1 Harninkontinenz - Die Sicht der Betroffenen und pflegenden Angehörigen
Daniela Hayder-Beichel
Ausscheidungsprozesse, so haben wir es in früher Kindheit gelernt, gehören zu den intimen Verrichtungen eines Menschen. Daher gehen wir diesen nicht vor den Blicken anderer Menschen, sondern in einer geschützten Umgebung, nach. Personen, die an Harninkontinenz leiden, können jedoch ihre Ausscheidungsfunktion nicht ausreichend kontrollieren, so dass sich die Blase unwillkürlich entleeren kann. Für professionelle Gesundheitsdienstleister ist es von besonderer Bedeutung, Einblicke in das Erleben des Alltags von Menschen mit Harninkontinenz und ihren pflegenden Angehörigen zu erhalten, um gezielte Beratungs- und Hilfsangebote entwickeln zu können.
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse zweier qualitativen Studien dargestellt. Sie beschreiben die besondere Situation von Personen, die an Harninkontinenz leiden und ihrer Angehörigen. Dazu wurden die Betroffenen selbst1 und auch pflegende Angehörige interviewt (s. Kasten).
Studienteilnehmer und Vorgehen der Studien
In den zwei Studien wurden 32 Betroffene (zwischen 38 und 83 Jahren, mit unterschiedlichen Schweregraden der Harninkontinenz und unterschiedlichen Erfahrungszeiträumen) und 15 pflegende Angehörige interviewt.
Die Interviews dauerten durchschnittlich 60 Min., wobei das kürzeste Interview 27 Min. und das längste 116 Min. umfasste. Siewurden aufgezeichnet, verschriftlicht und nach der Methode der Grounded Theory analysiert. Für die Studien lag ein ethisches Clearing der Ethikkommission des Institutes für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke vor.
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass die Inkontinenz Einfluss auf soziale, kulturelle und sportliche Aktivitäten sowie die partnerschaftlichen Beziehungen der Betroffenen hat. Pflegende Angehörige schildern, dass die Auswirkungen der Inkontinenz zu besonderen Bedingungen im Alltag führen und Beziehungs- bzw. Rollenkonflikte sowie gestörte Frei- und Ruhezeiten auftreten können.
1.1 Situation der Betroffenen
Menschen, die an Harninkontinenz leiden, verlieren im Zuge eines akuten, chronischen oder psychosomatischen Geschehens teilweise oder vollständig die Kontrolle über ihre Ausscheidungsfunktion.
Tritt die Inkontinenz aufgrund eines akuten Ereignisses, z. B. einer schweren Entbindung, eines Tumors oder Unfalls plötzlich auf, ändern die dramatischen Geschehnisse das Leben der Betroffenen in vielerlei Hinsicht. Zuerst muss das lebensbedrohliche Ereignis überstanden werden. Dann stellen die Betroffenen fest, dass zwar die gesundheitliche Hauptproblematik überwunden ist, Folgen wie die Inkontinenz jedoch bleiben. Eine Betroffene berichtet:
»Wenn ich kerngesund bin und auf einmal blaseninkontinent [...] bin, dann bricht die Welt zusammen.«
Der Prozess der Ausscheidung, der bis dahin ganz normal und unauffällig verlief, entzieht sich nun der Kontrolle. Die Betroffenen haben das Gefühl, dass sich ihr Leben durch die Harninkontinenz grundlegend ändert und ihre Aktivitäten durch die Einschränkungen der Blasenfunktion bestimmt werden. Es beginnt eine Auseinandersetzung mit dem Ausscheidungsverhalten, welches geprägt ist von Anstrengungen und Hoffnungen auf die Wiedererlangung der Kontinenz. Mit aller Macht soll die Kontrolle über die Blase zurück erlangt werden, wie eine Betroffene beschreibt:
»Ich hab’ echt versucht, den Körper zu zwingen. Das war ganz, ganz komisch. Ich hab’, also nicht immer, aber ich hab’ immer wieder so Phasen gehabt, wo ich gedacht hab’, ja, das krieg’ ich hin. Ich hab’ das überhaupt nicht einschätzen können.«
Die Betroffenen beschreiben eine Art »Kampf«, sie wollen ihren Körper bezwingen. Die Inkontinenz können sie in dieser Phase nicht akzeptieren, selbst wenn ihnen bewusst ist, dass irreparable Nervenschäden vorliegen. Diese Phase kann mehrere Wochen oder Monate dauern. Über die Zeit betrachtet, sinkt das empfundene Belastungsgefühl jedoch und es beginnt eine Phase des Annehmens.
Im Gegensatz zum plötzlichen Auftreten steht die schleichende Entwicklung der Harninkontinenz, die vor allem von Frauen berichtet wird. Sie führen familiäre Belastungen, eine Bindegewebsschwäche, die Folge von Entbindungen oder Alterungsprozesse als Gründe für die Inkontinenz an. Sie können jedoch einen genauen Zeitpunkt, zu dem die Beschwerden begannen, nicht angeben. Eindringlich schildern viele Betroffene zurückliegende peinliche Momente in der Öffentlichkeit. Dies waren Augenblicke, in denen die Frauen wahrnahmen, dass es sich um ein wirkliches Problem handelt, welches von diesem Zeitpunkt an nicht mehr zu leugnen war.
