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E-Book

Kulturtheorien zur Einführung

AutorIris Därmann
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl246 Seiten
ISBN9783960600756
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die Küche, das Haus und die Verwandtschaft, das Opfer, die Magie, das Spiel und die Dinge, Ritualität, Performativität und Theatralität sind die Themen dieser Einführung in die Geschichte der Kulturtheorien. Der Band legt den Akzent auf solche Theorien, die sich mit kulturellen Praktiken, mit Riten, Kultur-, Reproduktions- und Körpertechniken auseinandersetzen, und stellt die Klassiker der modernen Kulturtheorie in eine Transformationsbeziehung zu den einschlägigen Autoren der Antike und der Neuzeit: John L. Austin, Roland Barthes, Roger Caillois, Norbert Elias, Arnold van Gennep, Erving Goffman, Martin Heidegger, Johan Huizinga, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Marcel Mauss, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Victor Turner, Jean-Pierre Vernant.

Iris Därmann ist Professorin für Geschichte der Kulturtheorien am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

II. Küche und Tischgemeinschaft


Essen und Trinken sind elementare Bedürfnisse und alltägliche Praktiken.2 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat die europäische Philosophie das Essen ganz auf die Seite des Körpers und der Natur geschlagen und den Akt der Nahrungsaufnahme auf einen asozialen und natürlichen Vorgang reduziert, der bloß der eigenen Selbsterhaltung dient.3 Damit hat sie nicht nur die sozialen und kulturellen Dimensionen der Küche und des Essens marginalisiert, sondern auch die gastfreundlichen Dimensionen der Tischgemeinschaft unkenntlich gemacht. Die Kulturwissenschaft, die ausdrücklich vom »Kulturphänomen und Kulturthema Essen«4 spricht, hat die Nahrungsaufnahme vom Anschein einer unveränderlichen Natur und Geburtsausstattung befreit. Bereits ein rascher Blick auf die historisch-kulturell unterschiedliche Art, Menge, Zubereitung und Gestaltung, die Teilung, Präsentation, Abfolge und Aufnahme der Nahrung zeigt, dass wir es mit einem fait social total im Sinne Marcel Mauss’ zu tun haben: Im Essakt, in der Tischgemeinschaft und in der Küche – als Ort der Zubereitung der Nahrung und »Kostform«5 zugleich – treffen soziale, rechtliche, religiöse, ökonomische, medizinische, ethische, sexuelle, affektive, imaginäre, symbolische, verwandtschaftliche, technische und ästhetische Dispositive aufeinander, die sich wechselseitig verstärken, organisieren, verdrängen oder abschwächen können. Die jeweilige Küche ist zudem ein fait de civilisation,6 auf das keine Kultur oder Nation exklusive Besitzrechte anmelden kann. Es ist immer schon Produkt interkultureller Wechselwirkungen, Gabentäusche und Entlehnungen. Als grenzüberschreitendes Reisephänomen ist es zur kulturellen Migration, Wanderschaft und Aneignung bestimmt. Die institutionelle Verkörperung der Nahrungsaufnahme in Gestalt der Mahlzeit und Tischgemeinschaft fungiert ferner als Darstellungs- und Repräsentationssystem, das politische Verhältnisse, kulturelle Standards, religiöse Glaubensvorstellungen und soziale Wirklichkeiten inszenieren, transformieren und hervorbringen kann. Die Tafel ist der Ort, an dem die Nahrung und die alimentäre Gemeinschaft zu Bildern und zu hergerichteten Szenen in eben jenem Sinne werden, in dem »man sagt: Der Tisch ist hergerichtet«, es ist angerichtet.7 Die arbiträre Definition dessen, was als Essbares und was als Nicht-Essbares gilt, das (mythische) Inventar der Gegensätze, die differenzielle Anordnung, Zubereitung, Reihenfolge8 der Speisen, Gerüche, Aromen und Gewürzmittel kann in strukturalistischer Manier selbst als Zeichensystem und als eine Art Sprache betrachtet werden. Die Kulturphänomene der Mahlzeit und der Küche erweisen sich als komplexe soziale Organisationssysteme, in denen zentrale Differenzen und Grenzziehungen zwischen Wildheit und Zivilisation, Mensch und Tier, Mann und Frau markiert werden, wie im Folgenden mit Claude Lévi-Strauss’ Kleiner Abhandlung in kulinarischer Ethnologie, Georg Simmels Soziologie der Mahlzeit und mit Seitenblicken auf Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation deutlich gemacht werden soll. Bei Lévi-Strauss steht vor allem das Problem des Verhältnisses von Natur und Kultur hinsichtlich des Ursprungs der Küche und der Tischsitten infrage; bei Simmel und Elias die kulturalisierenden und sozialitätsstiftenden Aspekte der Mahlzeit. Das bietet Stoff für einige abschließende Überlegungen zur Mahlzeit heute.

