2. Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens
Eines der denkwürdigsten und folgenreichsten philosophischen Gespräche ereignet sich 1780 in Wolfenbüttel, ein Jahr vor dem erstmaligen Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Gesprächspartner sind Lessing und Jacobi, den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildet die Philosophie Spinozas. Keiner dieser drei ist ordentlicher Professor der Philosophie, was für die Unterredung von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Primär scholastische Fragen interessieren hier nicht. In zwangloser Eleganz den Sitten des 18. Jahrhunderts angepasst sind dementsprechend die Umstände. Der wichtigste Teil des Gesprächs findet Jacobis Aufzeichnung zufolge während der morgendlichen Prozedur des Ankleidens und Frisierens statt. Kann man sich in einer solchen Szenerie auf ein seriöses Sujet konzentrieren? Ganz offenbar – man kann: Der Ton ist leicht bis ironisch, das wechselseitige Vergnügen an einer freien tour d’esprit knistert zwischen den Zeilen, aber die Sache ist nichtsdestotrotz gewichtig.
Sie ist so gewichtig, dass sie zunächst zu einem ausgedehnten Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn führt, der fassungslos ist über das, was sein inzwischen verstorbener Freund Lessing, aber auch über das, was Jacobi gesagt haben soll. Und als dann das Wolfenbütteler Gespräch mitsamt den Dokumenten dieses Streits 1785 von Jacobi veröffentlicht wird, sieht sich das intellektuelle Leben in Deutschland von Grund auf erschüttert. Goethe, dessen Gedicht Prometheus in die Sache hineingezogen war, erinnert sich in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit noch Jahre später an eine veritable »Explosion«1; und ganz ähnlich spricht dann auch Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von einem »Donnerschlag«, der »vom blauen Himmel herunter« die geistige Landschaft einer ganzen Ära traf.2 Danach ist nichts mehr wie zuvor. Nicht Kants Vernunftkritik allein, sonderndie Schriften Kants und die Publikation Jacobis mit dem Titel Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1789 in einer zweiten Auflage um wesentliche Beilagen erweitert) leiten eine neue Epoche ein. Was also hatten Lessing und Jacobi ursprünglich miteinander zu besprechen, das geeignet war, solches Aufsehen zu erregen?
Das Handbuch Deutscher Idealismus gibt auf wenig mehr als einer Seite über den fraglichen Kasus Auskunft. Von »Lessings Bekenntnis zu Spinozas Philosophie« war Jacobi »überrascht«. Er selbst »war ein Gegner jedes der bisherigen rationalistischen Systeme der Philosophie und das des Spinoza insbesondere. Zwar war für ihn Spinozas Philosophie die konsequenteste Form der rationalistischen Metaphysik, aber gerade darum auch diejenige, die geradewegs in den Fatalismus und Atheismus […] führe, so dass man sich in den Offenbarungsglauben zu retten habe«.3
Ob es in der Absicht des Verfassers liegt oder nicht – vermittelt wird der Eindruck einer Anekdote aus unendlich ferner Vergangenheit. Nichts davon scheint uns heute mehr zu bewegen. Weder nehmen wir ein virulentes Interesse an den »rationalistischen Systemen« des 17. und 18. Jahrhunderts, von deren »Dogmatismus« uns Kant ein für allemal überzeugt hat; noch berührt uns der »Offenbarungsglaube« als eine drängende Angelegenheit unseres Lebens und darum noch viel weniger der Umstand, dass sich Jacobi dem Bericht des Handbuchs zufolge in diesen christlichen Glauben ›gerettet‹ hat. Die ganze Konstellation scheint so befremdlich, dass es die Mühe nicht lohnt, wenigstens ansatzweise zu verstehen, wieso diese Geschichte einen Skandal provoziert hat, wieso sie die Welt einer »Explosion« und einem »Donnerschlag« gleich erschüttert hat. Sieht man die Dinge so, kann man das Referat auf engsten Raum beschränken, um sich in der Folge wichtigeren Fragen und Problemen zuzuwenden. Sollte man die Dinge so sehen?
Die Frage impliziert, dass ich dieser Ansicht nicht bin. Tatsächlich halte ich die zitierte Auskunft nicht nur für unzureichend, sondern vielmehr für irreführend. Indem sie den Eindruck vermittelt, als handle es sich um eine Begebenheit aus denkbar fernen Zeiten, verdeckt sie den Umstand, dass mit der aktuellen Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen eine Problematik auf die Agenda zurückgekehrt ist, um die es bereits am eigentlichen Beginn der Moderne ging. Und indem sie auch sachlich falsch informiert und eine der stereotypen Fehldarstellungen der Jacobischen Position liefert, verhindert sie vor allem, das Spannungsverhältnis zwischen Glauben und Wissen überhaupt auszuleuchten, das – und eben darin besteht die Pointe der Debatte zwischen Jacobi und Mendelssohn – mit der Opposition zwischen »Rationalismus« und »Offenbarungsglaube« gar nicht getroffen ist.
