Wibke Marina Gundelsweiler
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Untersuchung von Hilfspraktiken im jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Grundschule. Das jahrgangsübergreifende Lernen, als moderne Form des Unterrichts, sorgte in den vergangenen Jahren für viel Diskussionsstoff unter Pädagogen und Wissenschaftlern. Dabei gibt es ausreichend Argumente die gegen eine Jahrgangsmischung sprechen, aber auch dafür. Grundsätzlich scheint, dass jahrgangsübergreifendes Lernen (jüL) keine stark sichtbaren Effekte bewirkt. Der Wert der gemittelten Effektstärke für jüL nach Hattie liegt bei 0,04 (vgl. Hattie 2013/2008). Dieser Wert ist zwar sehr gering, zeigt jedoch auch keinen umkehrenden Effekt. Ob man hier jedoch von einem positiven Effekt reden kann, bleibt fraglich.
Ein oftmals verwendetes Pro-Argument bei der Diskussion über jüL ist das gegenseitige Helfen, als eines der wichtigsten Vorteile, die eine heterogene Lerngruppe bieten kann (vgl. Wagener 2009). Unter der Forschungsfrage: „Welche Hilfspraktiken ergeben sich im jahrgangsübergreifenden Unterricht und in welchem Kontext entstehen sie?“ soll herausgefunden werden, ob das gegenseitige Helfen tatsächlich maßgeblicher Teil von jahrgangsübergreifendem Unterricht ist und wie die Hilfe verläuft. Dazu wurden Beobachtungen in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen durchgeführt und ausgewertet. Die beobachteten Situationen waren sehr vielfältig und unterschiedlich. Doch haben sich teilweise Sequenzen mit sehr ähnlichem Hergang gezeigt.
Die Arbeit in jahrgangsübergreifenden Klassen stellt eine weitere Herausforderung für Lehrpersonen dar. Analysen, die sich damit beschäftigen, inwiefern Schüler/innen sich untereinander Helfen und wie wirksam diese Hilfe ist, können ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Unterrichtsqualität in deutschen Schulen sein. Sie zeigen auf an welchen Stellen Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Schüler/innen Interaktionen trainieren müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen und welche Umgangsformen für Schüler/innen zur Selbstverständlichkeit gehören. In der Regel haben Lehrpersonen während des Unterrichts keine Zeit solche Feinheiten zu beobachten und zu protokollieren. Diese Arbeit soll verdeutlichen welche Strukturen im jahrgangsübergreifenden Unterricht beobachtet werden können.
Der jahrgangsübergreifende Unterricht, als eine moderne Form des Unterrichts, nimmt nun auch in Deutschland Einzug. Immer mehr Grundschulen haben bereits Konzepte des jüL eingeführt, doch das Konzept bleibt umstritten. Einige Berliner Grundschulen haben bereits 2012 das jüL wieder abgeschafft (vgl. Anders 2012). Begründung: Die Kinder würden geringere Fortschritte machen. Wissenschaftlich ist dies nicht nachgewiesen. Hattie ermittelte keinen umkehrenden Effektwert. Dennoch reißen die Zweifel nicht ab.
JüL ist unter anderem in der „Pädagogik der Vielfalt“ von Prengel ein gefordertes Konzept. Prengel fordert das Gemeinsame im Menschen zu sehen und daraus die Individualität eines Jeden zu entwickeln. So soll das „Fremde“ nicht mehr ausgegrenzt werden, sondern die wechselseitige Anerkennung soll zur Normalität werden (vgl. Prengel 2003). Damit werde, wie Wagener sagt, „die Heterogenität der Kinder nicht nur akzeptiert, sondern darüber hinaus als Zugewinn für das Lernen betrachtet“ (Wagener 2009 S. 35). Die Gleichsetzung von Altershomogenität mit Leistungshomogenität wird durchbrochen und jedes Kind wird in seinem individuellen Leistungsstand betrachtet – jedenfalls theoretisch. Ob dies in der Praxis umgesetzt wird oder werden kann, ist fraglich.
Die Jahrgangsmischung bietet zugleich die Möglichkeit, dass Kinder unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Erfahrungswelten miteinander kooperieren können. Für den Unterricht bedeutsam ist besonders das gegenseitige Helfen. Auch in jahrgangshomogenen Klassen kann beobachtet werden, dass Kinder sich gegenseitig helfen. Es kommt vor, dass die Verständigung unter Kindern teilweise besser funktioniert als zwischen Lehrer und Schüler/Schülerin. Die Forschung besagt, „dass Denkanstöße bei Schülerinnen und Schülern vor allem aus der Interaktion mit kompetenten Erwachsenen (Lehrenden) oder sachkundigen Mitschülerinnen und Mitschülern resultieren, da diese ein breiteres Wissen mitbringen und didaktisch erfahrener sind“ (Wagener 2009 S. 35-36). Dem gegenüber steht der Ansatz, dass die Konfrontation mit gegenteiligen Ansichten und Meinungen bei Kindern eine größere Wirkung auf eigenständige Auseinandersetzungen mit Thematiken hat, als Sichtweisen, die von Erwachsenen vielleicht zu einfach übernommen werden. Situationen mit konfliktreichen Ansichten ereignen sich eher unter Gleichaltrigen als zwischen Erwachsenem und Kind. Folglich müssten in jüL-Klassen mehr Situationen des gegenseitigen Helfens auftreten als in Jahrgangsklassen, da in ihnen sowohl Gleichaltrige als auch Erwachsene/ältere Schülerinnen und Schüler als Ansprechpartner zur Verfügung stehen (vgl. Wagener, 2009).
