1 Revolution in der Rechnungslegung
»Gegenstand dieser Verordnung ist die Übernahme und Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards in der Gemeinschaft, mit dem Ziel, die von Gesellschaften im Sinne des Artikels 4 vorgelegten Finanzinformationen zu harmonisieren, um einen hohen Grad an Transparenz und Vergleichbarkeit der Abschlüsse und damit eine effiziente Funktionsweise des Kapitalmarkts in der Gemeinschaft und im Binnenmarkt sicherzustellen.« (IAS-Verordnung 2002, Art 1)
Mit diesem Wortlaut beginnt die IAS-Verordnung der Europäischen Union, die im Jahr 2002 beschlossen wurde. Sie verpflichtet europäische kapitalmarktorientierte Unternehmen seit 2005 zur Veröffentlichung von Konzernabschlüssen nach internationalen Rechnungslegungsstandards, nämlich nach International Financial Reporting Standards (IFRS), die auch die bisherigen International Accounting Standards (IAS) umfassen. Die treibende Kraft für diese Regelung ist die Verbesserung der Effizienz der Kapitalmärkte in der EU. Es wird davon ausgegangen, dass die internationalen Rechnungslegungsstandards mehr Qualität der Finanzberichterstattung, eine höhere Transparenz und eine bessere internationale Vergleichbarkeit schaffen als die bisher angewandten nationalen Rechnungslegungsvorschriften.
Die IAS-Verordnung kam nicht völlig aus heiterem Himmel, sondern ist das Ergebnis eines bereits seit einigen Jahren anhaltenden Trends zu einer Internationalisierung der Rechnungslegung. In Deutschland begann diese Entwicklung hin zu einer internationalen Rechnungslegung bereits Anfang der neunziger Jahre. Ein entscheidender Schritt war die Entscheidung von Daimler-Benz für eine Notierung an der New York Stock Exchange (NYSE) im Jahr 1993. Damit brach Daimler-Benz aus der vormals deutschen wie auch europäischen »Verhandlungslinie« gegenüber der US-amerikanischen Börsenaufsicht SEC aus, die eine gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen zu erreichen suchte. Für die Notierung an der NYSE war eine Überleitung des Jahresergebnisses und Eigenkapitals vom deutschen Konzernabschluss auf US-amerikanische Rechnungslegungsstandards (US-Generally Accepted Accounting Principles, USGAAP) erforderlich. Der damalige Finanzvorstand von Daimler-Benz betitelte dies mit »Internationale Unternehmen brauchen eine globalisierte Rechnungslegung«.1
Nachdem solcherart das Eis gebrochen war, veröffentlichten etliche andere deutsche und später auch österreichische Unternehmen Konzernabschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen. Darunter wurden zunächst sowohl die IFRS (damals noch IAS) als auch die US-GAAP verstanden. Zu dieser Zeit war nämlich unklar, ob sich letztlich die IFRS oder die US-GAAP durchsetzen würden. Etliche Unternehmen glaubten an die IFRS und veröffentlichten Konzernabschlüsse nach IFRS, andere entschlossen sich zu einer Rechnungslegung nach US-GAAP. Mit der IAS-Verordnung ist diese Unsicherheit beseitigt worden.
Aussage
»Die Gefahr, daß Deutschland in den nächsten Jahren gezwungen werden könnte, die GAAP der USA zu übernehmen, ist ernsthaft zu befürchten.« Herbert Biener (1993), S. 352.
Was in der Rechnungslegung derzeit geschieht, verdient getrost Beschreibungen wie »Revolution« oder »Paradigmenwechsel«.2 Mit der Abkehr vom HGB durch große und meinungsbildende Unternehmen wird nämlich eine Jahrzehnte dauernde Bilanzierungstradition in Frage gestellt. In ähnlicher Weise gilt dies aber auch für den Prozess des Standardsettings, für das Enforcement und für die Corporate Governance.
Ausspruch
»Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen. […] Aber, einmal ganz ehrlich, haben selbst Insider bei uns in Deutschland dieses Tempo erwartet?« Heinz Kleekämper (1995), S. 414 f.
