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E-Book

Schnittstelle Körper

AutorGeorg Seeßlen, Markus Metz
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl398 Seiten
ISBN9783957576637
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Unter den Bedingungen eines digitalisierten Kapitalismus bzw. einer kapitalistischen Digitalisierung findet derzeit ein radikaler Umbau des Menschen, seiner Individualität, seiner Gesellschaftlichkeit, seiner Seele, seiner Kultur statt. Dieser Umbau wird alle Bereiche des Lebens verändern: Geburt, Liebe, Tod, Arbeit, Kommunikation, Gemeinwesen, Politik, Krieg - nichts bleibt unberührt von den unaufhaltsamen Umwälzungen. Markus Metz und Georg Seeßlen haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese fortwährend sich beschleunigenden Veränderungen beschreibend zu begleiten. So führen sie in dieser gleichermaßen faszinierenden und bunten wie erschreckenden Studie durch die Welt der Wearables und Drohnen, der künstlichen Intelligenz und des Internets der Dinge, Big Data und des digitalen Brainwashing namens E-Learning, der Quantifizierung des Sozialen und der Bodyfitness - nicht um Schrecken zu erzeugen oder moralisch den Zeigefinger zu erheben, sondern um ans Licht zu bringen, was sich im Alltäglichen, Selbstverständlichen und Unabänderlichen verbirgt. Denn 'nicht, dass sich etwas ändert, ist das Schreckliche, sondern dass sich die Dinge ändern, ohne dass sich zugleich das Bewusstsein ändert'.

Georg Seeslen, 1948 in Munchen geboren, studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und arbeitet als freier Autor und Filmkritiker. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel, zuletzt bei Matthes & Seitz Berlin zusammen mit Markus Metz: 'Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction'.

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Leseprobe

EINLEITUNG


1


Im März 2015 fragte die Zeitschrift Rolling Stone noch: »Ob es das Modewort des Jahres wird? Der Kunstbegriff ›Wearable‹, also etwa ›Anziehteil‹, ist in Tech-Kreisen seit Langem ein heißes Thema.«1 Es wurde mehr als nur ein Modewort, nämlich ein neuer Impuls für die elektronische Branche, ein neues Supergeschäft: Etwas mehr als vier Milliarden Dollar Umsatz nach verschiedenen Schätzungen im Jahr 2015, Tendenz kräftig steigend. Für das Jahr 2018 ist vom »Statistik-Portal« im September 2014 das Überschreiten der 9-Milliarden-Grenze anvisiert.2 Auf der IFA-Messe »Consumer Electronics Unlimited« 2015 in Berlin wurde für das Jahr 2019 geschätzt, dass dann 126 Millionen am Körper tragbare Computer auf dem Markt seien.3 Ein lukrativer Zweig der Industrie ist entstanden: »Fitness-Armbänder wie Fitbit, Jawbone oder das Nike+ Fuelband sind derzeit die Verkaufsschlager in einem wachsenden Markt. Pro Armband verlangen die Hersteller rund 100 Euro. Schon im Jahr 2018 könnten die Wearable Technologies einen Wert von über 50 Milliarden Dollar (umgerechnet rund 38 Milliarden Euro) erreichen, prognostiziert die Schweizer Großbank Credit Suisse – das Zehnfache der Summe von 2013. ›Ein Mega Trend‹, prophezeit das Institut.«4 Gewiss machte ein kommender, nahezu unerschöpflicher Markt den Herstellern wie den Investoren glänzende Augen und schien noch einmal Vitalität, Innovation, Wachstum, Kreativität und all das, was eine prosperierende digitale Wirtschaft eben so braucht, zu versprechen. Ein Antidot gegen das unabänderliche Gesetz vom Fall der Profitraten schien gefunden. Geht doch! Dass unter den vielen, vielen Angeboten auch etliches purer Blödsinn, manches sogar eher gefährliches Spielzeug ist – das liegt eben in der Natur der Sache.

