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E-Book

Jakobsweg - und dann?

Was Pilgern mit Menschen macht

AutorStefan Albus
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641173586
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Zeit nach der Pilgerreise - jetzt beginnt das eigentliche Abenteuer
Nachdem Stefan Albus in Deutschland 400 Kilometer gepilgert ist und ein erfolgreiches Buch darüber geschrieben hat, stellt er hier die Fragen: Was passiert mit den Menschen, nachdem sie ihren Pilgerstab zu Hause in die Ecke gestellt haben? Wie verändert eine Pilgerreise das eigene Leben?

Er stellt interessante Schicksale vor, etwa den Neuanfang einer Alkoholikerin, den Berufsausstieg eines Bankers oder den Wunsch eines Pilgers, Priester zu werden.

In Reportagen und Interviews liefert er spannendes Hintergrundwissen zu den Pilgerwegen und gibt viele wertvolle Tipps für alle, die sich selbst auf den Weg machen möchten.

  • Eine humorvolle und gleichzeitig spannende Lektüre für alle Pilger
  • Mit emotionalen Interviews und vielen Hintergrundinformationen
  • Die letzte Motivation, sich selbst auf den Weg zu machen


Stefan Albus, geboren 1966, Dr. rer.nat., Chemiker, arbeitet seit 1996 als Wissenschafts- und Fachjournalist, Ghostwriter und Redenschreiber. Er erhielt mehrere Stipendien; seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis zum Literaturpreis Ruhrgebiet. Erfolgreiche Publikationen im Gütersloher Verlagshaus, u. a. 'Santiago liegt gleich um die Ecke. Pilgern in Deutschland', 3. Auflage 2012, in dem er seine eigenen Pilgererfahrungen auf deutschen Wegen schildert. Stefan Albus lebt in Köln.

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Leseprobe

Ein Ende und ein Anfang

Die Zeit nach dem Jakobsweg kann spannender sein als die Reise selbst!

»Als ich in meinem Heimatort aus dem Bahnhof trete, merke ich, dass etwas anders ist als bei meiner Abreise. Ich trage jetzt eine Rüstung. So aufgeregt war ich schon lange nicht mehr!«

Mit diesen Sätzen endet das Reisetagebuch, das ich während meiner Pilgerwanderung auf dem Deutschen Jakobsweg 2009 geführt habe. Am 29. April dieses Jahres hatte ich den Weg hinter mir gelassen, um in mein altes Leben zurückzukehren. Den Pilgerstab in die Ecke gestellt, den Rucksack ins Kellerregal geknüllt. Mit dem Hund eine lange Runde durch den Wald gedreht. Froh, wieder zu Hause zu sein. Und doch etwas traurig, dass es vorbei war. Und dass es das jetzt schon gewesen sein sollte.

Später, als ich über die Erfahrungen mein erstes Buch geschrieben hatte, hatten meine Lektorin und ich das Rückkehr-Kapitel bewusst außen vor gelassen. In einem engen Zugabteil zuzusehen, wie die stille Landschaft an einem vorbeirast, durch die man vor Tagen noch in aller Seelenruhe gewandert ist ... das ist wie Yoga-Musik im Zeitraffer hören: Be- statt Entschleunigung. Nicht wirklich schön. Außerdem waren wir damals der Ansicht, dass sich das Wesentliche einer Pilgerreise eben unterwegs ereignet. Logisch: Niemanden interessiert im Ernst, wie Edmund Hillary 1953 vom Mount Everest herunterkam, nachdem er es erst einmal rauf geschafft hatte.

Nun: Vielleicht hätte man ihn mal danach fragen sollen. Denn bald stellte sich heraus: Zu früh abgehakt, das war es nämlich noch lange nicht gewesen. Der Jakobsweg war nach meiner Ankunft zu Hause noch lange nicht fertig mit mir. Es war ein bisschen wie in einem dieser Horrorfilme, in denen eine Gruppe Jugendlicher knapp dem Tod entrinnt und dieser anschließend eine ganze Menge Fantasie entwickelt, sich die Bande doch noch zu holen. Nur das Ganze in schön eben. Wenn man sich einmal auf ihn eingelassen hat, klopft der Jakobsweg immer wieder an.

