Im folgenden Kapitel gebe ich einen Überblick über die kindlichen Entwicklungsverläufe bis zum ersten Lebensjahr. In Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit soll die Individualität von Entwicklungsverläufen besonders hervorgehoben werden.
Die neuere Entwicklungspsychologie betrachtet die Entwicklung des Menschen bis zu seinem gegenwärtigen Lebenszeitpunkt. Ziel ist es, den Menschen in seiner individuellen Situation einzuschätzen. Dabei geht man davon aus, dass alle Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht, vollständig im Erinnerungsvermögen vorhanden sind. „Die Summe aller sensorischen Erfahrungen, aller kommunikativen Erlebnisse, die Erfahrungen mit dem eigenen Körper, aber auch die mit anderen Menschen, haben uns zu dem gemacht, was wir jeweils sind.“ (vgl. ebd., S. 22)
Menschen mit schwersten Behinderungen haben während ihrer Entwicklung die extreme Erfahrung gemacht, dass sie sich im Spannungsfeld zwischen Leben und Tod befunden haben. Auch wegen der Trennungssituationen (von der Mutter, den Eltern) bei langen Krankenhausaufenthalten und einer Vielzahl von Therapien unterscheiden sich die Erlebnisse eines schwerstbehinderten Menschen grundlegend von denen eines gesunden Menschen.
LARGO (2005, S. 130) belegt, dass schon in der frühkindlichen Entwicklung die Individualität sichtbar wird. Zur Verdeutlichung beschreibt er die frühe motorische Entwicklung bei Kindern.
Bei der Mehrzahl (87 %) der Kinder verläuft die motorische Entwicklung, indem sie über das Drehen zum Kreisrutschen und von dort zum Robben und Kriechen kommen. Danach geht das Kind über zum Vierfüßlergang, anschließend kommt das Aufstehen, bis schließlich das Gehen erlernt wird. Die verblieben 13% der Kinder entwickeln andere Fortbewegungsmöglichkeiten.
Dazu gehört das Rutschen auf dem Hosenboden. Unabhängig davon lernen sie ebenfalls ohne Verzögerungen zu gehen. LARGO beschreibt, dass die Vielfalt der individuellen Entwicklung auch an vitalen Prozessen sichtbar wird. So benötigen einige Kinder mehr Schlaf als andere und der tägliche Bedarf an Flüssigkeit kann sich individuell unterscheiden. Die wenigen Beispiele über die individuellen Entwicklungsverläufe zeigen, dass Normvorstellungen über die „normale“ kindliche Entwicklung nur Fehlerwartungen sind, die nichts über die individuellen Bedürfnisse eines Kindes aussagen (vgl. LARGO 2005, S.20).
Auch Kinder mit schweren Beeinträchtigungen entwickeln sich sehr variabel. WIECZOREK (2002, S. 20) beschreibt, dass Kinder sich nicht nur inter-individuell unterschiedlich entwickeln, sondern ihre Entwicklung sich auch intra-individuell differenziert.
LARGO (1997, S. 141): „Behinderte Kinder sind als Individuen genauso einmalig wie normal entwickelte Kinder. Behinderte Kinder sind in jedem Entwicklungsbereich untereinander genauso unterschiedlich wie normal entwickelte Kinder.“
Nach SARIMSKI (1993, S. 4) verfügt jedes Kind über ein angeborenes Entwicklungsprogramm. Dieses initiiert Verhaltensänderungen und legt den Grad der Empfänglichkeit für soziale Einflüsse fest. Die Entwicklung ist hier ein „Prozess sequentieller Reorganisation“ und nicht bloß die „quantitative Mehrung von Fertigkeiten“. In ihrer frühkindlichen Entwicklung sind Kinder im hohen Maße abhängig von der sozialen Interaktion mit ihren Eltern und weiteren Bezugspersonen. Darum ist die Entwicklung immer gekoppelt an die „dynamische Wechselwirkung“ zwischen dem Kind und seiner Umwelt (vgl. SARIMSKI 1993, S. 4).
SARIMSKI beschreibt in diesem Zusammenhang das „sozial-interaktionale“ Entwicklungsmodell. Er bezieht sich auf die Arbeiten von VYGOTSKI (1978), die den sozialen Beitrag der Eltern für die Entwicklung des Kindes einbeziehen. VYGOTSKI definiert Intelligenz als die „Kapazität zum Lernen von Instruktionen“. Dabei werden alle höheren planenden und organisierenden Fähigkeiten eines Kindes zunächst im Kontext sozialer Interaktion erworben und dann als individuelle kognitive Problemlösefähigkeit internalisiert.
Die pränatale Entwicklung kann für Kinder mit schweren Behinderungen der Ausgangspunkt für ihre schwere Beeinträchtigung sein, aber ebenso auch der Ort einer ungestörten Entwicklung, nämlich dann, wenn die Behinderung bei oder nach der Geburt entsteht.
Mit Beginn der dritten Schwangerschaftswoche wächst das Ektoderm (Neuronalrohr), welches sich später zum Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) ausdifferenziert. Komplikationen können Schädigungen des fetalen Nervensystems zur Folge haben und führen dann zu späteren Behinderungen.
