Auf dem Weg zum Filmmuseum geht es Richtung Tajrishplatz, dem Zentrum des Teheraner Nordens, die kolossale Vali-Asr hoch, die längste Straße der Hauptstadt und eine der vielen Verkehrsschlagadern, die an chronischer Thrombose leiden. Der erste Gang röhrt. Zweieinhalb Meter rumpeln. Die Bremse quietscht. Wir werden nach vorn geschleudert und wieder zurück in die Sitze. Der Fahrer hupt lethargisch. Öööö-ööööö tönt überall um uns her.
Die Straße ist breit und komfortabel, sechsspurig ausgebaut. An den Rändern, hinter gepflegten, blumenbesetzten Grünstreifen und Gehwegen, liegt Bauland, mit blaulackierten Spundwänden eingezäunt. Die Kräne beziehen bereits Stellung, Container für die Mannschaften der Bauarbeiter sind aufgestapelt, bald kommen die Stahlträger, aus denen man hier die Skelette der Hochhäuser montiert. Da die Straßenachse, auf der wir uns befinden, über mehr als ein Dutzend Kilometer kontinuierlich ansteigt, den schalen Süden der Stadt mit dem schicken Norden verbindet, hat man aus dem Taxi einen herrlichen Panoramablick, der von einer kolossalen Gebirgswand abgeschlossen wird, vor der die Nordteheraner Skyline wie eine Ansammlung von Spielklötzchen wirkt. Die Sonne spiegelt sich in den Blechen der Wagen, die Stoßstange an Stoßstange stehen, ein vielgliedriger Lindwurm, der in die Seitenstraßen drängt, die Hauptstraßen flutet, die Abkürzungen verstopft und die Zubringer versperrt, sich über Stadtautobahnen ausbreitet, über Brücken grätscht, durch Unterführungen und Tunnels wühlt.
Die allmählich aufkommende Schwüle des frühen Nachmittags macht das Staustehen immer unerträglicher. Gestern hat es den halben Tag kräftig geregnet. Heute früh war es zunächst bedeckt, gegen elf dann riss der Himmel auf, die Sonne schnitt Grimassen, die Ausdünstungen des Asphalts und der Motoren sättigten die Luft: Schnappatmung, Halskratzen, Migräne. Mit Glück (wir haben heute keines) regieren auf dem Teheraner Hochplateau leichte Fallwinde, die sich an den Elburz-Ausläufern verfangen und von dort aus sanft in die Tiefe rollen. Rollten wir, so rollten wir ihnen entgegen. Aber wir rollen nicht, und der Wind hat seinen Betrieb gerade eingestellt.
Golineh lächelt und zuckt mit den Schultern. Sicherlich, wir waren vor zwei Stunden verabredet gewesen. Aber der Verkehr …
Wir sitzen im Entwurfsstudio von Diba Tensile Architecture, einem der führenden Architektur- und Ingenieurbüros des Iran. Es residiert in einer kleinen, niedrigen Hinterhofbaracke mit schummrigen Oberlichtern. Überall Bücherregale, Beistelltische, Raumteiler, Deckenfluter, dazwischen eine Kochnische, davor Kisten und Kartons. Im Zentrum des Raumes weiße Schreibtischplatten auf einfachen Metallböcken, zu zwei Gruppen zusammengeschoben, an denen jeweils acht Mitarbeiter sitzen oder zehn oder zwölf, von Projekt zu Projekt verschieden. Es herrscht gemütliche Enge, die Stimmung ist geschäftig, aber gelassen.
Vor einer Art verrammeltem Alkoven, in dem der dynamische Bürovorsteher Alireza Behzadi thront und seine Anweisungen an die überwiegend weiblichen Mitarbeiter gibt, steht ein dunkles Sofa. Hierhin komplimentiert mich Golineh. Alireza, der den kurzen Handschlag mit einem »See you« kombiniert, beachtet uns nicht weiter, schaut abwechselnd auf den Bildschirm seines Rechners und telefoniert. Der flinke, mausäugige Bürodiener stellt auf dem gläsernen Tischchen vor uns Tee und Süßigkeiten bereit.
Golineh ist Anfang dreißig, spricht hervorragendes Englisch. Sie ist ausgebildete Architektin und für die Kommunikation des Unternehmens zuständig. Sie scheint alle Zeit der Welt zu haben – und selbst wenn die Herstellung dieses Eindrucks bloß zum Geschäft gehören mag, so kann ich nicht anders, als Golinehs Kunst der Gastlichkeit wertzuschätzen, nicht allein, da sie vielen anderen Menschen abgeht, sondern weil ich eine Ruhe vermittelt bekomme, die ich im Trubel dieser Stadt gut gebrauchen kann.
