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E-Book

Der standhafte Papagei

Erinnerungen an Teheran 1979

AutorAmir Hassan Cheheltan
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl197 Seiten
ISBN9783957576668
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Herr Firuz, Besitzer eines Spirituosenladens im Zentrum Teherans, begreift als Erster, dass sich etwas Großes zusammenbraut. Völlig unerwartet steht sein eigener Sohn als Anführer einer marodierenden Bande Jugendlicher vor dem Schaufenster des elterlichen Geschäfts und wirft wortwörtlich den ersten Stein. Während immer mehr Bewohner des Viertels sich der Chomeini nahestehenden Basidischi-Miliz anschließen, wird vor seinem Laden gestritten, gebetet und geschossen, zugleich erstarkt die Hoffnung, dass vielleicht doch etwas Gutes aus den Ruinen der gestürzten Monarchie entstehen kann. Doch die revolutionären Kräfte radikalisieren sich immer mehr und etablieren schließlich jenes unterdrückerische Regime, das die korrupte Gewaltherrschaft Pahlavis durch einen despotischen Gottesstaat ersetzte, unter dem die liberalen Kräfte im Land noch heute leiden. Amir Hassan Cheheltan war 22 und Student, als die ersten Flugblätter an den Häuserwänden auftauchten, die den Sturz des Schahs forderten. Seine Erinnerungen an damalige Nachbarn und Freunde, an Wut, Chaos und das tägliche Ringen um Normalität eröffnen ein Panorama der iranischen Gesellschaft in Zeiten von Protest, Gewalt und Unsicherheit und sind ein sowohl sachkundiges als auch persönliches Zeugnis von den Ereignissen, die den Iran, Teheran und insbesondere den Mikrokosmos seines Wohnviertels in den Jahren 1978 und 1979 erschütterten.

Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, veröffentlichte erste Sammlungen von Kurzgeschichten wahrend seines Studiums der Elektrotechnik in England. Bis heute hat Cheheltan neun Romane, sechs Sammelbande mit Kurzgeschichten und ein Drehbuch vorgelegt. Zudem schreibt er regelmäßig Essays und Leitartikel für große deutsche und internationale Zeitungen. Bis 2004 war er Chefredakteur der Online-Literaturzeitschrift Sokhan. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Teheran.

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Leseprobe

Unser Stadtviertel


Unser Stadtviertel zeichnete sich durch die ganz eigene Zusammensetzung seiner Bewohner aus und war eines der wenigen ohne soziale Klassenstruktur. Ganz in der Nähe lagen auf der einen Seite die Universität von Teheran, auf der anderen das Parlament. Neben dem fehlenden Klassenbewusstsein sorgte die besondere geografische Lage unseres als zentral geltenden Viertels für diese untypischen Verhältnisse, zu denen wohl auch die Landflucht und das rasche Anwachsen der Stadt beitrugen, deren Einwohnerzahl sich in nur drei Jahrzehnten vervierfacht hatte. So lebte zum Beispiel am einen Ende des Viertels ein reicher Basari, am anderen jemand, der als Wachposten bei einer Bank tätig war. Sogar Reza hatte ein Zimmer im Souterrain einer Dienstwohnung und zählte als Straßenhändler ebenso zu unseren Nachbarn wie ein Mann namens Hassan Khanom, am Schlachthof von Teheran angestellt, sowie dessen Frau, Leichenwäscherin auf dem städtischen Behescht-e Zahra-Friedhof, und sein Stiefsohn, der im Krankenhaus arbeitete. In unserem Stadtteil lebten Lehrer, Fabrikarbeiter und Einzelhändler Seite an Seite mit einem Arzt, einem Kapitalisten und sogar einem Mullah. Auch ein pensionierter General lebte hier, mit einem großen Hund, dem einzigen Haushund in unserer Nachbarschaft.