Die Sache anders darzustellen, ist vor diesem Hintergrund das Ziel meiner folgenden Überlegungen. Dabei lasse ich mich wie schon angedeutet von zwei Thesen leiten. In genealogischer Hinsicht gehe ich davon aus, dass man gut daran tut, die gegenwärtig aufgebrochenen Fragen auf die Problemkonstellation zurückzubeziehen, wie sie um 1800 paradigmatisch zum Austrag gekommen ist. Damit ist in systematischer Hinsicht die Absicht verbunden, das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen typologisch zu schärfen und auf einen Denkansatz hin zuzuspitzen, der religiöse Assoziationen unterläuft und gerade so die Thematik der Religion durchaus zu integrieren erlaubt. Um der Komplexität der Lage Rechnung zu tragen, werde ich den Weg in drei Schritten nehmen, in denen ich verschiedene Optionendiskutiere und am Ende zu der Versionkommen werde, die ich nicht nur für allein adäquat, sondern auch philosophisch für die interessanteste halte.
I. Erster Schritt: Offenbarungsglaube
In diesem Schritt – und nur in ihm – nehme ich zunächst einmal an, dass wenigstens eine Auskunft des Handbuchs zutreffend ist, wonach Jacobi auf Spinozas Metaphysik mit der Überzeugung reagiert, dass man sich in den christlichen »Offenbarungsglauben zu retten habe«. Bereits jetzt ist zu notieren, dass diese Einschätzung auf eine Interpretation Mendelssohns zurückgeht, der sich nach Lektüre der Wolfenbütteler Unterredung die Position Jacobis als »den ehrlichen Rückzug unter die Fahne des Glaubens« zurechtgelegt und ihn in eins damit als einen »christliche[n] Philosoph[en]« bezeichnet hat (Spin: JWA 1,1, 179). Im Anschluss daran hat diese Version den Weg in zahllose Darstellungen angetreten, ohne dass ihre Quelle dabei noch eigens kenntlich gemacht würde. Was immer man aber von ihr halten soll, ihren, im Übrigen einzigen, Anhaltspunkt mag sie in dem Bekenntnis finden, das Jacobi gegenüber Lessing äußert: »Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt.« (Spin: JWA 1,1, 20)
Genaubetrachtet sollte schon hier auffällig sein, dass esnicht heißt: ›Ich glaube an einen (oder den) persönlichen Gott, der die Welt geschaffen hat‹, aber auch nicht: ›Ich glaube, dass die Welt eine Ursache hat‹. Reformuliert müsste der Satz etwa heißen: ›Die Realität einer schöpferischen Ursache der Welt bezeugt sich im Vollzug meines Denkens und Handelns‹. Auf diese entscheidenden Differenzen wird zurückzukommen sein. Sieht man indes für jetzt noch davon ab, dann wirdman wohl sagen können, dass in der erwähnten Äußerung als solcher weder für damalige noch für heutige Verhältnisse etwas Skandalöses liegt. Wieso sollte einer nicht glauben, dass die Welt einen schöpferischen Ursprung hat? Schließlich glaubt auch Mendelssohn selber daran, und er tut dies selbstverständlich nicht auf der Basis des christlichen, sondern des jüdischen Glaubens. Das prospektive Skandalon des Satzes kommt tatsächlich erst dann ins Visier, wennman seine Stoßrichtung expliziert: dass nämlich erstens das, was hier geglaubt wird, nicht auch zugleich gewusst werden kann, und dass dies zweitens keine beliebige These ist, sondern schlechthin zwingend durch Spinozas Metaphysik bewahrheitet wird.
Ohne zu übertreiben, sollte man sich den Schock Mendelssohns angesichts dieses von Jacobi markierten doppelten Sachverhalts ausgesprochen dramatisch vorstellen, mit dem in der Hochzeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Epoche des Rationalismus buchstäblich und unwiderruflich zugrunde geht. Kernstück dieses Rationalismus war ja die Überzeugung, dass die Vernunft in der Lage sei, die Gehalte der überlieferten Religion rational begründen und in Form von Gottesbeweisen demonstrieren zu können. Unter der Voraussetzung einer religiösen Konnotation des Glaubens bedeutet das für das Verhältnis von Glauben und Wissen hier, dass nach rationalistischer Lesart (die für Descartes ebenso wie auch für Leibniz gilt) beide Momente nicht im Konflikt, sondern im Verhältnis der Kontinuität zueinander stehen, insofern sie auf dieselben...