Das Helfen an sich wird in der Fachliteratur als prosoziales Verhalten beschrieben, welches auf einer freiwilligen Basis beruht und als Ziel hat, einer anderen Person etwas Gutes zu tun (vgl. Bierhoff 1990). Damit bekommt Helfen grundsätzlich eine positive Bedeutung. Wie Wagener richtig bestimmt, müssen für das Helfen im schulischen Kontext weitere Komponenten hinzugezogen werden (vgl. Wagener 2009). Schülerinnen und Schüler betreten während einer Hilfs-Interaktion eine Beziehungsebene, auf der sie sich klar positionieren. Zum einen wird die Position des Hilfsbedürftigen eingenommen und zum anderen die Position des Helfenden. Dabei ist zu beachten, dass nicht jeder, dem geholfen wird, sich selbst auch als hilfsbedürftig ansieht. So kann Hilfe eingefordert, aber nicht gegeben werden, aber auch Hilfe aufgedrängt und nicht erwünscht sein. Dies kann zu problematischen Hilfs-Interaktionen führen (vgl. Wagener 2009).
Die Grundschule ist eine kleine Dorfschule in einem ländlichen Gebiet in Niedersachsen, in der Kinder der 1. - 4. Klasse lernen und leben. Die Schule ist einzügig und eine verlässliche Grundschule. Es gibt ein Nachmittags- und Betreuungsangebot, dass auf Wunsch besucht werden kann. Zurzeit gibt es zwei Eingangsstufen, eine 3. Klasse und eine 4. Klasse. Die Kinder im 1. Schulbesuchsjahr nennen sich grüne Kinder, die Kinder im zweiten Schulbesuchsjahr gelbe Kinder. Die Schule nimmt am „Regionalen Integrationskonzept“ (RIK) teil und beherbergt eine Klasse einer Förderschule im Bereich geistiger Entwicklung, die sogenannte „Lindenklasse“, mit der eine umfangreiche Kooperation in allen Klassenstufen stattfindet. Unterm selben Dach befindet sich außerdem der örtliche Kindergarten, welcher sich mit der Grundschule den Pausenhof teilt.
Das kleine Kollegium von 5 Grundschullehrerinnen wird unterstützt von 2 Förderschullehrerinnen, 1 Heilerziehungspflegerin und 3 pädagogischen Mitarbeiterinnen. Der Stundenverlauf weicht vom 45-Minuten-Takt ab. Für die Eingangsstufen und die Lindenklasse beginnt der Schultag von Montag bis Donnerstag mit einer 45 minütigen Einheit, die sich Förderkonzept nennt. Je nach Fähigkeiten werden die Schülerinnen und Schüler (SuS) in Gruppen eingeteilt. Dabei wechseln die Förderangebote und die Gruppen täglich. Die Angebote reichen von Mathe-Förder- und Forderangeboten und ersten Bekanntmachungen mit der englischen Sprache bis hin zu Angeboten zur Motorik oder Modellierung. Die dritte und vierte Klasse haben in dieser Zeit eine kurze Unterrichtseinheit. Die anschließende Unterrichtszeit ist in 2 Unterrichtsblöcke von je 80 Minuten aufgeteilt. Danach gibt es die sogenannte MAZ (Meine ArbeitsZeit), in der die Kinder 20 Minuten an einer Sache arbeiten sollen, die sie sich selbst aussuchen können. Zwischendurch findet ein gemeinsames Frühstück im Klassenverband und natürlich Pausen statt.
Die Grundschule ist eine Stadtteilschule in einer Mittelstadt in Schleswig-Holstein. Die Schule ist eine verlässliche Grundschule und seit dem Schuljahr 2010/2011 auch offene Ganztagsschule und bietet eine Betreuung an. Ebenso wie die Grundschule A, arbeitet auch die Grundschule B sowohl jahrgangsübergreifend als auch jahrgangshomogen. In den Eingangsstufen wird dabei nur jahrgangsübergreifend gearbeitet und die dritte und vierte Klasse werden jeweils jahrgangshomogen unterrichtet. Die Kinder im ersten Schulbesuchsjahr werden Schatzkinder genannt, die im zweiten heißen Experten. Die Grundschule B bietet verschiedene Förderkonzepte an, die im Rahmen des normalen Unterrichts stattfinden. Die Einteilung der Stunden erfolgt in der bekannten 45-Minuten-Aufteilung mit jeweils kurzen und langen Pausen dazwischen. Es besteht eine Kooperation mit einer nahegelegenen Universität, von der immer wieder Studierende für Praktika und andere Unterrichtsbesuche aufgenommen werden, und mit einer anderssprachigen Schule aus demselben Stadtteil.