Als die Unruhen einsetzten, äußerte sich des Generals jüngster Sohn, der etwa in unserem Alter war, widersprüchlich. Er sagte zum Beispiel: »Klar ist das ganze Land korrupt und verlogen, aber der Schah hat davon keinen blassen Schimmer, der Arme.«

Weil er ein umgänglicher Kerl war und sich mit allen in der Nachbarschaft gut verstand, hatten wir den Eindruck, dass er einfach das wiedergab, was sein Vater ihm eingeredet hatte. Ein Vater, der übrigens Blumen liebte und Lyrik, sich mit Leib und Seele der Pflege seines großen Gartens widmete – nach all den Jahren sehe ich ihn noch heute vor mir, mit einer Gartenschere in der Hand, einem großzügigen Lächeln auf den Lippen –, der zugleich einen besonders herzlichen Umgang mit den Jugendlichen pflegte, ihnen sogar Geld lieh, kurzum, ihre Kameradschaft suchte, was in unserer Nachbarschaft natürlich so manches Gerücht nährte.

Ich war zwar damals erst zweiundzwanzig, glaubte aber, als Student im letzten Studienjahr und auf dem Höhepunkt meiner jugendlichen Unerfahrenheit, besser als die einfachen Leute um mich herum zu verstehen, wie die Welt sich drehte. Da ich einige Bücher gelesen hatte und mir sicher war, als Einziger im Umkreis deren Inhalt zu begreifen, bildete ich mir ein, über visionäre Kräfte zu verfügen und die Zukunft vorhersehen zu können. Auch meine Umgebung schien diese Illusion zu hegen, denn seit Beginn des vergangenen Sommers schauten sie sich, sobald sie mich in einem Eckchen von Herrn Firuz’ Laden allein antrafen, erst aufmerksam um, beugten sich dann dicht zu mir und flüsterten mir höchst diskret ihre Frage ins Ohr: »Welches Ende wird’s denn nehmen mit dem Schah?«

Man kann wohl ohne Übertreibung und im Einvernehmen mit der Mehrheit der jungen Leute sagen: Wer sich unterhalten wollte, fand in unserer Nachbarschaft keinen passenderen Treffpunkt als Herrn Firuz’ Laden. Zudem machte nur eines die heißen Sommer in unserem Stadtteil erträglich: Herrn Firuz’ kühles Bier in dem gemütlichen, aufgeräumten – und einzigen – Ausschank des Viertels.

Ein Pfau, der, wenn er bei Laune war, stolz und prahlend sein farbenprächtiges Rad schlug, nun aber in seinem großen Gitterkäfig an der Ladendecke hing wie ein Häuflein Elend, war das einzige Schmuckstück im Raum. Herr Firuz, so hieß es, habe ihn als ganz junger Mann von einer Indienreise mitgebracht. Er habe seine Arbeit immer wieder unterbrochen, verliebte Blicke in Richtung Käfig geworfen und »Ich liebe dich!« geseufzt. Dann habe er Verse des großen Hafis rezitiert, in denen von Wein die Rede war, von Liebe und auch vom treulosen Freund. Der Vogel habe angeblich einst einem Mädchen gehört. Die junge Inderin und Herr Firuz seien sehr ineinander verliebt gewesen. Weil sie Herrn Firuz aber nicht in den Iran habe begleiten können, habe sie ihm den Pfau zum Abschied geschenkt, um die Erinnerung an ihre Liebe lebendig zu halten.

In Herrn Firuz’ Laden kamen junge Leute zusammen, denen man das Biertrinken erst jüngst gestattet hatte. Junge Männer, die zwei, drei Jahre zuvor im Vorbeigehen noch neugierig, sehnsüchtig hineingeschaut und darauf gebrannt hatten, den Laden bald betreten zu dürfen. Der Zutritt zu diesem Reich galt als Zeichen dafür, dass man endlich zu den Älteren zählte und Zugang hatte zu ihrer rätselhaften, komplexen Welt. Auch der General gesellte sich gelegentlich zu den jungen Männern. Und wenn er länger blieb und ein Fläschchen Wodka intus hatte, steckten in einem Eckchen des Ladens bald alle die Köpfe zusammen und senkten die Stimmen. Dann machten Zoten und anzügliche Anekdoten die Runde, und ein ums andere Mal stieg lautes, schallendes Lachen bis unter die niedrige Ladendecke und verfing sich dort. So berichteten es zumindest die Kinder aus der Nachbarschaft. Wenn ich jedoch erschien, der als fleißig geltende Student, dann verhielt sich der General angemessen und würdevoll. Manchmal erzählte er sogar Geschichten aus Rumis Masnawi, mit denen er uns indirekt zu verstehen gab, dass die politische Lage seiner Ansicht nach zu wünschen übrig ließ.

