1. Im Banne des Spiegels – »Ich ist ein anderer«
»Ich ist ein anderer« – diese paradox anmutende These zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Lacans. Wie kann das Ich jemals ein Nicht-Ich, ein anderer sein? Wir haben uns daran gewöhnt zu denken, daß das Ich des Menschen jenen Mittelpunkt darstellt, von dem nicht nur seine Beziehungen, die Interaktionen mit den Dingen der Welt, sondern auch die Ansätze zu tatkräftigen Handlungen ausgehen. Dieses Ich erscheint für unser Lebensgefühl fundamental. Und indem es uns selbst in unseren phantastischen Ängsten und heimlichsten Wünschen noch wissen läßt, daß es uns gibt, bewahrt es das Geheimnis unserer Identität. Wie also könnte ein Zweifel aufkommen an diesem Ich, das sich mit solcher Sicherheit identisch weiß?
Erkennt sich das Subjekt nicht mit absoluter Gewißheit unter tausend Bildern wieder – wohl wissend, daß dies ein Bild seiner selbst ist, daß dieses Selbst kein anderes oder gar ein fremdes sei? Scheint der Selbstbezug des Menschen nicht gerade darin zu liegen, daß er sich vom anderen unterscheiden und in der Differenzierung zu ihm als identisch wissen kann? Und zeichnet sich – im Verhältnis zum Tier – der Mensch nicht durch das Bewußtsein von seinem eigenen Ich, also das Selbstbewußtsein, aus?
Das sich seiner selbst bewußte »Ich bin, der ich bin« wird erst dann zum Problem, wenn man fragt, auf welche Wirklichkeit sich das, was das Subjekt über sich weiß, und das, worin es sich zu erkennen glaubt, bezieht. Mit anderen Worten: ob sich alles, was es darüber weiß, auf diese – und auf keine andere – Wirklichkeit bezieht. Dieser Art des Fragens bedient sich Lacan und geht damit den Weg, den Freud um die Jahrhundertwende mit seiner Traumdeutung erschloß.
»Das Ich (je) ist nicht das Ich (moi).«1 In diesem Sachverhalt liegt für Lacan die grundlegende Erfahrung der Psychoanalyse. Denn hinter dem Ich, das sich weiß und sich denkt, bringt die Psychoanalyse ein anderes Subjekt zur Sprache. Ein Subjekt, das in seinen Launen und Symptomen, in seinen Träumen und Verirrungen nur eine höchst indirekte Artikulationsmöglichkeit gefunden hat – und dessen Rede es zu entziffern gilt. Den verborgenen Sinn jener anderen Rede des Unbewußten zu erraten, wie es Freud nennt, heißt aber zugleich, die Selbstgewißheit des cartesianischen Cogito zu unterminieren, seine unbefragte Subjektivität zu dezentrieren. Wenn Lacan formuliert: »Nichtsdestoweniger ist das philosophische Cogito im Brennpunkt jener Täuschung, die den modernen Menschen so sicher macht, er selber zu sein in seinen Ungewißheiten über sich selbst, sogar durch jenes Mißtrauen hindurch, das er seit langem den Fallen der Eigenliebe gegenüber zu hegen gelernt hat«2, so liegt für ihn gerade an den Punkten, »wo die Evidenz unterwandert wird vom Empirischen, […] der Dreh der Freudschen Wende«3. Freud, der an die Kränkungen dieser Evidenz erinnerte, die Kopernikus mit seiner Absage an das geozentrische Weltbild einleitete und die mit Darwins Rückbindung des Menschen an die Biosphäre fortgeführt wurden, fügte diesen Erniedrigungen, die das Subjekt von außen tangierten, die wohl empfindlichste hinzu. Sein Nachweis, daß »das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«4, traf die Souveränität des Ich in seinem Innern. In der 1914 verfaßten Narzißmusabhandlung zeigte Freud, daß das Subjekt diese Kränkungen gerne leugnet, weil es die in seiner Kindheit genossene omnipotente Selbstliebe nicht entbehren mag und ständig bemüht ist, sie in immer neuen Formen der Ich-Idealisierung wiederzugewinnen. In der gleichen Schrift nahm Freud den Begriff des Narzißmus5 in die psychoanalytische Theorie auf und definierte ihn als die libidinöse Besetzung, die das Ich sich selbst entgegenbringt.
