Ein Staat wie jeder andere?
Der in Oxford lehrende Philosoph Isaiah Berlin erzählte gerne davon, wie Chaim Weizmann einmal in den dreißiger Jahren auf einer Party von einer britischen Lady, die den führenden Zionisten und späteren ersten Staatspräsidenten Israels bewunderte, gefragt wurde: «Dr. Weizmann, ich verstehe Sie nicht. Sie gehören dem kultiviertesten, zivilisiertesten, klügsten und kosmopolitischsten Volk an, und Sie wollen das alles aufgeben, um so zu werden wie – Albanien?» Weizmann, so berichtete Berlin weiter, grübelte langsam und bedächtig über diese Frage, dann leuchtete sein Gesicht auf, und er rief begeistert aus: «Ja! Albanien! Albanien!»[2]
Berlin selbst wurde einige Jahre später von dem russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève eine ähnliche Frage gestellt: «Die Juden mit ihrer reichhaltigen und außerordentlichen Geschichte, wundersame Überlebende der klassischen Epoche unserer Zivilisation – dieses faszinierende Volk sollte seine Einzigartigkeit aufgeben? Wofür? Um ein anderes Albanien zu werden! Wie können sie das nur wollen?» Berlins Antwort war scharf: «Wie auch immer es für die Welt im Allgemeinen erscheinen mag; die Auster dafür zu verdammen, dass sie das Leiden vermeiden möchte, das zu einer Krankheit führt, die in manchen Fällen eine Perle entstehen lässt, ist weder vernünftig noch gerecht. Die Auster möchte das Leben einer Auster führen, sich als Auster verwirklichen und nicht nur das unglückliche Medium sein, das die Welt um den Preis des eigenen Leidens mit Meisterwerken der Kunst oder Philosophie oder Religion beglückt.»[3]
Die Geschichte Israels ist zum einen der Versuch, nicht mehr der ewige Andere zu sein. Der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstandene Zionismus bot eine Antwort auf das, was damals als «Judenfrage» in aller Munde war. Er wollte die Juden zu einem ganz normalen Volk mit einem ganz normalen Staat machen. Ein ganz normaler Staat – genau dafür stand das kleine, 1912 unabhängig gewordene Albanien symbolhaft.[4] Die Zionisten wollten aus der klassischen Rolle der Juden als die Außenseiter, als die «Anderen» in der Geschichte fliehen. Der deutsch-jüdische Philosoph – und Antizionist – Hermann Cohen brachte es einmal auf den Punkt, als er – halb abwertend und halb anerkennend – auf die Frage antwortete, was die Zionisten denn eigentlich wollen: «Die Kerle wollen glücklich sein.»[5] Der Wunsch, die mit viel historischer Tragik bekleidete Außenseiterrolle abzulegen, ist in die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel aus dem Jahre 1948 eingegangen, in der es heißt: «Es ist das natürliche Recht des jüdischen Volkes, ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen.» Dieser Drang, so zu sein «wie alle anderen», war in der langen jüdischen Geschichte nicht gerade neu. Der Wunsch nach Normalität findet seinen Ausdruck schon in der Hebräischen Bibel. Das 1. Buch Samuel berichtet davon, wie die Ältesten des Volkes Israel vom greisen Richter Samuel verlangen: «Gib uns einen König, der uns richte wie alle anderen Völker.» (8:5) Auch wenn Samuel sich anfangs weigerte und Gott das Königtum nicht guthieß, bestand das Volk doch darauf, so zu sein «wie alle anderen Völker».
Doch die Geschichte des Staates Israel entspringt nicht nur dem Wunsch, so zu sein wie die anderen, sondern ist gleichzeitig aus der Idee heraus geboren, anders zu sein und ein Vorbild für den Rest der Welt darzustellen. Auch die Vorstellung vom «auserwählten Volk» geht auf die Bibel zurück. Sie sollte die Juden immer wieder in ihrer Geschichte einholen – im positiven wie im negativen Sinne. Diejenigen, die in Israel einen ganz besonderen Staat sehen wollten, beriefen sich auf das Buch Jesaja (49:6), in dem Israel als «ein Licht unter den Völkern» bezeichnet wird. Die Mission des Judentums als ein Licht unter den Völkern war für viele Zionisten nicht damit abgetan, mit einer Art Musterreligion den Monotheismus unter die Völker gebracht zu haben. Die Herausforderung für die Zionisten bestand darin, einen Musterstaat zu etablieren, der eine bessere Welt schaffen sollte.