Es gab nur wenige Sitzplätze in Herrn Firuz’ Laden. Die Kundschaft trank meist im Stehen, oder nahm ihre Ware von Herrn Firuz in eine Tüte gehüllt entgegen, und verließ den Laden wieder. Ich kann weder behaupten, dass die Leute im Viertel Herrn Firuz’ Beruf für ehrbar hielten, noch, dass die Eltern dieser jungen Leute es guthießen, wenn ihre Söhne sich in seinem Laden trafen, doch dessen ungeachtet sahen die meisten Nachbarn in Herrn Firuz einen rechtschaffenen Mann, der niemandem in die Quere kam, seiner Arbeit nachging, überdies sein Geschäft an religiösen Feiertagen schloss und die Fenster des Ladens während des Fastenmonats Ramadan mit Zeitungspapier als Blickschutz verhängte. Zudem gewährte er Kredit und war überzeugt, die einsichtigen jungen Leute im Viertel würden ihm nie lange Geld schuldig bleiben. Sein Laden war also in jeder Hinsicht ein wichtiger Bestandteil unserer Nachbarschaft, genau wie ein staunenswertes Kunstwerk, eine Touristenattraktion.

Natürlich gab es in unserem Stadtteil auch eine Moschee. Die meisten Menschen, die in die Moschee gingen, setzten keinen Fuß in Herrn Firuz’ Laden, während Herrn Firuz’ Stammkunden die Moschee mieden. Zwischen den Lagern aber gab es Leute, die beide Orte aufsuchten. Dem Vernehmen nach trank Herr Adeli, unser direkter Nachbar, abends sein Gläschen Schnaps, spülte sich dann den Mund mit Wasser aus, nahm die rituelle Waschung vor und verrichtete anschließend sein Gebet. Den Verfechtern dieser Lebensart kam die Rolle der Brückenbauer zu, die beide Welten – die Moschee und Herrn Firuz’ Geschäft – miteinander verbanden, und für deren freundschaftliche Koexistenz sorgten. Zu leugnen, dass die eine oder die andere Welt bestand, änderte nichts an den Tatsachen, förderte höchstens die Verbreitung von Lügen und Heuchelei. Erst Jahre später wurde mir klar, dass Herr Adeli der Archetyp eines Iraners war, ein Mensch mit unterschiedlichen Erfahrungsebenen!

An jenem historischen Tag wurde zwar Herrn Firuz’ Laden gestürmt und geplündert, die Lagerbestände im Keller seines Hauses aber blieben unversehrt. Nur sehr wenige Menschen wussten davon, sein Sohn war zweifellos einer von ihnen. Sobald die Lage sich wieder beruhigt hätte, würde auch Herr Firuz seinen Geschäften wieder nachgehen müssen, um seine fünfköpfige Familie ernähren zu können, was gewiss auch sein Sohn verstand. Ich bin mir sicher, dass Herr Firuz schon kurz nach dem Angriff auf seinen Laden seine Alkoholvorräte auf dem Schwarzmarkt zu einem Preis anbot, der nicht nur die durch den Verlust der großen Mengen Alkohols und durch die Schäden an seinem Laden entstandenen finanziellen Einbußen ausgleichen, sondern ihm auch den sonst üblichen Ertrag einbringen sollte. Damit erzielte Herr Firuz wohl den ersten saftigen Gewinn im Vorfeld der Islamischen Revolution, die, wie er bereits vermutet hatte, genau an jenem Tag begann.

Homajun kehrte nach dem Anschlag auf seines Vaters Laden nicht wieder nach Hause zurück. Herr Firuz misstraute seinem Sohn mittlerweile. Zu Herrn Adeli hatte er gesagt: »Keinen Fuß setzt der mehr in mein Haus. Sonst zündet er es uns überm Kopf an, während wir schlafen.«

Noch als man Herrn Firuz die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachte, saß dieses Misstrauen unverändert tief, denn als er sie hörte, fragte er: »Was hat er mit seiner Tat bezweckt?«Seine Frage schien auch ihn verblüfft zu haben, denn er hatte gleich darauf nachgehakt: »Wie bitte? Was hast du gesagt?«, und Herr Adeli war gezwungen gewesen, die Nachricht zu wiederholen.

Homajun, aus dem Elternhaus vertrieben, fand...

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