denen Kinder einfach nicht vorbeigehen können. Schokolade neben der Supermarktkasse, Stofftierchen in der Tankstelle, Kinderhelden an Kettchen im Kleidungsgeschäft oder auf Müsliriegeln im Bio-Laden. Selbst in Apotheken warten in Kinderaugenhöhe bunte Unnützlichkeiten wie Meerestiere mit Badeschaum. Der Nachwuchs reagiert darauf je nach Alter und Erschöpfungszustand mit einer breiten Palette von Bitten: Vom freundlich bettelnden »Kaufst du mir das?« bis hin zum auf dem Boden liegend gebrüllten »Meine!«
Impulsware in der Greifzone nennen Marketing-Experten diese Umsatzbringer im Kassenbereich. Oder Quengelware, weil sie Eltern entweder Geld oder Nerven kosten. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre ziehen Verbraucherschützer gegen diese »Nötigung« ins Feld.22 2015 stimmte der Bundestag für einen Koalitionsantrag zur »Stärkung der gesunden Ernährung«, in dem die Regierung aufgefordert wird, »darauf hinzuwirken, dass ›quengelfreie‹ (süßigkeitenfreie) Kassen in Supermärkten angeboten werden«.23 Dass es dazu flächendeckend kommen wird, ist trotzdem unwahrscheinlich. Die Kassenzone gehört zu den umsatzstärksten Bereichen in Läden.
Als meine Dreijährige dort abgekämpft auf dem Boden hockend um ein Überraschungsei weinte und ich vor Wut fast platzte, hätte ich jeden Quengelkassen-Sturm mitgemacht. Inzwischen sehe ich sie eher als Trainingsgelände. Für mich und meine Tochter. Dieser Sinneswandel begann damit, dass ich Maria beim Einkaufen zehn Cent gab – »ein Geld«.
Wenn sie an der Kasse eine Süßigkeit begehrte, erklärte ich ihr, dass sie dafür fünf Geld bräuchte. Für ein Geld würde sie aber schon ein Brötchen bekommen. Plötzlich war die Verlockung an der Kasse keine Entscheidung mehr zwischen böser Mutti und guter Mutti, sondern zwischen Brötchen und Süßigkeit. Maria entschied sich dafür, ihre Münze aufzuheben und zu sammeln, bis sie fünf Geld zusammen hätte. Ab diesem Moment wurde gemeinsames Einkaufen um vieles entspannter.
Deshalb entschieden wir uns schon zu Kindergartenzeiten dafür, Maria regelmäßig 50 Cent Taschengeld zu geben. Wir sagten ihr, dass wir weiterhin Bastelsachen und Bücher kaufen würden, andere Begehrlichkeiten aber von ihrem Taschengeld abgedeckt werden müssten. Als Maria ihren ersten Euro zusammen hatte, wollte sie einkaufen gehen. Unglücklicherweise gibt es im Spielzeugladen wirklich verdammt wenige Artikel in der unteren Preisklasse. Deshalb war der erste Shopping-Ausflug mit ihrem Geld für meine Tochter sehr unbefriedigend. Nachdem sie mir eine Stunde Spielzeug angeschleppt hatte und ich ihr jedes Mal die Wochen oder Monate vorgerechnet hatte, die sie dafür sammeln müsste, waren wir beide frustriert. Das Projekt Taschengeld stand auf der Kippe.
Um die Situation zu retten, schlug ich einen Ortswechsel vor und wir gingen zum Ein-Euro-Laden an der Ecke. Dort gab es ein ganzes Regal mit Krimskrams, den Maria sich leisten konnte. Nach einer schier endlosen Analyse des Angebots schwankte sie minutenlang zwischen einem Knicklicht und einem Schweinchen aus Plastik. Sie entschied sich für ersteres, zahlte an der Kasse und verließ, ein kleines Stück gewachsen, das Geschäft.
Allerdings machte ich auf dem Heimweg einen entscheidenden Fehler: Statt meinem Kind die Freude über ihre ersparte Errungenschaft zu gönnen, kam die besorgte Mutti in mir durch. Ich meinte zu meiner Tochter, dass sie das Knicklicht am nächsten Tag unbedingt in den Müll werfen müsste, weil da Chemie drin war. Den Rest des Weges bereute mein Kind weinend seine Wahl und wollte das angebrochene Knicklicht gegen das Plastik-Tierchen tauschen. Ich war kurz davor, Maria noch einen Euro zu geben. Einfach, um meine Ruhe zu haben. Andererseits würde ich damit Leitplanken einreißen, die gerade erst aufgestellt worden waren. Welchen Sinn hätte das Ganze dann noch?
Am Ende des Tages hatten wir beide etwas gelernt: Meine Tochter, dass Einkaufen nicht automatisch glücklich macht. Und ich, dass ich meine Klappe zu halten und ihre Entscheidung zu akzeptieren habe. So verkniff ich mir später auch beim Kauf eines Topmodel-Ausmalheftes und verschiedener Star-Wars-Sammelkarten meinen Kommentar. Es war schließlich ihr Geld.
Als Maria ihre Ausflüge in die digitale Welt begann, standen wir wieder vor dem Quengelkassen-Problem. Ihr Kindertablet kam mit einigen vorinstallierten Spielen wie »Wo ist mein Wasser?«, bei dem man dem Krokodil Swampy Wasser in seine kaputte Dusche leiten muss. Maria war begeistert – und bekam schnell mit, dass man innerhalb des Spiels neue Figuren dazubekommen könnte. Auch gegen Geld. »Mama, guck mal, die ist doch so niedlich. Können wir die nicht holen?«, fragte sie mit großen Augen. Selbst bei Memory-, Abc- und Malspielen gab es häufig bezahlbare Erweiterungen. Und bei den Spielen auf unseren Smartphones blinkte bunte Werbung für neue Spiele dazwischen.