Etwa einen Monat nach der Befruchtung der Eizelle nimmt der Herzmuskel seine Tätigkeit auf. Ab der sechsten Schwangerschaftswoche macht das Kind seine ersten Bewegungen. Es bewegt die Gliedmaßen und kann seinen Kopf drehen. Die eigenständigen motorischen Aktivitäten können als Vorbereitung auf das Leben nach der Geburt gesehen werden (vgl. LARGO 2005, S. 104ff.). Sie dienen dazu Bewegungsmuster sowie Organfunktionen einzuüben; weiterhin dienen sie der Modellierung der Gliedmaßen (vgl. ebd.). Bei prä- oder perinatal geschädigten Kindern, verändern sich die generalisierten Bewegungen. Die Bewegungsabläufe werden monoton und starr. Die pränatalen Bewegungen sind aber für die körperliche Entwicklung und Erfahrungsbildung unverzichtbar. Kinder, deren Behinderungen bereits im pränatalen Lebensbereich offensichtlich werden, haben eingeschränkte Möglichkeiten, Bewegungen zu erproben. Die vielfältigen Bewegungserfahrungen und -muster fehlen. In diesem Fall spricht man auch vom pränatalen Erfahrungsmangel.
Nun entwickeln sich auch erste taktile, vestibuläre und kinästhetische Sinneswahrnehmungen. In der neunten bis zehnten Schwangerschaftswoche entwickelt sich das Hör- und Gleichgewichtsorgan. Die taktile Wahrnehmung beginnt i.d.R. zwischen der siebten und achten Schwangerschaftswoche. Ausgehend vom Mundbereich (perioral) bildet sich die taktile Wahrnehmung über den ganzen Körper hin aus. Zwischen der zwölften und der sechszehnten Schwangerschaftswoche beginnt das Ungeborene aktiv mit der Bewegung seiner Hände. Die Hände können sich selbst greifen oder zum Mund geführt werden. Die visuelle Wahrnehmung differenziert sich im fünften Schwangerschaftsmonat aus. Die Kinder beginnen hell und dunkel voneinander zu unterscheiden (ZINKE-WOLTER 2001, S. 58ff.).
Das ungeborene Kind ist in den letzten Schwangerschaftsmonaten mit sensorischen Kapazitäten ausgestattet und zu sozialen Interaktionen fähig. Diese vorgeburtliche sensorische Kompetenz kann bei unreif geborenen Kindern stimuliert werden, um soziale Kompetenzen wachsen zu lassen. So ist taktiler Kontakt bei Frühchen besonders entwicklungsstimulierend (KELLER 2000, S. 384).
Ab dem sechsten Monat lassen sich Schlafzyklen feststellen. Dabei bildet das Kind einen eigenen Rhythmus von Schlaf- und Wachphasen heraus.
Das Kind entwickelt bereits in seiner pränatalen Umwelt selbstregulierende Verhaltensweisen. Ungeborene Kinder nehmen wahr und ändern ihr Verhalten in Abhängigkeit ihrer individuellen Wahrnehmung. Sie treten in den wechselseitigen Dialog mit ihrer Mutter. Dieser wird durch biochemische Signalstoffe gesteuert. Die Mutter nimmt wahr, was ihrem Kind gut bzw. weniger gut tut. Das Kind steuert seine Entwicklung durch individuelle Eigenaktivität (WIECZOREK 2002, S. 59ff.).
Neugeborene sind direkt nach der Geburt mit allen ihren Sinnen und Kompetenzen auf den postnatalen Kontakt mit der Mutter vorbereitet. Nach DORNES (1995, S. 21) zeigen Neugeborene differenzierte Wahrnehmungsaktivitäten in allen Bereichen und Kompetenzen für den Kontaktaufbau. DORNES spricht in diesem Zusammenhang von dem „kompetenten Säugling“.
„Der Säugling entfaltet sich, auf der Basis einer funktionierenden Beziehung zu primären Bezugspersonen.“ (ebd., S. 22). Die aus dem Mutterleib bekannten Umweltbedingungen, der Herzschlag und die Sprache der Mutter sowie rhythmische und vestibuläre Bewegungen bleiben auch in der veränderten Lebensumwelt erhalten und vermitteln das Sicherheitsgefühl einer vertrauten Umgebung.
Das Neugeborene ist von Geburt an ein aktiver Kommunikationspartner, dessen Fähigkeiten sich in der Kommunikation mit seinen Bezugspersonen immer weiter ausdifferenzieren (vgl. FRÖHLICH/SIMON 2004, S. 26). Es verfügt über eine Vielzahl von Verhaltensweisen, die den Bezugspersonen helfen können, über seine momentane Verfassung Aufschluss zu bekommen. Diese zunächst unbewussten Verhaltensweisen sind Schreien, Körperhaltung und Handhaltung sowie eine gut ausgeprägte Mimik. Die Bezugspersonen antworten intuitiv auf die Verhaltensweisen des Kindes. Wenn es beispielsweise schreit, nehmen sie es hoch und füttern es.
Nach PAPOUSEK (1994, S. 16ff.) beginnt die Sprachentwicklung des Säuglings schon vor der Geburt, sobald das Gehör gut genug ausgebildet ist, um den Rhythmus und die Melodie der mütterlichen Stimme zu hören. Lange bevor der Säugling die...