Freuds Theorien zum Narzißmus folgend, spürt Lacan jener ichverhafteten Libido und ihren verhängnisvollen Fallen nach. In seiner frühen Abhandlung Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion6 zeigt er in bezug auf Gestaltpsychologie und psychoanalytische Entwicklungslehre auf, daß deren Ursprünge bereits in den ersten Momenten der menschlichen Ichbildung unwiderruflich verankert sind. Schon im frühen Kindesalter (6.-18. Monat) entwirft das in den Spiegel schauende Kind ein imaginäres Bild von der Gestalt seines Körpers. Es antizipiert eine somatische Einheit und identifiziert sich mit dieser, obgleich seine körperliche Kompetenz in diesem Stadium noch sehr mangelhaft und auf weitgehende Hilfe von außen angewiesen ist. Der Blick – und damit die der Motorik weit überlegene visuelle Wahrnehmung – perzipiert die Einheit eines Bildes, die realiter noch fehlt, und setzt sie in Beziehung zum eigenen Körper. Mit »jubilatorischer Geschäftigkeit« begrüßt das sich spiegelnde Subjekt sein visuelles Echo und vergleicht seine noch sehr unbeholfenen eigenen Bewegungen mit denen der Spiegelreflexion.
Dieses kindliche Szenarium ist weit mehr als die Wahrnehmung eines ähnlichen Gegenübers, ist mehr als das Überwältigtwerden von der Form her, das zu einem Erkennen der Gestalt führt7: Es ist die triumphale Setzung eines Ideal-Ich, vermittelt durch die Spiegel-Imago, die dem Kind als Garant jener Einheit und Dauerhaftigkeit, jener Präsenz und Omnipotenz dient, die seine körperliche Existenz ihm noch nicht verleihen kann. Diese Setzung der Identität konstituiert sich in Bezug zum eigenen vorgestellten Körper, den das Kind als erlebbare Ganzheit zu erfassen und somit zu beherrschen glaubt.
In einem seiner späteren Seminare beschreibt Lacan das Spiegelstadium folgendermaßen: »Das ist das ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum erstenmal die Erfahrung macht, daß er sich sieht, sich reflektiert und sich als anders begreift, als er ist – die wesentliche Dimension des Menschlichen, die sein ganzes Phantasieleben strukturiert.«8 Im faszinierenden Spiel zwischen Leib und imaginierter Leiblichkeit entwirft das Subjekt sein Ich als psychische Einheit. Und aus diesem Spiel der Identifizierung wird sich fortan der immense Reichtum an Phantasien entwickeln, die um das Ich des Menschen und seinen Körper ranken.
Schon Freud wies auf den engen Zusammenhang von Körper und Ich hin: »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.«9 Dabei geht er von der Annahme aus, daß das Ich nicht von Anfang an als Einheit existiert, sondern daß es zu seiner Bildung einer »neuen psychischen Aktion« bedarf, die das uranfängliche autoerotische Stadium des Kindes ablöst, um den Narzißmus zu gestalten.10 Während im ersteren die erregten Partialtriebe unabhängig voneinander nach Befriedigung drängen, fließt im Stadium des Narzißmus dem eigenen Ich – als Prinzip der Einheit – die Libido zu und gestaltet es zum Objekt der Liebe. Die Freudsche Perspektive der Ich-Genese läßt jedoch offen, was unter jener »neuen psychischen Aktion« zu verstehen sei. Erst Lacan definiert diese als das erste Moment der Beziehungsaufnahme mit einem ganzheitlichen Ich auf fundamental narzißtischer Ebene.
Doch in der Verwendung des Begriffs »Ich« begegnet uns bei Lacan eine Differenzierung, die »die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert«11. Als solches aber ist das Ich weniger der Funktion des Sich-Erkennens als der eines fundamentalen Verkennens verhaftet. Denn das Ich der Spiegelerfahrung generiert sich auf imaginärer Basis, wie sie jeder Selbstreflexion eignet. Die triumphale Setzung des Ideal-Ich erweist sich als das Gegenteil der zu diesem Zeitpunkt noch völlig mangelhaften körperlichen Befindlichkeit. Die nur antizipierte – nicht aber manifeste – Einheit, die in der Bespiegelung vorstellig wird, läßt das Spiegelstadium zu einem spannungsgeladenen Drama werden, das ein »unbefriedigtes Begehren« hervorruft. »Hier schleicht sich die Ambivalenz eines Verkennens (méconnaître) ein, das dem Sich-Kennen (me connaître) wesentlich ist. Denn das Subjekt kann sich in dieser Rückschau allein eines Bildes vergewissern, im Moment, wo es ihm gegenübersteht: des antizipierten Bildes, das es sich von sich selber macht in seinem Spiegel.«12
Jenes Wechselspiel von Sich-Erkennen und Verkennen, von spiegelverhafteter Faszination und Aggression schildert bereits der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.) im Mythos von Narziß13: Sechzehnjährig entdeckt der Jüngling im Gebirge eine noch »unberührte« Quelle. Aus dem Bedürfnis, seinen Durst an derselben zu stillen, »erwächst ihm ein anderer Durst«, ein Begehren nach Liebe, erblickt er doch beim Trinken sein eigenes Bild im Wasser. Von diesem fasziniert, versucht er eins zu sein mit...