1. Einleitung
Die deutsche Schullandschaft wird im Zuge der zunehmenden Wanderungsbewegungen in einer globalisierten Welt multikultureller. Dies ist durch viele Studien und Fachberichte bestätigt worden und spätestens seit der PISA-Studie im Jahr 2000 flächendeckend bekannt. Die Bevölkerung mit Migrationskontext ist längst zu einem festen Bestandteil Deutschlands geworden, besonders jüngere Generationen fühlen sich hier zu Hause.
Die Ergebnisse des Mikrozensus 2010 zeigen, dass im Jahr 2010 in Deutschland 81,7 Mio. Menschen leben, von denen 15,7 Mio. Menschen (19,3% der Gesamtbevölkerung) einen Migrationshintergrund aufweisen. Diese wiederum unterteilen sich mit 7,1 Mio. (8,7% der Gesamtbevölkerung) in Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit und über die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund, nämlich 8.6 Mio. (10,5% der Gesamtbevölkerung) mit deutscher Staatsangehörigkeit. Demnach besitzt im Durchschnitt jeder Fünfte von uns einen Migrationshintergrund.
Unter Berücksichtigung der Herkunftsregion, so die Daten des Statistikamtes, bilden darunter Menschen mit türkischem Migrationshintergrund mit 15,8% die größte Bevölkerungsgruppe. Von den 15,7 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund machten 10.6 Mio. eigene Migrationserfahrungen, demgegenüber stehen 5,2 Mio. Menschen ohne eigene Migrationserfahrung, also Kinder und Jugendliche aus Migrationsfamilien, die in Deutschland geboren wurden (vgl. Statistisches Bundesamt 2011a). In Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern beträgt der Anteil von minderjährigen, ledigen Kindern im Jahr 2010 mit 46% sogar knapp die Hälfte aller Kinder, die in einer Familie mit Migrationshintergrund leben (vgl. Statistisches Bundesamt 2011b). Diese Zahlen machen kulturelle Vielfalt in Deutschland deutlich. Gerade in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen wird Multikulturalität besonders wahrgenommen, thematisiert und nicht selten problematisiert.
Die Schule ist ein dichtes Flechtwerk, in der sich verschiedene Personengruppen, wie Schüler, Lehrer, Eltern, Schulleiter, Sozialarbeiter und -pädagogen sowie Schulpsychologen in einem Konstrukt vernetzen, mit dem Ziel, Schüler mit einer grundlegenden Allgemeinbildung und dem dazugehörigen Werkzeug auszurüsten, welches ihnen ermöglichen soll, sich im Alltag, im Beruf und in der Gesellschaft selbstbewusst und selbstständig zu bewegen sowie ihre Umwelt kritisch bewerten zu können. Alle Beteiligten bringen ihre eigenen, persönlichen, sozial und kulturell geprägten Biographien mit, die ebenso ideologisch und politisch geformt sein können. Vor allem in einem multikulturell erfüllten Begegnungsort wie der Schule kann die Unkenntnis und fehlendes Bewusstsein über die eigene Kultur und andere Kulturformen, ein Unvermögen mit Pluralität umgehen zu können, sowie ethnisch vorurteilsbehaftetes Erleben und Handeln in interkulturell geprägten Konfliktsituationen verhängnisvolle Folgen haben. So zeigt es sich in der Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern und in den PISA-Ergebnissen auf niederschmetternde und drastische Weise, denn „Lehrkräfte [sind] nicht in der Lage, objektiv schwache Leser in ihren Klassen zu identifizieren“ (vgl. Artelt, Demmrich & Baumert 2001 aus: HerwitzEmden 2003, 704). Viele interkulturell orientierte Fachberichte analysieren die aktuelle Schulsituation und Problemlage bezüglich verschiedener Faktoren, die meisten Autoren kommen einheitlich zum Schluss, dass das deutsche Bildungssystem die Pluralität in der Schule noch nicht in Gänze wahrgenommen hat oder wahrhaben will und dass die Bildungsbedürfnisse der Schüler mit Migrationskontext nicht ausreichend Beachtung finden. Es fehlt an einer intensiven, flächendeckenden interkulturell gelenkten Bildungsstruktur und an einem interkulturellen Bildungsbewusstsein bei Lehrern und Referendaren in der Hochschulausbildung, in der Weiterbildung und in interkultureller Betreuung und Beratung im Klassenraum und Lehrerzimmer (vgl. Herwartz-Emden 2003, 704 f.).