Das Phänomen der Wearables muss von verschiedenen Seiten in den Blick genommen werden. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Konsumschwall, sondern auch um einen Wandel in der Subjekt-Repräsentation in der neuen Gesellschaft des digitalen Kapitalismus; außerdem stellt es eine neue, besonders verführerische Kontroll- und Datensammelmaschine dar; und schließlich natürlich auch einen Teil des neuen Körpergefühls. Wearables sind, seit dem Beginn ihrer Einführung in den frühen Zehnerjahren, doch etwas mehr geworden als ein ökonomisch belebender Trend der Fit- und Fun-Gesellschaft. Sie verändern unser Leben (schon wieder), wobei manche Veränderung dabei nicht so toll ist, wie es uns Werbung und »Style«-Propaganda vormachen wollen.

Wearable Technology wird, jedenfalls auf den ersten Blick, auf dem heitersten der vier großen Felder eingesetzt, auf denen sich die Verschmelzung von digitaler Technologie (einschließlich dessen, was man sich »Künstliche Intelligenz« (KI) zu nennen angewöhnt hat) mit dem Menschen beobachten lässt: die Arbeit, der Krieg, die Medizin und – das Entertainment. Wearable Technology hebt die Grenzen zwischen Alltag und Unterhaltung, zwischen erster und zweiter Wirklichkeit mählich auf; sie verknüpft aber auch Arbeit, Freizeit und »leere Zeit« dazwischen, Kommunikation und Abschottung, individuelle Aufrüstung und allgemeines Mainstreaming. Mit Wearable Technology kann man die äußere Welt zugleich ausschalten und öffnen, sie zugleich kontrollieren und sich von ihr kontrollieren lassen. Nur ist das, was man ausschaltet, und das, was man sich hereinholt, bis in die eigene Wahrnehmung, in den eigenen Körper, beileibe nicht dasselbe. Was da passiert, wirkt wie ein schlechtes, zugleich aber unwiderstehliches Tauschangebot. Die äußere Wirklichkeit wird durch Wearable Technology verändert, und zwar sowohl im Empfinden des Subjekts als auch in der Struktur von Sprachen, Ordnungen und Befehlen. Sie schafft eine neue Form der Person im (nun nicht mehr so) öffentlichen Raum. Und sie schafft eine neue Form von Macht.

Die drei Hauptinstrumente der Wearable Technology im Alltags- und Freizeitbereich sind:

a. die Sport- und Fitnessarmbänder (mindestens mit integrierter Uhr und Netzanschluss), aus denen sich das Allround-Instrument der Smartwatch entwickelte;

b. die Datenbrillen, die zum Schluss ein neues, »verbessertes« Bild der Welt ergeben; und

c. die Kopfhörer, mit denen sich mehr oder weniger beliebig eine akustische Mauer zwischen der inneren, digitalen und der äußeren, analogen Kommunikation ihrer Träger errichten lässt.

Dazu kommen die Cybergloves, Handschuhe, mit denen man seine haptischen Fähigkeiten verbessern oder in den virtuellen Raum verlängern kann, und alle erdenklichen Gadgets und Apps, mit denen man seine kleinen elektronischen Geräte zur Orientierung in der realen wie in der virtuellen Welt aufrüsten kann, ganz abgesehen von den Bildschirmen, mitsamt ihren dreidimensionalen Erweiterungen, von den Spielen und den Informationen, die die User mit der Welt verbinden, soweit sie entsprechend verbindbar und in Daten zu überführen ist. Alle Sinne sind betroffen, und vom Schrittzähler der Gesundheits-App bis zur Virtual Reality sind die zwei Welten, die analoge und die digitale, miteinander verbunden, nicht mehr nur in der Maschine, sondern eben auch am Körper. Nicht nur die Welt, sondern auch das Subjekt wird verdoppelt. Es entsteht eine Kommunikation über Kreuz.