Entweder so zu sein «wie jedes andere Volk» oder aber «ein Licht unter den Völkern» – dieses Spannungsverhältnis hat nicht nur die Geschichte des Zionismus geprägt, sondern auch die Diskussion um den Charakter eines zukünftigen jüdischen Staates und des bestehenden Staates Israel.
Dieses Buch verfolgt die Debatten über den Charakter des ersten jüdischen Staates in der Moderne und versucht dabei den Fragen nachzugehen, was dieser sein wollte, wozu er wurde und wie er von der Welt wahrgenommen wird. Die These dieses Buches lautet: Obwohl Israels Vordenker und später Israels Politiker immer wieder den Weg in die Normalität einzuschlagen versuchten und dem «besonderen» Schicksal der jüdischen Geschichte entfliehen wollten, konnten sie sich nicht von dem Bann lösen, der die Geschichte der Juden über Jahrtausende begleitet hat. Zu tief verankert waren die jahrhundertealten Vorstellungen von den Juden als den «Anderen», um sie in wenigen Jahrzehnten spurlos verschwinden zu lassen. Zu sehr verinnerlicht wurden die Sichtweisen von außen, wie auch die eigenen Erfahrungen als die «ewigen Anderen». Und zu ungewöhnlich waren die Umstände, die zur Gründung des Staates Israel führten: die Proklamation der Souveränität nach zwei Jahrtausenden Staatenlosigkeit und der unmittelbar vorausgegangene Genozid.
Jeder, der die Zeitung aufschlägt oder Nachrichten hört, weiß: Israel ist keineswegs ein nur für Israelis relevantes Thema. Seine Geburt ist zutiefst mit den Wunden Deutschlands und Europas verbunden, seine politische Entwicklung hat Auswirkungen weit über den Nahen Osten hinaus, und die Religion der meisten Menschen hat ihre Ursprünge im Gebiet des heutigen Israel. Vielleicht hat es mit dieser gefühlten Nähe zu tun, dass mit keinem anderen Staat so klare Vorstellungen verbunden werden wie mit diesem winzigen Stück Land. Die einen sehen in Israel die einzige Demokratie inmitten autoritärer Regime und einen westlichen Vorposten im Nahen Osten, manche gar den Vorboten des messianischen Zeitalters; andere dagegen betrachten Israel als eine anachronistische Schöpfung, als kolonialistischen Aggressor und als Terrorstaat. Für einen Teil der Welt ist Israel ein Musterstaat, für einen anderen ein Pariastaat. Nur eines ist er ganz selten: das von Chaim Weizmann erträumte fiktive Albanien, «ein ganz normaler Staat».
Unter den 194 unabhängigen Staaten steht der Staat Israel in Bezug auf seine geographische Ausdehnung an 152. Stelle, in Bezug auf seine Einwohnerzahl an 97. Stelle. Er ist etwa so groß wie Belize, Djibouti oder das Bundesland Hessen (kleiner im Übrigen als Albanien) und zählt ungefähr so viele Einwohner wie Tadschikistan, Honduras oder das Bundesland Niedersachsen. Schlägt man aber eine Zeitung auf oder hört die aktuellen Nachrichten, könnte man meinen, dass Israel neben China, Russland und den USA zu den wichtigsten Staaten der Erde gehört.
In den Vereinigten Staaten betonen die Präsidentschaftskandidaten beider Parteien in jedem Wahlkampf ihre Verbundenheit mit Israel stärker als die Solidarität zu ihren mächtigen Verbündeten. Evangelikale Prediger in aller Welt betrachten Israels Konflikt im Nahen Osten als Teil des messianischen Endzeitplans. Auch in Deutschland wird Israel nicht wie jedes andere Land behandelt. Sobald ein neuer deutscher Bundespräsident in sein Amt gewählt wird, gehört – zumindest seit den achtziger Jahren – ein Staatsbesuch in Israel zu einer seiner ersten und heikelsten Aufgaben. Bundeskanzlerin Merkel unterstrich in ihrer Rede vor dem israelischen Parlament im März 2008: «Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes.»[6]
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