Die deutsche Literatur kommentierte diese Entwicklung zunächst eher negativ. Im Lauf der Zeit wandelte sich die Einstellung, und spätestens seit dem Beschluss des deutschen Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetzes (KapAEG) 1998 wurde die Internationalisierung der Rechnungslegung ein Faktum. Die zwischenzeitliche Publikation von umfangreichen Kommentaren zu IFRS3 – ganz im Sinne der bisher in Deutschland üblichen HGB-Kommentare –, das Entstehen neuer Zeitschriften, die sich nur mit internationaler Rechnungslegung befassen,4 sowie eine steigende Anzahl von Büchern und Aufsätzen belegt den massiven Schwenk. Es gibt aber weiterhin durchaus kritische Stimmen in der Literatur. Seit der Entscheidung der EU in Richtung der IFRS sind diese jedoch aus der Praxis nicht mehr wegzudenken.
Die Auswirkungen des Übergangs auf internationale Rechnungslegungsgrundsätze können erheblich sein. Dies spürten etwa Daimler-Benz 1993 beim Übergang von HGB auf US-GAAP genauso wie später Hoechst 1994 beim Übergang auf einen dualen Abschluss (HGB/IFRS) und nochmals 1997 beim Übergang auf US-GAAP. Es erheben sich sofort Fragen nach dem »richtigen« Gewinn und der implizierten Qualität der Rechnungslegung. Während die erheblichen Abweichungen zumeist auf wenige Einzelposten zurückgeführt werden können, sind von einem Übergang auf internationale Standards jedoch praktisch alle Bilanzposten mehr oder weniger stark betroffen.
Auswirkungen internationaler Rechnungslegung5 | |
Jahresergebnis 1993 (Mio. DEM) | 615 | –1.839 |
Eigenkapital 1993 (Mio. DEM) | 18.145 | 26.281 |
Jahresergebnis 1995 (Mio. DEM) | 1.709 | –57 |
Eigenkapital 1995 (Mio. DEM) | 12.445 | 14.001 |
Jahresergebnis 2000 (Mio. EUR) | 3.469 | 3.719 |
Eigenkapital 1999 (Mio. EUR) | 9.811 | 20.918 |
SmithKline Beecham | UK-GAAP | US-GAAP |
Eigenkapital 1989 (Mio. USD) | 7.000 | –600 |
Die beobachtete Tendenz hin zu internationalen Rechnungslegungsstandards bedeutet nicht unbedingt, dass diese Standards der deutschen Rechnungslegung generell überlegen wären. Grundsätzlich ist es wissenschaftlich nicht möglich, bestehende Rechnungslegungssysteme nach ihrer Qualität zu reihen. Jedes System, wie immer es gestaltet ist, besitzt Vorund Nachteile, je nachdem, welchen Zweck es erfüllen soll, in welchem institutionellen Rahmen es steht und auf welche individuelle Entscheidungssituation von Bilanzadressaten es abstellt.
In jüngerer Zeit ist etwas Ernüchterung eingetreten, weil sich zeigt, dass die internationalen Rechnungslegungsstandards in der praktischen Anwendung vielfach sehr komplex sind, wobei unklar ist, worin der zusätzliche Informationsnutzen besteht. Auch wird die konzeptionelle Entwicklung der Standards, wie zum Beispiel das Zurückdrängen der Anforderung an Verlässlichkeit der Informationen zugunsten mehr Zukunftsbezogenheit, von vielen als ungünstig befunden.
Ausspruch
»Geradezu euphorisch wurden in der Vergangenheit die internationalen Bilanzregeln als Inbegriff einer fairen und vertrauenswürdigen Bilanzierung gepriesen. Es wurde von einem System der gläsernen Taschen ohne Bilanzpolitik und stille Reserven gesprochen – und nicht wenige Anhänger sahen in diesen Regelungen sogar einen Garant gegen plötzliche Unternehmenspleiten.
Dagegen wurde das HGB-Bilanzrecht mit den vielen gesetzlichen Wahlrechten als ›Spielball der Bilanz-Jongleure‹ und seinem starken Vergangenheitsbezug als ›provinziell‹ abgewertet. Zwischenzeitlich ist diese simple Schwarzweiß-Malerei nicht mehr zu finden, und an die Stelle der Euphorie ist Ernüchterung getreten. Auch hier bestätigt sich die von Schildbach aufgestellte These, ›dass die Stärke eines Trends kein Indikator für die Güte des Zielpunkts ist, zu dem er führt‹.«
Karlheinz Küting (2006a), S. 5.
Dieses Buch informiert aktuell und umfassend über die internationalen Rechnungslegungsstandards, nämlich die International Financial Reporting Standards (IFRS), die die bisherigen International Accounting Standards (IAS)...