Zunächst breitet Golineh die Geschichte des Architekturbüros vor mir aus. Der bislang größte Erfolg liege knapp vier Jahre zurück: Es galt, einen öffentlichen Park mit dem Grundstück des Museums für den Iran-Irak-Krieg über die Stadtautobahn hinweg zu verbinden. Fast fünfhundert Meter lang ist das Bauwerk, eine der kolossalsten Brücken, die je im Nahen Osten errichtet worden sei. Sie teilt sich in mehrere Ebenen, integriert Aussichtsplattformen, kleine Gärten, mehrere Restaurants. Ihre gigantischen Stützen sehen aus wie Bäume, die aus einer Schlucht emporwachsen. Von oben beobachtet man die winzigen Autos auf der grauen Piste tief darunter. Bei fließendem Verkehr, stelle ich mir vor, sähen sie aus wie Wasser, das durch einen Canyon rauscht. Fernes Hupen, röhrende Hirsche. Der Blick führt hinüber auf die erhabene Wand der Berge. Sie ragt steil in den Himmel. Sonnenbeschienene Schneeplacken zwinkern herunter. Man ist so hoch, die Stadt ist so weit, die Welt ist so schön: auf dieser Brücke können die Menschen fliegen. Für die Aussicht, die man von seinem Gebäude aus hat, kann der Architekt am wenigsten. Für sie wird er aber oft am meisten gelobt. Kurz nach seiner Fertigstellung wurde das Brückenbauwerk mit dem Aga-Khan-Preis ausgezeichnet.
Golineh kommt zum Punkt: dem Grund meiner Reise und unserer Begegnung. Ich bin hier, weil das Architekturbüro Diba gleichzeitig eine Kultur-Eventagentur namens Saba unterhält, die an internationalem Austausch interessiert ist. Meine Aufgabe besteht darin, eine für das Institut für Auslandsbeziehungen kuratierte Ausstellung zum Moscheenbau der Gegenwart nach Teheran zu bringen. Ob das möglich sein wird, zu welchen Bedingungen, in welcher Form, wann und wo, kann aber nur eine Person entscheiden: Leila Araghian. Sie ist die Chefin von Diba und Saba. Aber sie ist nicht hier. Sie ist, wie ich erfahre, auf einer Baustelle auf dem Teheraner Messegelände, wo in wenigen Tagen die Abnahme für ein Projekt von italienischen Auftraggebern stattfindet.
Ob ich zur Messe fahren soll? Zu weit. Ob ich morgen wiederkommen soll? Schlecht. Kann ich Leila anrufen? Unmöglich. Übermorgen? Golineh lächelt sich aus der Affäre.
Ich verlasse die Bürobaracke zufrieden, zwar nicht mit einer Garantie auf Frau Araghian, deren Telefonnummer man hütet, als handele es sich um ein Geheimnis aus tausendundeiner Nacht. Aber doch mit einer Einladung zum gemeinsamen Frühstück mit den Kollegen im Büro. Überhaupt kümmert man sich reizend um mich: Alireza, der Büroleiter, stellt mir das Gästezimmer seines Apartments zur Verfügung. In wechselnder Konstellation begleiten mich Angestellte von Diba und Saba durch die Stadt. Sie vermitteln Kontakte, machen Termine, bestellen Taxis, empfehlen Restaurants, beantworten Fragen, sodass die kleine Hinterhofbaracke bald zum Basislager für meine Erkundungen wird.
Iranische Rituale. Stühle ranschieben, Türen aufhalten. Gesten des Respekts: aufstehen, Platz machen, nicken, verbeugen. Grußformeln, Dankesreden, Grußformeln wiederholen, Dankesreden wiederholen, nochmals und nochmals, leiser, mit einem Lächeln im Gesicht, wieder von vorn.
Der Besucher aus dem Westen, der das ungewohnte Benehmen als übersteigert empfindet, verstrickt sich in chaplineske Situationen. Eine nachmittägliche Führung durch die Architekturfakultät der Islamischen Universität von Täbriz, die in mehreren repräsentativen Bürgerhäusern des 18. und 19. Jahrhunderts untergekommen ist – fraglos sehenswert und dank des Engagements der Denkmalpfleger in hervorragendem Zustand – steigert sich zu einem regelrechten Hindernislauf, da ich, Gastrecht ist Gastrecht, die zahlreichen Treppen zuerst erklimmen, die Dutzenden Türen zuerst durchschreiten muss, Treppen und Türen, von denen ich freilich nicht wissen kann, wohin sie führen. So zögere ich Mal um Mal und versuche, den mir zur Seite gestellten Fakultätsleiter vor mir durchzuwinken. Das lässt der aber nicht zu. Ich kann winken, was ich will, Dr. Khosravi bleibt wie angewurzelt am Fuße der Treppen oder neben einer Türlaibung stehen und wartet, bis ich, »Sorry« oder »Thank you« sagend, als Erster die Stufe nehme oder die Schwelle überwinde und mir jedes Mal wie ein Trampel vorkomme. Einmal erkenne ich aus dem Augenwinkel, dass Dr. Khosravi beim Warten auf mich die Augenlider zupresst und sich mit der Hand übers Gesicht wischt. Ein anderes Mal fixiert er beharrlich die Decke, bis ich endlich weitergehe. Er verzieht keine Miene. Aber ich meine zu spüren, dass etwas in ihm kocht.
Vor allem am Telefon nimmt das Phrasendreschen bisweilen kein Ende. Die Floskeln hängen wie rhetorische Rattenschwänze am eigentlichen Gespräch, unterstützt von heftigen Verbeugungen im leeren Raum. Und dann gibt es tatsächlich noch das legendäre Freundlichkeitsgefasel, vor dem jeder Tourist schon vor Reiseantritt gewarnt wird: Taroof, Nettsprech, das selbst Iranern auf den Wecker geht – gerade denen, die es gleich nach ihrer Kritik daran selbst ausgiebig...