Teil I
Wissenschaftliche Grundlagen und Rahmenbedingungen
Kulturelle Modelle und ihre Bedeutung für die frühkindliche Bildung
Heidi Keller
DIE KULTURELLE VIELFALT ist in unserer globalisierten Welt mit ihren verzweigten Migrationsbewegungen auch in Deutschland schon längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie eröffnet uns über alle gesellschaftlichen Ebenen hinweg neue Perspektiven und bietet die Chance zu einer Stärkung von Demokratie, Respekt und Toleranz. Kulturelle Vielfalt ist aber auch immer eine Herausforderung, und so ist die Stärkung interkultureller Kompetenz schon länger Gegenstand umfangreicher Studienprogramme an Hochschulen sowie vielfältiger Weiterbildungsangebote für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von multinationalen Konzernen und Behörden, für Politiker, Lehrkräfte, sozialpädagogische Fachkräfte, Entwicklungshelfer und viele andere Menschen. Interkulturelle Kompetenz wird zunehmend zu einer neuen Schlüsselkompetenz und einem unverzichtbaren »soft skill«.
- Affektive/emotionale Dimensionen (z. B. Selbstvertrauen oder Vorurteilsfreiheit)
- Kognitive Dimensionen (z. B. Verständnis fremd- und eigenkultureller Handlungszusammenhänge)
- Verhaltensbezogene/konative/praxische Dimensionen (z. B. Kommunikationsfähigkeit und soziale Kompetenz).
Die Betrachtung und Reflexion dieser einzelnen Komponenten ersetzt natürlich nicht die holistische Betrachtung oder die Definition von Geltungsansprüchen und die Diskussion von Normativität (a. a. O., S. 22 f.). Hier soll es allerdings bei dem Hinweis auf die Komplexität einer wissenschaftlich kohärenten Definition belassen bleiben, und als praxisbezogener Ansatz wird vorgeschlagen, interkulturelle Kompetenz als eine Trias mit folgenden Komponenten zu verstehen (Keller 2011a; Borke & Keller 2012):
- Kenntnis/Wissen
- Haltung/Achtsamkeit
- Diversität leben.
Diese zentralen Dimensionen werden im Folgenden näher erläutert – insbesondere in Bezug auf die frühen Entwicklungs- und Bildungsprozesse in außerfamiliären Bildungseinrichtungen.
Kenntnis/Wissen
Als erster Schritt für die Entwicklung von interkultureller Kompetenz ist der Wissensbestand über unterschiedliche kulturelle Sozialisations- und Erziehungsstile zu betrachten. Solche Unterschiede sind in der anthropologischen und kulturspezifischen sowie kulturvergleichenden Literatur vielfältig dokumentiert worden. Für unsere Thematik sind hier vor allem zwei kulturelle Modelle relevant, die Prototypen darstellen, darüber hinaus aber auch in vielfältigen Kombinationen hybride Erscheinungsformen bilden können. Das uns vertraute und in Deutschland öffentliche und sichtbare kulturelle Modell ist das der psychologischen Autonomie (a. a. O.). Psychologische Autonomie bedeutet eine individuums-/kindzentrierte Sichtweise, in der einerseits persönliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, andererseits Selbstbestimmung und die Realisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse zentrale Ankerpunkte sind. Bereits der Säugling wird als eigenständige Person mit einem Recht auf die Berücksichtigung eigener Ziele, Präferenzen und Äußerungsmöglichkeiten betrachtet. Das Kind wird als quasi gleichberechtigter Interaktionspartner in Entscheidungen und Planungen der Familie mit einbezogen. So zum Beispiel, wenn eine Mutter ihr dreimonatiges Baby fragt: »Soll uns die Oma morgen besuchen kommen?«, und dann eine Pause macht, um gleichsam dem Kind die Gelegenheit zu geben, zu antworten. Die kindlichen Äußerungen, seien es vegetative oder vokale Geräusche, werden als intentionale Beiträge zur Unterhaltung betrachtet (Keller 2011b).
Ein ganz anderes kulturelles Modell haben viele Migrantinnen und Migranten im Gepäck, die aus traditionellen Dörfern der nicht westlichen Welt in westliche Länder wandern. Sie kommen oft aus Mehr-Generationen-Verbänden häuslicher Gemeinschaften (Großfamilien), haben ihr erstes Kind in den späten Teenagerjahren bekommen, haben oder bekommen viele Kinder und weisen ein eher geringeres Niveau an formaler Schulbildung auf. Die Werte und Normen dieser Familien sind häufig an hierarchischer Verbundenheit orientiert. Das bedeutet, dass das Netzwerk sozialer Verpflichtungen mit an Rollen gebundenen Aufgaben Primat vor dem Individuum hat und gemeinschaftliche Ziele der Familie Kooperation und verantwortungsvolles Handeln erfordern. Um den familiären Pflichten nachkommen zu können, wird von den Kindern Gehorsam als oberstes Erziehungsziel verlangt, verbunden mit Respekt und respektvollem Verhalten Älteren gegenüber. Eine frühe Handlungsautonomie erlaubt selbstständige Übernahme von Aufgaben und Mithilfe in Haus und Feld. Diese Erziehungs- und Bildungsstrategie erfordert andere Sozialsationskontexte und andere Interaktionsmuster (siehe dazu ausführlich Keller 2011a).
