Sind unsere Kinder also stark genug für diesen Weg?
Und mit Stärke meinen wir nicht die Anabolica-Jungs mit Muskelshirt aus dem Fitnessstudio, auch nicht den kleinen Bengel, der mit seiner Mutter beim Kindertherapeuten sitzt und ihr von der Seite ein »fuck you« ins Ohr zischt. Ganz gewiss auch nicht die quengelnde Tochter, die ihre Mutter aus dem Kinderbett heraus terrorisiert, stundenlang. Mama muss bis zum Umfallen dableiben, weil die Tochter nicht einschlafen kann. Was sind das für Eltern, die, so konturlos wie Amöben, sich fest im Griff der Kinder befinden? Papa der Butler, Mama das Dienstmädchen. Das ist nicht Stärke, die hier vorgelebt wird. Da werden Ichlinge gezüchtet, in denen allenfalls der ranzige Narzissmus der Eltern wiedergeboren wird. Gefallsüchtige Mütter und Väter, die ängstlich in den Zügen der Kinder suchen, ob sie akzeptiert werden. Jeder Wunsch wird erfüllt, vom Schokoriegelreigen bis zur Playmobilhalde. So entwickeln sich kleine Egomanen, die ihre Eltern und Lehrer in den Wahnsinn treiben und selbst trostlose Gespenster sind. Mit der Welt verbunden durch Chips aus der Tüte und der Konsole auf dem Schoß. Diese Wracks haben eine große Chance, irgendwann bei der Kindertherapeutin Clara zu landen, die von solchen unglücklichen Wesen erzählt: dicke Jungs, die von ihren Müttern grenzenlos verwöhnt sind und dazu angeleitet wurden, die Welt als etwas zu begreifen, aus dem sie sich endlos bedienen können. Mama hält das Füllhorn schräg, sodass alles in den Mund rutschen kann. Groß und größer geworden sind sie in einer künstlichen Blase, wie es sie für immunkranke Kinder, die die Außenwelt nicht vertragen, gibt. Und wenn dann irgendwann Kontakt mit der Welt unvermeidlich ist, in der Schule zum Beispiel, dann fallen sie fassungslos in sich zusammen. Depressiv, gestört, lebensuntüchtig. Es hat ihnen ganz offensichtlich etwas gefehlt. Was? Ein Gegenüber. Erfahrung im Umgang mit der Wirklichkeit. Die Welt ist eben kein Supermarkt, in dem Mama an der Kasse sitzt und für ihren kleinen Engel alles über den Scanner schiebt.
Starke Kinder sind auch nicht die Früh-Egomanen, die in der Vorstellung leben, dass die Zukunft für sie schon perfekt eingerichtet ist, dass alles wie am Schnürchen laufen wird und der schicke Partner, der Spitzenjob, die Penthouse-Wohnung und das Cabrio für sie bereitstehen. Der mit Süßigkeiten vollgestopfte dicke Junge lebt ebenso in einer Kunstwelt wie das in Designerklamotten gehüllte kindliche Erfolgsmodell, das denkt, die Zukunft sei schon in trockenen Tüchern.
Über beide wird kübelweise Eiswasser ausgeschüttet werden. Diese Generation, die jetzt heranwächst, erbt vor allem eins: Krisen, die jeder aufzählen kann, der Zeitung liest oder die Tagesschau sieht: Europa ist nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt, der Wohlstand ist von chinesischer und indischer Konkurrenz bedroht, man sieht es schon im Süden Europas. Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst, und das wird auf Dauer nicht ohne schwere Konflikte abgehen.
Die Folgen des Klimawandels spüren bisher die Bewohner Schwarzafrikas; weit weg sind sie: Sie hungern oder fliehen – und landen dann hier bei uns. Aber da kommt noch mehr, die Klimakatastrophe ist nicht nur was für Afrika, das ahnen die Menschen.
Die Börsen sind wie im Fieberwahn – kein vernünftiger Mensch glaubt, dass diese Pokerrunde immer so weitergeht. Und im Inneren unserer radikalisierten Leistungsgesellschaft zeigen sich mehr und mehr Brüche: Die Zahl der seelisch Verkrüppelten wächst. Burnout. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Depression. Die Weltgesundheitsorganisation gibt die Devise aus, dass schon im Jahre 2020 Depression die weltweit häufigste Krankheit sein wird.