Den Schlüssel zu alledem hält der Mensch unserer Zeit buchstäblich in seiner Hand. Es ist das »Smartphone«: das digitale Allzweckgerät, der elektronische Zauberstab, mit dem wir uns unsere Welt zu regeln angewöhnt haben und mit dem wir uns von ihr regeln lassen. Für die Beziehung, die ein Mensch mit seiner Umwelt durch sein Smartphone hat, gibt es noch keinen Begriff, nicht einmal eine nennenswerte Beschreibung, nur Taumeln zwischen Begeisterung und Entsetzen: Wearable Technology verbindet nicht nur den Körper des Einzelnen mit dem Wissen der Vielen (einst Aufgabe von Kirche und Schule, Militär und Wissenschaft – und von diesen findet sich reichlich in Smartphones und Wearable Technology), sondern realisiert auch auf direkteste Weise ein neues Verhältnis von Freiheit und Kontrolle. Sehen, Hören, Fühlen; Träumen, Wissen, Reisen: Der digital aufgerüstete Körper wird zur Schnittstelle mit einer Welt, die vielleicht vor allem aus lauter genauso aufgerüsteten Menschenkörpern besteht, vielleicht aber auch aus etwas ganz anderem.

Wearable Technology kann sich freilich nur entfalten, wenn auch die Dingwelt sich digitalisiert. Connectedness als Ideal meint nicht nur die Verbindung von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Institution, vom Menschen zu seiner kleinen Technologie am Körper, sondern auch zu mehr oder weniger allen seinen Dingen, zu seinen Lampen, Radios, Türen, Kühlschränken, Fernsehern, Klobrillen, Rasierapparaten usw. Und am Ende, wir werden es im Verlauf unserer kleinen Reise durch die Alltagstechnologie erleben, vielleicht vor allem die Connectedness der Dinge selber.

Dies ist ein Buch über elektronisch aufgerüstete Armbänder, Brillen und Kopfhörer, ein Buch über smarte Häuser und intelligente Zahnbürsten, aber es ist auch eines über die mögliche Zukunft des Menschen.

2


Verkauft werden diese schönen neuen Dinge des elektronischen Konsumismus natürlich zunächst mit dem Hinweis auf den Gewinn von Freiheit, Erfahrung und Abenteuer für den Freizeit- und Kommunikationsbereich. Damit stehen sie ganz und gar in der Tradition der schönen neuen Dinge der Warenwelt, die immer zwei Dinge zugleich versprechen, nämlich eine Erleichterung des individuellen Lebens und eine Erneuerung der Lebenspraxis. Das technische Ding nimmt nicht nur dem Subjekt eine Arbeit ab, sondern arbeitet auch mit am Subjekt-Werden. So hat einst die Waschmaschine der »Hausfrau« Arbeit abgenommen, um zugleich einen neuen Druck in Haushalt und Arbeitswelt zu schaffen. Befreiung scheint immer nur die taktische Etappe zu sein. Befreiung wozu und wohin? Mit dem neuen Ding will man auch selber irgendwie »neu« werden, nach einem verpatzten Beginn der Biografie womöglich. Zugleich wird nicht verheimlicht, dass man mit diesem Ding, das zuerst der Selbstkontrolle und damit der »Selbstoptimierung« dient, auch Daten generiert, Informationen, die »irgendwo« gesammelt, abgeglichen und algorithmisch in Reaktionen von Markt und Politik übersetzt werden. So ist auch hier eine Technik der Individualisierung zugleich eine Technik der Kollektivierung, eine Technik der Befreiung zugleich eine der Überwachung. Und deshalb wird digitale Wearable Technology zu einem Schlüssel in der Entwicklung der Transparenz- und Kontrollgesellschaft.

Im weitesten Sinne geht es um Fitness, um die Selbstaufrüstung im alltäglichen Wettbewerb. Verdächtig schnell sind da aber auch die »Office-Funktionen« ins Gespräch gekommen. Neben der Verbesserung der Selbstkontrollen im Fitness- und Gesundheitsbereich durch die Herstellung von Connectedness noch an den intimsten Orten (man kann es nicht weniger drastisch...

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