Um ein interkulturelles Bewusstsein zu entwickeln, muss in größeren Zusammenhängen gedacht und mit interkulturellen Schlüsselkompetenzen gehandelt werden. Interkulturelle Kenntnisse sowie eine Kultursensibilisierung und Fähigkeiten im Umgang mit Pluralität sind hier Grundvoraussetzung. Dies bedeutet sowohl eigene wie auch fremde Kommunikations- und Wahrnehmungsweisen zu kennen, diese in einer Selbstreflexion analysieren und bewusst machen zu können, Wiedersprüche von kulturell verschiedenen Ansichten auszuhalten, sich mit Hilfe von Empathie in andere kulturelle Rollen und Positionen hineinversetzen zu können und sich zudem kulturelles Hintergrundwissen sowie länderspezifische Kenntnisse anzueignen (vgl. Onli- ne-Ressource: Transkulturelle Schlüsselkompetenzen). Aus dem Unvermögen mit Pluralität nicht umgehen zu können, entstehen vorschnell Konflikte, die im ersten Moment die Kulturdifferenz zum Gegenstand machen. Andere Kulturen haben sich dann an die Gesellschaftsnormen in Deutschland anzupassen, damit verschwinden auch die Schwierigkeiten, so der Tenor. Multikulturalität und Kulturdifferenz in der Schule dürfen aber nicht als Problem oder Konfliktgegenstand betrachtet werden. Zudem ist Anpassung keine Lösung, sondern ein Ersticken von grundrechtlich geschützter Freiheit. Kulturdifferenz ist natürlich und ebenso wichtig, sie sollte geachtet werden und nicht als einzige Konfliktursache im Raum stehen. Kulturelle Vielfalt in der Schule sollte vielmehr als ein Gewinn statt als Hindernis oder Gefahr von außen erachtet werden. Eine Grundvorraussetzung für ein interkulturelles gesellschaftliches Zusammensein zeichnet sich durch ein gegenseitiges Interesse am anderskulturellen Gegenüber, durch Anerkennung und Toleranz für neue Lebensgewohnheiten und individuelle Lebens- und Familiengeschichten aus. Aus diesen Grundzügen sollte auch eine interkulturelle Bildungsaufgabe bestehen. Um dieser erfolgreich nachgehen zu können, ist es wichtig sich mit den wirklichen Ursachen und Hintergründen von interkulturellen Konflikten im Klassenraum auseinanderzusetzen anstatt nur eine Kulturdifferenz vorzuschieben.
Konflikte scheinen auf den ersten Blick anstrengend und überflüssig, eine Konfliktaustragung ist jedoch unausweichlich und oft notwendig, um nach einer Krisensituation wieder zueinander zu finden. Es liegt demnach sehr wohl, wenn auch erst auf den zweiten Blick, ein positiver Aspekt in Konflikten, dessen Gewinn uns auf unserem Lebensweg stets begleitet und formt. In der Konfliktforschung werden viele Arten von Konflikten beschrieben. Gemeinsam ist ihnen, dass sämtliche Konflikte immer Kommunikationsprozesse sind, die alle Verhaltensäußerungen und Handlungen, das gesprochene oder geschriebene Wort sogar ein Nicht-Handeln und Schweigen mit einbeziehen (vgl. Watzlawick 1985, 50 ff.).
Konflikte haben meist eine Vorgeschichte. Der Ausgangspunkt oder das Konfliktpotential besteht aus einem Konfliktobjekt und den noch ruhenden Konfliktparteien. Konfliktobjekte können im Besitz einer Partei oder auch jeweils außerhalb beider liegen. Ziel ist es vorerst, einen möglichst großen Teil davon für sich zu gewinnen. Dabei kann es um die Verteilung von Gegenständen, Geld, gesellschaftlicher oder beruflicher Positionen, um Verteilung von Macht und Ansehen oder um unterschiedliche Wert- oder Meinungsansichten gehen. Erst in der Konfliktdynamik, also in einem aufeinanderfolgenden Wechselspiel von Wahrnehmungen und Handlungen, die sich aufeinander beziehen, spitzt sich ein Konflikt zu. Im Normalfall sollte sich diese Situation, auch ggf. durch Mithilfe Dritter, schließlich in einer Konfliktklärung oder einem Kompromiss entspannen und weiter zum Übergang in geregelte friedliche Bahnen einleiten (vgl. Meyer 1997, 22).
Als besonders komplex gestaltet sich ein Konflikt dann, wenn die einzelnen Konfliktparteien unterschiedlich kulturell geprägt und sozialisiert sind. Denn jede Kultur besitzt eigene Kommunikationsregeln sowie eigene Interpretations- und Deutungsweisen bezüglich Traditionen, Normen und Werten. Diese werden von allen Mitgliedern geteilt sowie akzeptiert und geben dadurch ein Orientierungsmuster auf z.B. gesellschaftlicher und familiärer Ebene. Eine Kultur zeichnet sich zudem dadurch aus, dass bestimmte Ereignisse ähnlich erlebt, bewertet oder gefühlt werden. Angehörige einer anderen Kultur haben wiederum ihre eigenen Deutungs- und Orientierungsmuster im Denken, Handeln und Fühlen (vgl. Triandis 1995 aus: Ringeisen 2007, 28). Jede Kultur weist außerdem eine eigene Strategie zur Konfliktbearbeitung auf, also spezifische Fähigkeiten und ein eigenes Verständnis mit Konflikten umzugehen, die Konfliktobjekte wahrzunehmen, zu interpretieren oder zu tabuisieren, Konflikte zu lösen oder gar nicht erst eskalieren zu lassen. Konfliktobjekte in interkulturellen Auseinandersetzungen zeigen sich oftmals in einer Kombination aus Wert- und Interessenkonflikten. Da sich über religiöse, moralische, politische oder auch wissenschaftliche Überzeugungen keine richtige oder falsche Aussage treffen lässt, erschwert sich die Kompromissbildung zusätzlich (Meyer 1997, 33). Begleitet wird dieses interkulturelle Konfliktkonstrukt oft von Interessenkonflikten, die sich aus einer Knappheit oder einer ungleichen Verteilung von Macht, Ansehen und Autorität herleiten lassen (Aubert 1973, 183 aus: Meyer 1997, 33). Macht und Ansehen können entweder verloren oder erhalten werden. Ein Konflikt, der...