„Vor allem aber meide man die Schwarzseher und Klagesüchtigen, denen nichts gut genug ist, um nicht darüber ein Klagelied anzustimmen. Mag einer auch ein treuer und wohlwollender Gesell sein, er ist doch ein Feind unserer Ruhe durch seine ewige Aufregung und sein beständiges Seufzen.“
(Seneca, Von der Seelenruhe)
EINLEITUNGSVORLESUNG
„Ungefähr im Dezember 1910 änderte sich die menschliche Natur“, zitiert Charles Taylor Virginia Woolf, um einen Epochenwandel zu markieren, den Taylor mit den folgenden Worten weiter umschreibt: „Ein Parallelfall ist in den 1920er Jahren André Gides öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität – ein Schritt, zu dem ihn nicht nur sein Begehren, sondern auch seine Haltung in Bezug auf Moral und Integrität veranlassten. (. . .) Aber erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt diese Ethik der Authentizität die allgemeine Einstellung der Gesellschaft zu prägen. Es wird gang und gäbe, die ‚eigenen Angelegenheiten’ selbst erledigen zu wollen“3
Seit den sechziger Jahren ist der Anspruch auf individuelle Mündigkeit in der westlichen Welt eine breite Bewegung geworden, an der sich heute die institutionelle Politik kaum mehr vorbeimogeln kann. Die Bürgerinnen lassen sich häufig nicht mehr von den Administrationen bevormunden, suchen im Zweifelsfall eigene Wege. Den Öko-Markt haben Bürgerinnen in den siebziger Jahren eigenständig angefangen. Seither hinkt die Politik ökologisch hinterher – wie bei der Kernenergie. Im bayerischen Lindau am Bodensee – um ein anderes sehr kleines Beispiel hinzuzufügen – schicken viele Eltern ihre Kinder auf Schulen im benachbarten Baden-Württemberg, um sie nicht den viel höheren Leistungsanforderungen in Bayern auszusetzen –, was längst zu einem wiewohl noch lokalen Problem für die Schulen in Lindau wird. Wer es sich leisten kann, beschult seine Kinder obendrein privat – durchaus ein Trend, obgleich nicht unbedingt immer mit emanzipatorischen Motiven.
Angesichts von vielfältigen Individualisierungsprozessen lässt sich das Verhältnis von Bildung und Politik nicht mehr in der traditionellen Form abhandeln, wie es von Platon bis Rousseau und darüber hinaus in der politischen Philosophie üblich wurde. So schreibt Taylor noch 1985 in konträrer als der angeführten Perspektive: „das Subjekt selbst kann in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichtemachen oder nicht.“4 Als Kommunitarist gibt Taylor der Gemeinschaft das Primat gegenüber dem Individuum, das ihm unfähig erscheint, von sich aus seine Freiheit selbständig zu nützen bzw. bloß aus sich heraus sich selbst zu verwirklichen.
Just hier liegt das Problem jeder Pädagogik, die das Individuum auf die soziale wie politische Allgemeinheit bzw. Gemeinschaft welcher Art auch immer hin erziehen möchte von Pestalozzi bis zu Wolfgang Klafki, der 1985 bemerkt: „Die Erziehungswissenschaft und das allgemeine pädagogische Bewusstsein (. . .) müssen einen universalen Horizont gewinnen, und zwar im Prinzip in allen Staaten und Kulturen.“5 Das konnte in jenen nachachtundsechziger Jahren noch progressiv klingen. De facto aber entwickelt es ein übergeordnetes normatives Menschenbild, das sich auch auf Anpassungsdruck stützen muss.
Aus der klassischen Perspektive der politischen Philosophie, die sich zumeist auf Platon und Aristoteles beruft, wird in Bildung und Erziehung durch den Staat bzw. die herrschenden Eliten – das können auch Kommunisten sein – den Bürgern vorgeschrieben, was sie sich gefallen lassen müssen. Das gilt erst recht für die sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzende gouvernementale Regierungsform, bei der die Souveränität in den Hintergrund rückt, während sich die Administration an der Logik der Bevölkerung orientiert, was den Eindruck erwecken könnte, die Verwaltung diene der Bevölkerung – man denke an den berühmten Spruch Friedrichs II., er sei der erste Diener des Staates. Dieser Eindruck ist nicht mal falsch: De facto dient die Verwaltung – auch die kommunistische oder eine wissenschaftlich aufgeklärte oder wenigstens beratene – jedoch einer selbstentworfenen Vorstellung von der Bevölkerung, ist nun mal jeder Begriff derselben – und umso mehr das ethnische, gar rassische Verständnis vom Volk – ein metaphysisches Konstrukt, was selbstredend keinesfalls verhindert, dass sich dadurch eine hermeneutische Macht ausbreitet.