II.1 Kulinarische Ethnologie


In seinen vierbändigen Mythologica widmet sich Claude Lévi-Strauss der vergleichenden Untersuchung von insgesamt 813 Mythen indianischer Gesellschaften aus der südlichen und nördlichen Hemisphäre Amerikas. Das Feld der Mythen erweist sich als jener ausgezeichnete Bereich, an dem sich eine Logik der sinnlichen Qualitäten und Differenzen – der Farben, Aromen, Gewürze, Geschmacksmittel, Geräusche, der Rausch- und Genussmittel – explizieren lässt, welche die in der westlichen Philosophie klassisch gewordene Opposition von Sensiblem und Intelligiblem, von Mythos und Logos, überwindet. Der Mythos offenbart kein prälogisches, stammelndes, primitives und defizitäres Denken. Die sinnlichen Qualitäten bilden vielmehr dasjenige Medium, in dem und mit dem auf ebenso abstrakte wie kohärente Weise gedacht wird.9 Im mythischen wie im wissenschaftlichen Denken ist die gleiche Logik am Werk: Menschen haben »allezeit gleich gut gedacht«.10 Beim Mythos handelt es sich um eine Ursprungs- und Gründungserzählung ohne Subjekt und ohne identifizierbaren Autor. In seinen Transformationsanalysen der Mythen möchte Lévi-Strauss daher zeigen, »wie sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken«, und genauer noch: dass und wie sich »die Mythen auf gewisse Weise untereinander denken«.11 Dabei operiert Lévi-Strauss mit der semiologischen Einsicht, dass die Mythen als eine Sprache in Betracht zu ziehen sind, mittels deren eine Gesellschaft unbewusst ihre je eigene Struktur zum Ausdruck bringt und ihre inhärenten Widersprüche bzw. Konflikte »verschleiert« (AkE 532). Mythen sind Organisationsmodelle für »Aporien«.12 Damit sind sie nicht autonom, stehen sie nicht außerhalb der Realität, sondern bilden einen formalen alimentären Rahmen, um Gegensätze anderer Art, nämlich kosmologische, soziologische, politische, anthropologische oder geschlechtsspezifische darzustellen (AkE 512), wie die unzähligen Variationen und Transformationen der süd- und nordamerikanischen Mythen über den Ursprung der Küche und der Tischsitten zeigen.13 Sie bewegen sich dabei in einem semantischen Feld, das von den Kategorien des Rohen, Gekochten und Verfaulten einerseits und den Kategorien des Gebratenen, Geräucherten und Gesottenen andererseits abgesteckt wird, wie ein entscheidendes Resultat des aufwendigen strukturalen Mythenvergleichs lautet.

Das kulinarische Ausgangsdreieck von Lévi-Strauss geht auf die mythische Erkenntnis zurück, dass sich die Nahrung für den Menschen in drei wesentlichen Modalitäten zeigt: »Sie kann roh, gekocht oder verfault sein. In bezug auf die Küche bildet der rohe Zustand den nicht ausgeprägten Pol, während die beiden anderen stark ausgeprägt sind, jedoch in entgegengesetzten Richtungen: das Gekochte als kulturelle Verwandlung des Rohen, und das Verfaulte als dessen natürliche Verwandlung. Dem Hauptdreieck liegt also ein doppelter Gegensatz zwischen verarbeitet/unverarbeitet einerseits und Kultur/Natur andererseits zugrunde.« (AkE 511) Dabei unterliegt es einer großen Bandbreite von Interpretationen, was eine Kultur jeweils unter diesen drei alimentären Zuständen versteht. Das Rohe ist niemals ganz roh, sondern weist stets gewisse Spuren der Bearbeitung und Zubereitung auf: des Waschens, Schälens, Schneidens, Würzens usf., Bearbeitungsformen, die unter dem Einfluss einer anderen Kultur erweitert oder begrenzt werden können. Und ebenso weist die Kategorie des Verfaulten eine gewisse Variationsfülle auf, die zwischen der kostbaren Delikatesse und dem schlechterdings Ungenießbaren und Ekelerregenden oszilliert (AkE 512). Was schließlich für eine bestimmte Kultur jeweils »gekocht« bedeutet, birgt ebenfalls große Spielräume, wie etwa ein Blick in jene Kochbücher verrät, welche im 16. Jahrhundert in Italien und Frankreich aufkommen und der Erfindung nationaler oder besser: nationalisierender Küchen Vorschub leisten. Hier kommt alles darauf an, wie etwas gekocht wird, das heißt wie lange oder kurz, ob weichgekocht oder al dente, in welchen Behältern, mit welchen Zutaten, von wem und für wen gekocht wird. Für viele Kulturen bilden das Gesottene und das Gebratene wiederum zwei gegensätzliche Modi des Gekochten, die dem Verfaulten einerseits und dem Rohen andererseits nahestehen. Mit seiner Affinität zum Rohen und Unverarbeiteten scheint das Gebratene eher auf der Seite der Natur als auf der Seite der Kultur zu stehen. Nicht zufällig muss das Roastbeef oder Steak, zumindest so, wie wir es genießen, von innen »blutig« und nur von außen angebraten, kurz: à point sein, wie man in Frankreich zu sagen pflegt: »(wörtlich: auf dem Punkt, genau richtig), was eigentlich mehr eine Grenze anzugeben heißt als einen abgeschlossenen Zustand«.14 Da es beim Braten zu einem unmittelbaren Kontakt, zu einem »nicht vermittelten Verhältnis« zwischen Nahrung und Feuer kommt, steht das Gebratene real und symbolisch auf der Seite der Natur, während das Gesottene als »kulturelle Verwandlung« des Rohen sowohl real als auch symbolisch der Kultur zugeordnet wird. Real, da das Kochen ein Gefäß, das heißt ein Artefakt voraussetzt, symbolisch, weil das Element des Wassers, das zum Kochen benötigt wird, mit dem Element des Feuers, das den Garprozess bewirkt, vermittelt ist. Diese Vermittlungsform entspricht dem grundlegenden Einsatz der Kultur, der eine Vermittlung zwischen Mensch und Welt zuwege bringt (AkE 514f.)....

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