Neben den organischen Ursachen können auch psychosomatische Gründe für die Entwicklung einer Inkontinenz verantwortlich sein. Eine Betroffene schildert, dass sich ihre Blase in der von Mobbing geprägten Arbeitssituation spontan entleert. Eine andere beschreibt ihre psychisch belastende Ehe als Auslöser für die Inkontinenz, welche mit der Scheidung verschwand.
Auswirkungen auf das Selbstbild
Es gibt eine Vielzahl von Empfindungen von Betroffenen gegenüber der Inkontinenz, die in ihrer Intensität und Darstellung variieren. Wie alle Personen, die an einer chronischen Erkrankung leiden, erleben sie gute und schlechte Tage. An schlechten Tagen hadern sie mit sich, der Situation und dem unberechenbaren Körper. Gefühle von Hilflosigkeit und Verzweiflung kommen auf, aber auch Wut und Zorn zeigen sich:
»Es ist einfach dieses Ausgeliefert Sein, also ausgeliefert sein einem Organ, was eigentlich funktionieren müsste. Also einfach dass das nicht so funktioniert, das nervt mich dann halt.«
Das Gefühl, dass die Blase ein Eigenleben führt, nicht willentlich gesteuert werden kann und viel Aufmerksamkeit verlangt, schränkt die Betroffenen immer wieder in ihren alltäglichen Aktivitäten ein. Sie fühlen sich unfrei, unflexibel und klagen über mangelnde Spontaneität.
Mit der Dauer der Inkontinenz und der Zunahme an Sicherheit, entwickeln die Betroffenen Handlungsstrategien, die die Schwere des Belastungserlebens zu senken vermögen. Die Betroffenen haben das Gefühl, damit leben zu können und ziehen Vergleiche zu Erkrankungen, die in ihren Augen schwerwiegender sind, wie z. B. die Stuhlinkontinenz.
Neben dem Hadern mit sich selbst, sind es immer wieder Probleme in der Öffentlichkeit, die den Betroffenen zu schaffen machen. Im öffentlichen Raum fühlen sie sich bei einem unfreiwilligen Harnverlust in doppelter Hinsicht schutzlos. Zum einen gehorcht die Blase nicht und sie fühlen sich dem Körper gegenüber ausgeliefert (Verlust der Körperkontrolle). Zum anderen könnten umstehende Personen den Harnabgang bemerken (drohender Verlust der sozialen Kontrolle). Angst und Scham sind die Folge. Inkontinente Personen beschreiben das Gefühl, in dieser Situation anders zu sein als alle anderen Personen um sie herum. Sie fühlen sich auf negative Weise einzigartig.
1.2 Außer Kontrolle
Wie oben gezeigt, nehmen Personen, die an Inkontinenz leiden, ihren Körper und damit ihre Ausscheidungsprozesse als gestört und unzuverlässig wahr. Der vormals automatisch ablaufende, nicht durchdachte Prozess des Ausscheidens, wird mit Auftreten der Inkontinenz, also des Kontrollverlustes, problematisch. Die Folge ist ein Zustand der Unberechenbarkeit, dem mit stetiger Wachsamkeit begegnet wird.
Von besonderer Bedeutung für die Betroffenen ist die Tatsache, wenig oder keine Kontrolle über die Blase zu haben und damit (nicht) über die Fähigkeit zu verfügen, die Toilette rechtzeitig aufzusuchen. Personen, die den Harndrang verspüren, beschreiben dies als Möglichkeit, Kontrolle über die Ausscheidung zu bewahren. Doch löst dieser Harndrang gleichzeitig Gefühle von Unruhe oder Panik aus, wie eine Betroffene berichtet:
»Wenn ich das jetzt merk’, dann kann hier der Papst sitzen oder sonst wer, dann muss ich.«
Der einsetzende Harndrang lässt den Betroffenen nur ein geringes Zeitfenster, um zu reagieren. Aus diesem Grund kann der Harnverlust nicht immer vermieden werden. Der Mehrzahl der interviewten Personen ist es fast oder gänzlich unmöglich, den Harn zurückzuhalten:
»Ich kann nicht gehen, nicht auf hartem Boden auftreten, schnell gehen, weil die Erschütterung schon reicht, ich kann mich nicht bücken, ich kann nicht heben und nicht tragen, niesen, husten, ist das Übliche.«
Ob in Ruhe oder Aktivität, viele Betroffene können den Harnverlust nicht vermeiden und fühlen sich in dieser Situation schutzlos ausgeliefert.
Der Zustand der Unberechenbarkeit wird im öffentlichen Raum gravierender wahrgenommen als im privaten Bereich.
Zuhause ist das Leben mit Inkontinenz leichter und freier als außerhalb. Das Zuhause wird als Schutzbereich beschrieben. Dies liegt vor allem daran, dass die Toilette in der Nähe ist und auf Pflegeprodukte, Hilfsmittel und saubere Kleidung unkompliziert zurückgegriffen werden kann.
Der öffentliche Raum stellt für viele Betroffene, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, eine Zone der Unsicherheit und Angst dar. Hier müssen sie sich sozial angepasst verhalten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dies führt zu steigendem Druck und zu Ängsten. Eine Betroffene beschreibt:
»Ich musste so dringend auf die Toilette, und, ja wo ist denn nun die Toilette? Des war schon, meine ganze Einlage...