Mein Mann und ich überlegten, wie wir damit umgehen wollten. Sollten wir eine digitale Supernanny installieren? Inzwischen gibt es eine große Auswahl an spezieller Kinderschutzsoftware. Sie protokolliert und meldet den Suchverlauf, sperrt Webseiten, Videoplayer oder Download-Programme oder verhindert In-App-Käufe. Je mehr ich dazu recherchierte, desto weniger überzeugten mich diese Konzepte. Der in der Süddeutschen Zeitung erschienene Artikel »Wie Kinder sicher surfen« brachte es gut auf den Punkt: Um die Sperren auszuhebeln, müssten Kinder keine begabten Hacker sein. Auf der Spielwiese Internet finden sich jede Menge Erklärvideos, die Schritt für Schritt zeigen, wie Kindersperren zu umgehen sind. Auch so, dass die Eltern davon nichts mitbekommen. »So sinnvoll es also ist, etwa einen Kinderschutzfilter zu installieren, umso weniger kann man sich darauf verlassen, dass die teuer gekaufte und mühsam eingerichtete Schutzsoftware auch tatsächlich ihre Funktion erfüllt.«24
Wir entschieden uns gegen eine Extra-Kinderschutzsoftware. Auch bei unseren Tablets, die Maria mitbenutzen durfte. Nur bei den Smartphones hatten wir die In-App-Sperre aktiviert. Sonst gaben wir uns die volle Dosis Quengelkasse. Allerdings mit einer finanziellen Einschränkung: Auf keinem Gerät wird im App-Store mit Kreditkarte, PayPal oder per Telefonrechnung eingekauft oder abonniert. Stattdessen nutzen wir Guthabenkarten. Die gibt es beispielsweise im Wert von 10, 25 oder 50 Euro in Drogerien, Supermärkten oder Kaufhäusern. Der Code auf der Karte wird freigerubbelt und dann mit der jeweiligen ID verknüpft. Dann kann man damit Musik, Filme, Spiele oder Zauberkräfte herunterladen. Die Karten gibt es für Apple unter dem Namen iTunes-Guthaben oder für Android-Geräte als Google-Play-Karten. Das ist manchmal ein bisschen unbequem, wenn das Guthaben nicht reicht und man erst wieder in der analogen Welt eine neue Karte kaufen muss, bevor es ans digitale Shoppen geht. Es hat aber auf der anderen Seite den unschlagbaren Vorteil, dass Maria selbst im schlimmsten Fall nur eine sehr begrenzte Summe ausgeben könnte.
Denn wenn das Geld erst mal ausgegeben ist, ist es futsch. Auch, wenn der Käufer gar nicht geschäftsfähig ist und heimlich auf Papas Tablet unterwegs war. Dass hatte ein Kollege von mir erfahren müssen, als er dem Sohn kurz sein iPad überließ, in dem Glauben, dass der die Passwörter nicht kannte. Aber Kinder sind verdammt gute Beobachter. Und so hatte er, als ihm der Sohn das Tablet zurückgab, in einer Gratis-App ein Abo abgeschlossen. Damit wurde das Spieler-Ich, auch Avatar genannt, stärker und mächtiger. Papas Wut allerdings auch. Der Hammer war, dass es keine Möglichkeit gab, die erste Abbuchung per Telefonrechnung rückgängig zu machen. Obwohl mein Kollege mehrere nervenaufreibende Telefonate führte und das In-App-Abo sofort kündigte. Bei alledem hatte er aber Glück im Unglück und weniger als zehn Euro verloren.
Der Brite Lee Neale wurde erst in dem Moment darauf aufmerksam, dass seine Tochter spielend shoppen ging, als sein Bankkonto eingefroren wurde. Er hatte der damals Achtjährigen auf seinem iPad unter anderem die Gratisversionen des Ankleidespiels »Campus Life«, der Tiersimulation »My Horse« und die App »Schlumpfdorf« installiert. Und sie hatte sich heimlich das Passwort gemerkt, dass er beim Downloaden der Spiele eingab. Damit konnte sich das Mädchen durch In-App-Käufe Extras wie Juwelen, Münzen und Upgrades holen. Ohne zu begreifen, dass sie echtes Geld ausgab, verspielte die kleine Lily so in sechs Tagen 2000 britische Pfund. Zwar wurde Neale als ID-Inhaber per Mail über die Käufe unterrichtet, aber er las seine Mails nicht regelmäßig. Sein Problem, meinte der Konzern. Erst nachdem Lee Neale den Fall öffentlich machte und auch Zeitungen wie der Mirror25 darüber berichteten, lenkte Apple ein und erstattete ihm die 2000 Pfund zurück.
So viel Lehrgeld riskierten wir dank der Guthaben-Karten nicht mehr. Trotzdem hätte es uns ähnlich ergehen können. Denn wie der kleinen Lily fehlte auch Maria in der virtuellen Welt der reale Bezug zum Geld. Sie sah nur, dass Mama oder Papa einen Code eingaben – den sie wahrscheinlich längst auswendig kannte – und anschließend das Gewünschte auf dem Bildschirm erschien. Damit sie für virtuelle Lockenwickler, Zauberkräfte oder Landgewinne kein Vermögen ausgeben konnte, luden wir nur 10 oder 15 Euro Guthaben auf unsere IDs. Das grundsätzliche Problem war damit aber noch nicht gelöst.
Lange dachten wir...