1 Integrative Therapie in der Drogenhilfe
Peter Schay
ikigai
„Etwas zu haben, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen.“
1.1 Vorbemerkungen
Ein geschlossener und von der Wissenschaft einheitlich vertretener theoretischer Ansatz zur Erklärung der Sucht liegt nicht vor. Um die Entstehung von Suchtgefährdung und -krankheit zu erklären, wurden vielmehr von unterschiedlichen Wissenschaften (z.B. Medizin, Psychologie, Soziologie) verschiedene Beiträge geliefert. Diese umfassen sowohl ausgearbeitete Theorien als auch eine Fülle von Einzelbefunden mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen. Es ist schwierig, die vorliegenden Konzepte zu gliedern. Gleichwohl soll zum Überblick die Vielzahl der entwickelten Theorien zusammengefasst werden in medizinisch-naturwissenschaftliche, individualpsychologische und soziale und gesellschaftsbezogene Erklärungsansätze. Um die Spannbreite der wissenschaftlichen Theorien zu verdeutlichen werden im Folgenden beispielhaft einige kurz dargestellt:
medizinisch-naturwissenschaftliche Theorien
Sucht wird als Folge eines individuellen Defizits körpereigener opiatähnlicher Substanzen (Endorphine und Encephaline) erklärt. Andere Theorien weisen spezifischen Gedächtnisfunktionen bei der Auslösung einer erneuten Drogeneinnahme und bei der Entstehung einer Abhängigkeit eine wichtige Rolle zu. In diesen Zusammenhang können auch psychiatrische Konzepte eingeordnet werden, die in der Drogenabhängigkeit eine genetisch bedingte Persönlichkeitsstörung sehen.
individualpsychologische Theorien
Der Mensch hat im Verlauf seines Lebens verschiedene Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Opiatmissbrauch kann als ein Versuch verstanden werden, Entwicklungskonflikte zu lösen. Psychoanalytische Theorien stellen Störungen in der frühen Eltern-Kind-Beziehung fest und verstehen süchtiges Verhalten u.a. als Regression (Rückschritt) in die frühkindliche (orale) Entwicklungsphase, um unerträgliche (neurotische) Konfliktspannungen zu vermeiden.
soziale und gesellschaftsbezogene Theorien
Hierbei werden familiäre Strukturen bzw. das Herkunftsmilieu als Entstehungsbedingung von Suchterkrankungen herangezogen. Sucht wird verstanden als Ergebnis eines gestörten psychosozialen Gleichgewichts durch schädigende Entwicklungsbedingungen der Betroffenen (z.B. Suchtmittelkonsum der Eltern) und/oder als Ausdruck von aktuell gestörten Beziehungs- und Kommunikationsprozessen in der Familie des Suchtkranken. Andere Erklärungsansätze bringen Aspekte gesellschaftlicher Etikettierung und Stigmatisierung, abweichenden Verhaltens („labeling approach“) sowie soziokulturelle Einflüsse (z.B. Arbeitslosigkeit, Konsumorientierung, Wertewandel) und ökonomische Gesichtspunkte in Zusammenhang mit der Entstehung einer Suchterkrankung.
Kein einzelner Erklärungsansatz ist in der Lage, die Entstehung von Suchtproblemen umfassend darzustellen. Fachwissenschaftlicher Konsens besteht jedoch hinsichtlich der multifaktoriellen Verursachung von Suchterkrankungen.
Das Modell von Feuerlein (1989 ? [12]) zum „Individuellen Verhalten in Abhängigkeit von den Faktoren Umwelt, Person und Droge“ – das auch heute noch hochaktuell ist – stellt in einem „Dreiecksverhältnis“ das Zusammenwirken der Dimensionen (1) soziale Umwelt, (2) Persönliche Dispositionen (physiologische und psychologische Faktoren) und (3) Droge dar (? Abb. 1.1).
Abb. 1.1 Modell von Feuerlein zum individuellen Verhalten in Abhängigkeit von den Faktoren Umwelt, Person und Droge.
Suchtgefährdung und -krankheit haben also ihre Ursache in der besonderen Wirkung der Droge, den spezifischen Eigenschaften des konsumierenden Individuums sowie den Bedingungen der sozialen Umwelt (z.B. Familie) und der Gesellschaft (z.B. allgemeine Lebensbedingungen). Nur in der Gesamtschau aller Faktoren können Suchtgefährdung und -krankheit (theoretisch) erklärt werden. Zu berücksichtigen ist, dass die einzelnen Faktoren individuell oder für bestimmte Gruppen unterschiedlich gewichtet sind, d.h. dass der jeweilige Anteil eines Faktors am Zustandekommen einer Suchtgefährdung/-krankheit variiert. Auch beeinflussen sich die Faktoren gegenseitig.
Daraus ableitend ist eine auf die Suchterkrankung bezogene Betrachtungsweise zwingend zu ergänzen durch eine Herangehensweise, die die vielfältigen – mit der Abhängigkeit verbundenen – sozialen, psychischen und körperlichen Probleme in den Fokus nimmt.
Es muss sich also aus den vielfältigen Problemlagen der Klientel eine inhaltliche Ausgestaltung der Leistungsangebote und/oder Versorgungsplanung ableiten, die insbesondere auch die psychischen Störungen und körperlichen Erkrankungen der Betroffenen berücksichtigt.
Mit den in diesem Fachbuch dargestellten Arbeitsansätzen zur „Integrativen Therapie in der Drogenhilfe“ zeigen die Autoren Möglichkeiten einer umfassenden Herangehensweise an die Arbeit mit abhängigkeitskranken Menschen auf.
1.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF-Modell)
Die „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ wurde nach einem mehrjährigen Entwicklungsprozess von der 54. Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet und ist mittlerweile handlungsleitend für die Leistungsträger in der Ausgestaltung der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.
Mit dem ICF-Modell können Aussagen zur Funktionsfähigkeit, den Aktivitäten und zur Partizipation getroffen werden; womit der gesamte Lebenshintergrund des Patienten berücksichtigt wird und ein festgestellter Zustand der funktionalen Gesundheit eines Menschen vor dem Hintergrund möglicher Barrieren oder Förderfaktoren standardisiert dokumentiert werden kann (? Abb. 1.2).
„Den ganzheitlich ausgerichteten Anforderungen der ICF ist der Gesetzgeber u.a. mit der Schaffung des SGB IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001) nachgekommen. … Die sozial-medizinische Beurteilung von (Menschen) mit psychischen Störungen … wird erst durch die genaue Kenntnis des Zusammenwirkens störungsbedingter Leistungseinbußen, individueller Dispositionsfaktoren und sozialer Gegebenheiten möglich. … Die Erkrankung und deren Folgesymptomatik einschließlich der mentalen Beeinträchtigungen wird als Ergebnis sich wechselseitig beeinflussender pathogener somatischer, psychischer und sozialer Einflussfaktoren verstanden“ (DRV Bund 2006 ? [8]).
Abb. 1.2 Ebenen zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit.
„Durch die … ICF wird es erstmalig möglich, die...