VORWORT
AN DIE GRENZE
Wann bin ich ganz bei mir? Wann ganz bei dir? Bei uns?
Wenn ich mich von dem abwende, was mich nicht zu mir kommen lässt, was mich mir entzieht, mich mir entwendet, mich dir raubt. Ich bin bei dir, wenn ich bei mir bin, bei mir, wenn ich bei dir bin.
Wohin ich mich dann wende ist ein Ort, an dem ich »von je« her war: die Intimität. Das Wort weckt bestimmte Vorstellungen. Es hat eine theologische und philosophische Geschichte. Die Geschichte dessen, was Intimität ist, beginnt schon vor dem Auftauchen des Wortes. Meine Absicht ist nicht, diese Geschichte zu erzählen. Ich möchte über die Intimität selbst sprechen. Dass dies nicht ganz ohne ihre Geschichte möglich sein wird, ist klar. Dennoch ist es die Intimität selbst, die den folgenden Betrachtungen den Atem gibt.
Heute – vor allem in der deutschen Sprache – wird die Intimität zumeist auf ihre erotisch-sexuelle Bedeutung, auf die »Intimsphäre« reduziert. Ursprünglich hat sie kaum etwas mit diesem Begehren zu tun (falls etwas mit diesem Begehren nichts zu tun haben kann). Es leuchtet jedoch ein, warum die erotische Vereinigung intim erfahren wird. Daher werde ich auch diese Intimität berücksichtigen.
Das lateinische intimus ist der Superlativ von intra. Das Intime ist das Innerste. Intimität ist demnach die Weise, wie sich das Innerste zeigt, wie das Innerste ist. Wo ein Innen, da ein Außen. Intim ist, was sich von einem Außen unterscheidet, mehr noch, was sich von ihm abwendet.
Über die Intimität nachzudenken heißt demnach auch, über die Unterscheidung von Innen und Außen zu sprechen. Gewöhnlich wird sie, was die Intimität betrifft, mit der Unterscheidung des Privaten und Öffentlichen in Verbindung gebracht. Das Private geschieht sozusagen in meinen eigenen vier Wänden und geht nur mich und die, die mit mir leben, etwas an. Das Öffentliche dagegen betrifft uns alle. Abgesehen von dieser längst prekären Differenz sind das Private und das Intime nicht dasselbe. Zwar ist die Öffentlichkeit etwas, womit die Intimität es zu tun hat, doch das Private ist niemals das Innerste, und nicht selten ertragen wir das Private nur, weil wir unsere Intimität vor ihm bewahren.
Für die Intimität ist selbst das Private ein Außen, eine Äußerlichkeit. Doch das Innerste braucht keineswegs auf ein Außen bezogen zu sein, vor allem dann nicht, wenn dieser Bezug als eine Abhängigkeit betrachtet wird. Das Innerste ist auch denkbar als die Mitte einer Unendlichkeit, die ihrer Art gemäß kein Außen hat. Dann wäre das Innerste die Intensivierung eines Innen, das nichts anderes als das Sein überhaupt wäre. Hölderlin hat anstelle des lateinischen intimus das alte, schöne Wort »Innigkeit« verwendet und dabei häufig auch den Superlativ »das Innigste«. Entscheidend war für ihn, dass es zu diesem In-Sein keine Alternative gab. Die Intimität ist dann der Begriff für eine Einheit, die keine Alternative, sondern Intensitäten kennt.
Das Substantiv »Innigkeit« und vor allem das Adjektiv oder Adverb »innig« waren einmal weit verbreitet. Ihre Verwendung war ohne Weiteres möglich. Das hat sich geändert. Geben solche Änderungen im Sprachgebrauch auch Auskunft über bestimmte geschichtliche Veränderungen? In Bezug auf die »Innigkeit« kann man vielleicht behaupten, dass in Jahrhunderten wachsender Öffentlichkeit das Verständnis für das, was »innig« bedeutet, geschwunden ist.
Das führt auf die Atmosphäre des Mediums, auf seine eigentümliche Pathologie.1 Da ist festzustellen, dass ein scheinbarer Widerspruch herrscht. Einerseits ist eine enorme Ernüchterung aller Diskurse unübersehbar. Die großen Begriffe, die dramatischen Erzählungen werden abgelehnt. Andererseits läuft die Rühr-Maschine des Mediums, das ist Hollywood, auf Hochtouren. Wo man für sich selbst die Affektivität des Lebens marginalisiert und an der Institution einer im Grunde liberalen, daher nicht angreifbaren Vernunft ernüchternd verpuffen lässt, liebt man es, sich im Dunkel medialer Zerstreuung von dem scheinbar tiefen Seins-Schmerz eines Terrence Malick oder eines Alejandro González Iñárritu zeitweise angehen zu lassen. So wird die Intimität privatisiert und in ihrer Bedeutung gänzlich verkannt.