Das fängt im Kleinen an. Etwa wenn man sich auf einmal immer öfter dabei ertappt, dass man sich ein »Okay, blöd jetzt, aber das wird schon irgendwie« zuraunt – bei Ereignissen, die noch vor Monaten das Aufreger-Potenzial eines Auftragskillers im Schlafzimmer gehabt hätten. Auf bis dahin höchstens als seltsam empfundene Zufälle reagiert man mit einem »Ach ja, ich verstehe!«, und konfrontiert mit schwierigen Menschen überlegt man öfter, ob man sich solche Typen überhaupt noch antun will. Ich kann Ihnen sagen: Da steigen die Preise für ein paar unangenehme Minuten beträchtlich! Und manchmal erwischen einen Flashbacks, bei denen einem plötzlich Dinge klar werden, die einen auf dem Camino noch ratlos gelassen haben. Beispiel? Aus heiterem Himmel verstand ich erst Wochen (!) nach meiner Heimkehr, warum ich bei diesen unvermeidlichen Kreuzwegen, die einem unterwegs blühen wie Springkraut, immer wieder mit Tränen in den Augen vor Simon von Cyrene gestanden hatte. Das ist der Typ, der Jesu’ Kreuz ein Stück trägt. Wollen Sie wissen warum? Ganz einfach: Ich hatte mir schlicht und einfach jemanden gewünscht, der mir auch mein Kreuz mal abnimmt. Bis dahin hatte ich nur gejammert und gewartet, dass irgendjemand die Dinge tut, die ich selbst längst hätte erledigen müssen. Fast noch schlimmer ist, dass ich das, was ich da all die Jahre durch mein Leben geschleppt hatte, all die ungefällten Entscheidungen, Notlösungen und faulen Kompromisse, überhaupt als Kreuz wahrgenommen habe. Also als etwas, an das man genagelt wird, um daran zu sterben. Ich hatte es mir auflegen lassen – oder, schlimmer noch, selbst vom Haken genommen – und mich daran abgearbeitet, anstatt es einfach wegzuwerfen.

Auch die großen Bögen, die das Leben so spannt, nahmen in der Zeit Jakobsweg plus X einen dezent anderen Verlauf. In den ersten Tagen nach dem letzten Schritt mit Pilgermuschel am Rucksack zog ich mir mein altes Leben ganz allmählich an wie einen gut passenden Handschuh. Die Erinnerung an Details der Reise, Gesichter und Gespräche, all die schönen Momente, die einen unterwegs streifen wie ein Sommerwind, verblassten allmählich wie die wunden Stellen unter den Füßen; selbst der Pilgerstab wanderte irgendwann unters Bett und dann in den Keller, neben den Rucksack.

Aber dann nahmen die Dinge auf einmal Fahrt auf! Als ob man auf eine Rutsche steigt: Da geht es auch langsam los, und später fliegen die Haare. Kurzfassung: Ich bin den ersten (bislang allerdings auch einzigen) Marathon meines Lebens gelaufen – und sogar lebend angekommen. Okay, in meiner Zielzeit wären andere hin- und zurückgekommen, aber auch so war das bis dahin so undenkbar, wie Astronaut zu werden (was ich allerdings nicht vorhabe). Ich habe meinen Fernseher abgeschafft, weil mir die Zeit fürs Zappen zu schade war. Und wundere mich heute beim heimlichen TV-Gucken in Hotelzimmern, was für einem Quatsch und was für aufgeblasenen Spinnern ich so lange gestattet hatte, mich zu paralysieren. Ich habe weniger Angst, Fehler zu machen, denn ich weiß, dass mir im Grunde nichts mehr passieren kann. Irgendwo in der tiefsten deutschen Provinz im strömenden Regen zu stehen, während einem das Wasser aus den Armen der angeblich regendichten Jacke läuft – und trotzdem ist nur ein paar Stunden später alles wieder gut: Das prägt.

Ich bin in eine andere Stadt gezogen, eine, die schon seit Jahrzehnten nach mir gerufen hatte. Ich habe einen guten Schwung alter Klamotten weggeworfen, in denen ich mich eigentlich schon seit Jahren nicht mehr sehen mochte. Ich trage bequemere Schuhe. Gehe öfter aus. Habe neue, spannende Menschen kennengelernt, coole Bücher geschrieben und endlich angefangen, kreativ zu arbeiten: Mittlerweile habe ich ein Atelier, bald steht die erste Ausstellung an, es gibt bereits Menschen, bei denen meine Bilder an der Wand hängen. Wenn ich gute Songtexte höre, werde ich nicht mehr grün und gelb vor Neid wie früher, sondern freue mich darüber, dass auch jemand anderem etwas Schönes gelungen ist. Überhaupt: Ich habe wieder Zeit für schöne Dinge – und so viele sind seither in mein Leben getreten!