Kenntnis in unserem Zusammenhang bedeutet also: Wissen um Unterschiedlichkeit und deren Einbettung in kulturelle Systeme. Wissen alleine reicht aber nicht aus, um den erzieherischen Alltag kultursensitiv zu gestalten. Daher muss das Wissen in einer Haltung begründet sein, die der Unterschiedlichkeit wertschätzend gegenübersteht und ihr Raum für Gestaltung gibt.
Haltung/Achtsamkeit
»Es ist ja alles schön und gut, ich verstehe, dass Migranten in ihrer Heimat Kinder anders erziehen. Aber jetzt sind sie hier und müssen sich an unsere Erziehungsvorstellungen anpassen.« Diese und ähnliche Formulierungen hört man zuweilen, wenn man Weiter- und Fortbildungskurse zu interkultureller Kompetenz in der Kita anbietet. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Wissen und Kenntnis alleine nicht ausreichen, um der gesellschaftlichen Forderung, allen Kindern die Teilhabe am Bildungssystem zu ermöglichen, nachzukommen.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie
Zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie gehört das Überdenken des eigenen Lebenslaufes auch in Bezug auf Kontakt mit Anderem und Fremdheit (z. B. im Urlaub in einem fremden Land mit ungewohntem Essen), hinsichtlich des Erlernens von Fremdsprachen, der Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen. Die Frage, ob man sich fremd oder vielleicht nicht angenommen fühlt, haben viele Menschen auch schon einmal selbst erlebt, zum Beispiel als Bayer in Nordfriesland oder als Katholik in einer protestantischen Gemeinde, als Kind vom Land in der Großstadt … Es ist wichtig zu reflektieren, welche Gefühle man in diesen Situationen hatte, was die Situation leichter machte oder auch erschwerte. Im besten Falle wird bereits daran die eigene kulturelle Brille deutlich. Die Reflexion der eigenen Situation fördert auch die Empathie mit anderen, die möglicherweise ähnliche Erfahrungen machen.
Neugier auf Anderes
Eine weitere wichtige Haltungsdimension ist die Neugier auf Anderes – andere Erziehungsvorstellungen, Sozialisationsziele, soziale Praktiken. Diese Neugier erfordert einen offenen Zugang, nämlich das Andere aus sich heraus zu verstehen, in dem jeweiligen Bedeutungszusammenhang. Das schließt den bewertenden Vergleich mit dem Vertrauten aus. Allzu leicht sind wir geneigt, andere Praktiken als rückständig, falsch oder gar gefährlich zu bewerten. Ein immer wieder genannter Konfliktpunkt zwischen Eltern und Kindertageseinrichtung sind unterschiedliche Vorstellungen über die Eingewöhnungssituation:
Die Nso Frauen waren entsetzt und bezweifelten, dass dies die Mütter sein könnten – ein Kind auf dem Rücken am Boden liegend bedeutet für sie sehr schlechtes Elternverhalten. Ein quengelndes Kind nicht sofort zu stillen, grenzt für sie an Misshandlung, und ein wenige Monate altes Kind alleine in einem Bett oder gar einem Zimmer schlafen zu lassen, ist für sie schier undenkbar.
Diese Beispiele zeigen die normative Kraft unserer Erziehungsvorstellungen, sodass die achtsame Haltung wirklich nicht per Knopfdruck angestellt werden kann, sondern es um bedeutsame Umstrukturierungen persönlicher Werte und Normen geht. Das ist einer der Gründe, weshalb wir das interkulturelle Training für Kita-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter entwickelt haben (siehe dazu auch den Beitrag von Maria Korte-Rüther in diesem Band).
Diversität leben
Leben von Diversität bedeutet, unterschiedlichen Handlungsstrategien Raum zu geben – als Bereicherung der alltäglichen Praxis – und damit eine Ressource zu erkennen anstatt ein Problem oder ein Defizit zu identifizieren. Es fällt häufig schwer zu erkennen, dass unterschiedliche Verhaltensmaßnahmen das gleiche Ziel unterstützen können und damit zu Chancengleichheit führen, während die gleiche Verhaltensmaßnahme möglicherweise Chancen ungleich eröffnet. Aus der Zuhörerschaft eines Vortrags zu kulturell geprägten...