Dementsprechend entsteht im 18. Jahrhundert die Pädagogik, in der man Anfang des 19. Jahrhundert Konzepte der Allgemeinbildung entwickelt, wird eine weitgehend flächendeckende Schulausbildung im 18. Jahrhundert propagiert und im 19. Jahrhundert realisiert, deren konkreter Zweck jenseits aller erzieherischen Humanitätsvorstellungen in der Disziplinierung und Herrichtung des Untertanen liegt, so dass dieser seinerseits ein nützliches Mitglied der Gesellschaft wird. Selbst in der Pädagogik Rousseaus, die dem Kind gerecht zu werden versucht, hat dergleichen keinen anderen Sinn, als den Menschen zu einem angepassten Bürger in einer Gesellschaft zu machen, die allerdings nach Rousseaus Vorstellungen Gerechtigkeit und Freiheit realisiert.
Nicht nur im Anschluss an Marx vertreten bis heute viele die Auffassung, dass ein Leitbild in der Erziehung vonnöten ist, allein um der politisch motivierten Gewalt zu begegnen – ein Argument, an dem man denn auch kaum vorbeikommt, wenn man es wenigstens negativ betrachtet und nach jener Handlungsweise fragt, die man als am abscheulichsten ablehnt, weil sie sich der Grausamkeit bedient. Das ist in abendländischer Tradition keineswegs selbstverständlich. Die erste der sieben christlichen Todsünden ist der Stolz, während die Grausamkeit bei den christlichen Todsünden gar nicht vorkommt. Das Christentum bediente sich gar der Grausamkeit – man denke nur an die Inquisition. Für viele Politiker gehört Grausamkeit zum Handwerk, wozu als erster Machiavelli öffentlich aufrief: „Es braucht sich also ein Fürst nicht vor der Nachrede der Grausamkeit zu scheuen, wenn er dadurch seine Untertanen eint und in Treue hält.“6 Noch im selben, dem 16. Jahrhundert wird dagegen Montaigne angesichts von religiösen Bürgerkriegen die Grausamkeit als ein weit verbreitetes Laster bezeichnen: „Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit (. . .) – Laster, die bei uns doch gang und gäbe sind.“7 Daran schließt Judith Shklar 1984 an und wird damit Richard Rorty inspirieren. Grausamkeit zerstört die Menschenwürde und raubt jegliche Freiheit, normalerweise das höchste Gut für Liberale: „Dagegen wertet der Liberalismus der Furcht die Grausamkeit als schlimmstes Laster und erkennt ganz richtig, dass Furcht uns auf den Stand lediglich reaktiver Empfindungswesen zurückwirft.“8 Gerade Misanthropie ist bei Philosophen durchaus verbreitet. Sie führt leicht zur Grausamkeit. Wenn man aber Grausamkeit als das schlimmste Laster versteht, dann sollte das nach Shklar zur Mäßigung beitragen und somit pädagogische Effekte haben.
Allerdings löst auch ein minimalistisches pädagogisches Ziel nicht das Problem auf, dass Erziehung strukturell und mit fortschreitendem Alter des Zöglings umso mehr sich auf eine Autorität berufen muss, die mit individueller Mündigkeit in Konflikt gerät. Daher lässt sich das Problem mit einem neuen Leitbild leider nicht so einfach lösen. Denn seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientieren sich sehr viele Bürgerinnen nicht mehr am Staat, schon lange nicht mehr an der Religion oder Tradition, nicht mehr an der Klasse oder am Stand, sondern suchen nach diversen Wegen, die sich nicht mehr homogenisieren lassen: ein ähnliches Problem, das sich dem Nationalstaat bereits im 19. Jahrhundert im Angesicht von Klassenkämpfen stellte, dem er mit keiner Staatsreligion mehr zu begegnen vermochte, weswegen nationalistische Strömungen entstanden, die sich auf die Ethnie beriefen, wenn sie nicht sogar rassistisch dachten.
So verschärft sich im Zuge von Individualisierungsprozessen dieses Problem, lässt es sich nicht mehr durch einen Kompromiss zwischen bestimmten sozialen Gruppen lösen, z.B. durch eine Angleichung von deren Leitbildern. Der gelegentlich wiederkehrende Ruf nach einer Leitkultur verhallt zwischen immer neuen zum Teil primär individuellen Interessen, die sich öffentlich Gehör verschaffen: die Frauen, die Schwulen, Transgender, die Alten, die Behinderten, die Sportler, die Haschischverbraucher, während man höchstens die Raucher zum Schweigen bringt, die so wenig wie die Alkoholkonsumenten eine homogene Gruppe darstellen.
Diese Individualisierungsprozesse und jene der Diversifizierung beschleunigen sich im Zeitalter des Internet. Soziale Netzwerke fördern die Gruppenbildung...