Und so viele waren immer schon da, ohne dass ich sie bemerkt hätte. Ich bin geduldiger geworden, ertrage Widersprüche besser und gewichte das Gute meistens höher als das Schlechte. Und erlebe, wie sich die Menschen auch mir gegenüber wieder mehr öffnen. Denn ich weiß jetzt zumindest in groben Zügen, wer ich bin, wo ich hinwill im Leben und was ich einmal zurücklassen möchte.

Alles Dinge, von denen ich früher dachte: Wär’ ja schon irgendwie nett. Aber nicht in diesem Leben, mein Lieber! Aber irgendwann wurde mir klar: Ich bin längst im nächsten Leben angekommen. Und es fühlt sich wunderbar an!

Und dann war da plötzlich die Frage: Wie geht es eigentlich anderen? All diesen Hunderttausenden von Pilgern, die sich Jahr für Jahr nach Santiago de Compostela schleppen – oder sogar noch weiter. Kommen die nach Hause, gehen unter die Dusche und dann zur Arbeit, als ob sie niemals über sich selbst hinausgewachsen wären? Oder, anders ausgedrückt: Wer will sich nach etlichen Hundert Kilometern zu Fuß tatsächlich noch in öden Meetings von Grünschnäbeln anöden lassen, die von der Welt gerade mal ein paar Fünf-Sterne-Hotels gesehen haben – die sie noch nicht mal per pedes angesteuert haben?

Im Buchladen finde ich dazu nichts – nur die üblichen Pilgerberichte von unterwegs, die spätestens mit dem Klicken der Haustür enden. Ich mouse mich durch Facebook – und da habe ich in Nullkommanix eine Nachricht von einem Ex-Pilger im Kasten, der seiner Partnerin nach seiner 900-Kilometer-Wanderung praktisch schon auf der Türschwelle die Brocken hinwarf: »Ich fühlte mich so stark«, schreibt er mir, »wenn nicht jetzt, wann dann? So was kommt natürlich nicht aus heiterem Himmel«, erklärt er weiter, »da sind vor dem Weg schon Zweifel gewesen, und der Weg hat nur die nötige Kraft gegeben. Alles war längst überfällig.« Kurz darauf meldet sich eine Frau bei mir: »Nach dem Jakobsweg (2011) dauerte es zwar noch ein wenig, aber es war der Auslöser, dass ich noch mal komplett von vorne angefangen habe: Scheidung, zurück nach Deutschland, natürlich ein neuer Job etc. Und das, obwohl viele mir gesagt hatten, in meinem Alter (zu der Zeit 45) würde ich es schwer haben, wieder auf die Füße zu fallen.« Die Frau heißt Wiebke B. Beyer – von ihr werden Sie gleich noch ein wenig mehr erfahren. Denn jetzt war mein Interesse geweckt: Es gibt noch andere bewohnte Planeten!

Ich besuche Heinrich Wipper von der Jakobusbruderschaft Düsseldorf, einem altehrwürdigen Verein, der sich seit 1979 um allerlei Pilgerbelange kümmert; dieser und ähnliche »Clubs« mit einer Jakobsmuschel oder gleich dem ganzen Heiligen im Logo sind ein hervorragender erster Anlaufpunkt, wenn man sich mit Infos zum Thema eindecken möchte. Ich hatte Wipper vor Jahren schon einmal aufgesucht, damals fuhr ich nach einem längeren Gespräch mit einem Pilgerpass und einer Wundertüte voller topografischer Karten nach Hause, auf denen er mir die Pilgerroute von Essen nach Köln persönlich mit einem Textmarker eingezeichnet hatte. Seither hat der Mann sich kaum verändert; auch die Regale in seinem Gelehrtenstübchen, die sich schon damals unter Tonnen von Büchern, Karten und Ordnern bogen, sind dieselben – das Papier ist höchstens noch ein Stück dichter gepackt. Wipper ist ein agiler Mann mit kurzem weißen Bart, der mich an einen dieser Bibliotheks-Mönche aus dem »Namen...

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