1 Interkulturelle therapeutische Kompetenz (IKTK)
Interkulturelle therapeutische Kompetenz (IKTK) stellt in der psychotherapeutischen Tätigkeit einen wichtigen Beitrag dar, das Verhaltensrepertoire für interkulturelle Begegnungen zu erweitern, Erfahrungen zu reflektieren, Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen, sprachliche, kulturelle und religiöse Besonderheiten als Möglichkeit der Bewältigung einer Krise in die Reflexion und Intervention einzubeziehen sowie neue Handlungsstrategien zu entwickeln.
Interkulturelle therapeutische Kompetenz setzt zunächst eine Reihe von Fähigkeiten voraus, welche die Grundlage für interkulturelle Kompetenz – als Querschnittkompetenz – im weiteren Sinne bilden. Daher wird IKTK im Zusammenhang mit »Interkultureller Kompetenz« als Querschnittkompetenz betrachtet und behandelt.
Unter interkultureller Kompetenz wird die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstreflexion, Empathie, Flexibilität und Anerkennung von Vielfalt verstanden. Thomas betont interkulturelles Lernen als Grundlage zum Erwerb der interkulturellen Kompetenzen. »Eine effektive Kooperation zwischen verschiedenen kulturell sozialisierten Partnern erfordert ein gewisses Maß an Fähigkeit und Bereitschaft, fremde Kulturstandards in das eigene Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsmuster zu integrieren. Dazu ist interkulturelles Lernen erforderlich« (Thomas 2003, S. 438). Für Thomas hat interkulturelles Lernen dann stattgefunden, wenn »die Veränderungen im Wahrnehmen, Denken, Empfinden und Handeln so beschaffen sind, dass sie den jeweiligen Anforderungen kultureller Überschneidungssituationen und den Erwartungen der in verschiedenen Kulturen sozialisierten Interaktionspartnern entsprechen« (a. a. O., S. 439). In Anlehnung an Winter (1988) und Kammhuber (2000) stellt Thomas interkulturelles Lernen anhand eines aufeinander aufgebauten Vier-Stufen-Modells dar. Bei der ersten Stufe geht es um die Aneignung von Orientierungswissen über eine fremde Kultur. Bei der zweiten Stufe handelt es sich um die Erfassung kulturfremder Orientierungssysteme wie Normen, Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen usw. Mit der dritten Stufe ist die Fähigkeit zur Koordination kulturdivergenter Handlungsschemata gemeint. Bei der vierten Stufe handelt es sich um die generelle Fähigkeit zum Kultur-Lernen und Kultur-Verstehen. Damit ist gemeint, dass jemand über hochgradig generalisierbares Handlungswissen verfügt, das ihn in die Lage versetzt, sich in jeder fremden Kultur schnell und effektiv zurechtzufinden (vgl. ebd.).
Von diesem Vier-Stufen-Modells leitet Thomas Folgendes ab: »Interkulturelles Lernen ist dann erfolgreich, wenn es zu einem interkulturellen Verstehen führt, das einerseits die Kenntnisse über fremde Kulturstandards und ihre handlungssteuernden Wirkungen umfasst und andererseits in der Fähigkeit zum Wahrnehmen, Denken, Urteilen und Empfinden im Kontext des fremdkulturellen Orientierungssystems besteht. Erfolgreiches interkulturelles Lernen und ein hohes Maß an interkulturellem Verstehen sind Grundvoraussetzungen zum Aufbau interkultureller Handlungskompetenz, definiert als die Fähigkeit des Handelnden, beide Orientierungssysteme in einer aufeinander abgestimmten Weise zur effektiven Handlungssteuerung in der kulturellen Überschneidungssituation zum Einsatz zu bringen« (ebd.).
Was Thomas hier bezüglich des interkulturellen Lernens beschreibt, lässt sich auch auf den Erwerb interkultureller therapeutischer Kompetenz beziehen. Interkulturelle Kompetenz wird demnach definiert als die Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und anderen Personen zu erfassen, zu würdigen, zu respektieren und produktiv einzusetzen im Sinne von wechselseitiger Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten sowie einer Entwicklung synergetischer Formen des Zusammenlebens und der Weltorientierung (vgl. Thomas, Kammhuber, Layes 1997, S. 67–68).
Clement & Clement verstehen unter interkultureller Kompetenz sowohl eine Haltung als auch ein substantielles Wissen: »Als Haltung meint interkulturelle Kompetenz das Bewußtsein, daß die eigene Kultur nur eine von vielen ist, daß in jeder Kultur eigene Vorstellungen davon existieren, was ›real‹ ist, was Menschen unausgesprochen voneinander erwarten können« (Clement & Clement 2000, S. 159–160).