Ich möchte die Innen/Außen-Unterscheidung anerkennen. Sie hat eine gewisse Plausibilität, selbst wenn sie viele Probleme aufwirft und im Grunde dazu da ist, verneint zu werden. Wie plausibel sie jedoch ist, lässt sich an der ersten vorläufigen Bestimmung der Intimität, sie sei das »Gespräch der Seele mit sich selbst« (Platon), ablesen. Intimität – ein Gespräch, das ich mit mir selbst führen kann. Sprechend bin ich stets einerseits redend, andererseits hörend. Ich kann nur sprechen, indem ich höre und hören, indem ich spreche.
Was ich höre, ist aber nicht einfach meine Stimme, jedenfalls nicht die, die andere hören (das bemerken wir, wenn wir unsere Stimme von einem neutralen Abspielgerät vernehmen). Es ist ein Stimme, die sich mit meiner inneren Stimme mischt. Diese höre ich auch, wenn ich nicht mit anderen spreche. Welche Stimme ist aber die, die ich notwendig hören muss, um zu sprechen? Die äußere oder innere? Oder geht es um beide? Oder sind beide in Wahrheit eine? Doch wahrscheinlich geht es darum gar nicht. Vielmehr geht es um eine Differenz zwischen mir und mir selbst und um die daraus entspringende Möglichkeit, mich selbst zu fühlen: Selbstaffektion. Intimität ist auf exzessive Art und Weise stets auch Selbstaffektion.
Dass ich hören muss, um zu sprechen, gilt vor allem, wenn ich mit dem anderen spreche und ihm zuhöre. Das mag zu einem intimen Gespräch führen. Doch das womöglich erste intime Sprechen, das Gespräch der Seele mit sich selbst, ist in einem sehr wichtigen Aspekt von dem Gespräch mit dem anderen unterschieden. Während der andere mich belügen kann, kann ich mich selbst in meinem innersten Sprechen nicht belügen.
Wenn die Intimität zunächst dieses Gespräch der Seele mit sich selbst ist, ein inneres Sprechen, das zugleich ein inneres Hören ist, dann gibt es im Intimen logischerweise keine Lüge, keine Täuschung. Wenn ich jemanden belüge, sage ich das Gegenteil von dem, was ich weiß. »Hast du getrunken?« Ich weiß, dass ich getrunken habe, verneine aber lügend die Frage. Im inneren Gespräch ist mir das unmöglich. (Natürlich kann ich mich vielfach auf andere Weise selbst belügen – es geht hier, wie gesagt, nur um die logische Unmöglichkeit.) Das bedeutet, dass mit der Innen/Außen-Differenz das große Problem der Unwahrheit, der Lüge, der Täuschung, der Enttäuschung, erscheint. Das intime Leben steht in einem besonderen Bezug zur Wahrheit. Das ist eines ihrer wichtigsten Elemente.
Das klingt moralisch, ist es aber nicht. Die Intimität ist von sich aus immoralisch, weil sie anarchisch ist. Das, was in ihr als verbindlich anerkannt wird, ergibt sich nicht aus allgemeinen Regeln oder der Pflicht. Es ergibt sich. Moralische Vorstellungen gibt es jenseits der Grenze der Intimität. Wer diese intim einklagt, zerstört das intime Leben. Dieses ist in der Lage, von selbst eine Gemeinschaft zu bilden. Dazu gehört allerdings die Geduld, die der Intimität eigenen Gesetze sehen zu lernen.
An dieser Stelle möchte ich auf einen cantus firmus der vorliegenden Versuche über die Intimität aufmerksam machen. Intimität ist in der Tat mehr und anders als das Private eine Abwendung von der Öffentlichkeit. Sie ist – wenn ich so sagen darf – eine Art »Reinigung« (Platon), im Sinne einer betonten Abkehr von den Geschäften der Welt. So gesehen ist die Intimität entschieden asozial, mithin immoralisch. Das ist eine ihrer schönsten Möglichkeiten. Denn wenn ich überhaupt jemals ganz bei mir, bei dir zu sein vermag, dann abseits all dessen, was uns der technisch-wissenschaftlich-ökonomisch-mediale Apparat und seine Moral anbieten.
Das »in mir« und seine Differenz zu einem »außer mir« ist eine unmittelbare Erfahrung. Die philosophische und christliche Tradition hat das Innen mit der Seele identifiziert. Damit beginnen die Probleme. Denn mit der Seele ist zugleich ihr Unterschied zum Körper gesetzt. Die Innen/Außen-Unterscheidung wäre dann die von Seele und Körper. Meistens wurde diese Trennung auch noch so aufgefasst, dass sich die Seele vor dem Körper zu hüten habe, dass der Körper mit seinem Begehren die Seele beschmutze.
Aber die Erfahrung des »in mir« ist so eigentümlich, dass ich ihr Verhältnis zum Körper offenlassen möchte. Gewiss erfahre ich dieses »in mir« als jenes innere Gespräch ganz körperlos. Doch offenbar stellt auch der Körper ein Innen dar, das von einem Außen unterschieden wird. Selbstverständlich denke ich...