Interkulturelle therapeutische Kompetenz sollte kognitive (i. S. der Kenntnisse über die fremdkulturellen Aspekte der jeweiligen Kultur), affektive (i. S. der Fähigkeit zur emotionalen Selbstreflexion und Selbstkontrolle) und verhaltens- bzw. handlungsbezogene (i. S. der Anpassung des eigenen Verhaltens und Haltungen an die Verhaltensmuster und Haltung der jeweiligen Kultur) Dimensionen umfassen und in integrierter Form erlebbar machen (vgl. Bolten 1999, 2000).
Im Zusammenhang von interkulturellem Training definiert Thomas interkulturelle Kompetenz als »Fähigkeit, die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Urteilens, des Empfindens und des Handelns bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen« (Thomas 2009, zit. nach Mösko et al. 2012, S. 16). Laut Thomas setzt die Entwicklung interkultureller Kompetenz die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Orientierungssystemen voraus. Voraussetzung dafür ist die Grundhaltung einer kulturellen Wertschätzung (vgl. ebd.).
Mösko et al. weisen auf das derzeit am weitesten verbreitete Konzept interkultureller Konzept von Sue et al. (1982). Das dreidimensionale Modell gliedert sich in die folgenden Dimensionen (Sue u. Sue 1990): Überzeugungen (»beliefs«), Wissen (»knowledge«) und Fähigkeiten (»skills«).
In zahlreichen Fort- und Weiterbildungen, sowie interkulturellen Trainingsveranstaltungen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Kollegen, die in interkulturellen Überschneidungssituationen arbeiten, oft unsicher sind, wenn es um die Behandlung von Patienten aus anderen »fremden« Kulturen geht. Es ist anzunehmen, dass keine tragfähige therapeutische Beziehung hergestellt werden kann, wenn im therapeutischen Zwischenraum ein Gefühl der Angst und Unsicherheit dominiert.
Fallbeispiel: »Teamsupervision«
In einer Teamsupervision wurde mir eine türkeistämmige Familie vorgestellt, bei der eine hohe negative Paardynamik zwischen dem Kindesvater und der Kindesmutter sowie enorme Konflikte mit der Schwiegermutter (Mutter des Kindesvaters) vorhanden sind. Die Schwiegermutter lasse sich wie eine Königin von der Kindesmutter bedienen. Als Hauptverantwortliche für die Versorgung des sterbenskranken Kindes fühle sich die Kindesmutter mit der Situation überfordert und reagiere zeitweise mit schweren Depressionen, die mit Suizidgedanken einhergehen.
Sowohl in den Herkunftsfamilien des Ehepaares wie auch in der Familie, um die es geht, scheint ein traditionelles Rollenverständnis zu herrschen. Die Kindesmutter wird weder von ihrer Herkunftsfamilie noch von ihrem Ehemann in Schutz genommen und unterstützt. Das Palliativteam, das mit zehn Fachkräften 22 Stunden täglich bei der Familie engagiert seinen Dienst leistet, fühlt sich der Situation gegenüber hilflos. Ständiges Einmischen der Kindesgroßmutter und viele Besuche behindern das Team. Das Team sieht keine Möglichkeit, die Situation zu verändern und die Effektivität seiner Arbeit zu erhöhen.
Bei der Auseinandersetzung mit der Familienstruktur stellt sich heraus, dass die Familienstruktur hierarchisch und patriarchalisch gegliedert und geschlechts- und generationsabhängig ist, wie es vielfach bei Familien mit ruralen Wurzeln aus der Türkei beobachtet werden kann.
Auf mehrfache Nachfragen konnte von den Teammitgliedern kaum ein Vorschlag bezüglich einer möglichen Umgangsweise mit der Situation entwickelt werden. Ich bat die Teilnehmerinnen, sich doch einmal vorzustellen, dass es sich hierbei nicht um die türkeistämmige Familie Aslan (Name geändert) handelte, sondern um eine deutsche Familie (Familie Müller). Man solle Vorschläge machen, wie man mit der Familie Müller in dieser Situation umgehen könne. Erst ab da wurden mehrere konkrete und umsetzungsfähige Vorschläge gemacht. Unter den Teilnehmerinnen herrschte Einigung darüber, dass – mit Ausnahme von einigen wenigen – fast alle Vorschläge auch im Umgang mit der Familie Aslan als geeignet betrachtet werden könnten. Daraufhin konnten konkrete Handlungsschritte vereinbart werden, mit denen die Teammitglieder zufrieden waren.
Die vorsichtige und zurückhaltende Haltung der Teilnehmerinnen hat sich verändert, als es nicht mehr um eine Familienstruktur ging, deren traditionell geprägte...