Es wird nicht so weitergehen wie bisher. Wer das nicht sehen will, handelt seinen Kindern gegenüber fahrlässig. Wir Europäer müssen uns warm anziehen. Und die Kinder werden es ausbaden, wenn wir diesen drohenden Eisregen ignorieren.
Starke Kinder: Damit sind also nicht die Kraftpakete gemeint und nicht die Rücksichtslosen. Es geht vielmehr um selbstbewusste Wesen. Um Menschen, die nicht nur außenorientiert sind, sondern etwas über sich wissen. Die selbst-bewusst sind. Menschen, die begriffen haben, dass sie ohne DU, ohne Gegenüber, nicht leben können. Menschen, die damit beginnen, verlorene Gemeinschaftlichkeit neu zu erfinden, die dem Geld misstrauen, die nicht glauben, dass es dabei bleibt, dass Geld die Welt regiert. Eine extrem schwierige Aufgabe, denn sie müssen das leckgeschlagene Schiff auf hoher See und in voller Fahrt reparieren.
Wir, die Älteren, sollten sie in ihrem Aufbruch unterstützen, wir sollten ihren Pioniergeist entfachen. Wir gehen von der unverrückbaren und vielleicht verrückten Annahme aus, dass Menschen, und gerade auch unsere Kinder, sich nicht abfinden wollen und nicht glücklich sind in einer Lebenswelt, die außer Geld und Erfolg und Ego nichts kennt. Darum ist klar, dass die starken Kinder die Ich-Gesellschaft hinter sich lassen müssen. Das ist leichter gesagt als getan. Aber es muss gelingen, weil sie, und damit auch wir, sonst keine Überlebenschancen haben.
Wie also können Kinder stark werden? Was müssen sie mitbringen, um auf die Krisen antworten zu können? Was brauchen sie? Und woher soll dieses Potenzial kommen? Schule, Universität, Gesellschaft, der gesamte Alltag, ja letztlich auch das Elternhaus leiden unter der Verseuchung durch das ökonomisierte Denken. Als wäre irgendwo ein Geldturm explodiert und verstreue wie ein Fukushima-Meiler seine Geldpartikel in die Umwelt. Hält uns außer dem Geld und dem Erfolg noch irgendetwas zusammen? Oder ist das, was wir Gesellschaft nennen, nichts als ein Behälter, in dem die Ichlinge sich beißen, nach oben zu kommen versuchen und die Schwächeren nach unten treten? Sind Schule, Kommune, Elternhaus noch etwas anderes als Geschäftsmodelle? Die neoliberale Botschaft »Wenn jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht« ist Betrug, ist Irrtum, ist Sackgasse. Aber können aus einer Ich-Gesellschaft überhaupt Kinder herauswachsen, die nicht Egomanen sind? Man muss zugeben, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist.
Das Lachen eines Kindes
Eigentlich war es das Lachen eines Kindes. Das Lachen eines Dreijährigen, der im Staub vor uns saß. Er brachte uns auf das Thema dieses Buches.
Das war im Norden Namibias. Victoria, die Mutter, sammelte Schrott. Das Kleid hing ihr in Fetzen vom Leib. Die Mutter der Mutter lag auf einer zerrissenen gelben Schaumgummimatte, betrunken von otombo, dem traditionellen Hirsebier. Der kleine schwarze Junge in löchrigem T-Shirt, schmutzig, hungrig, saß da und stocherte vor uns mit einem rostigen Nagel in seinem Fuß, denn er hatte sich einen Splitter eingetreten. Den versuchte er rauszuholen. Seine kleine Schwester neben ihm riss aus einem zerfledderten Gesangbuch Seiten heraus. Der staubige Platz war übersät mit kaputten rußigen Töpfen, abgefahrenen Reifen, zerbrochenem rostigen Werkzeug. Es war das Nichts. Nichts zu essen, nichts anzuziehen, keine Gegenwart und keine Zukunft. Wir waren gerührt.
Und dennoch ging eine Lebenskraft von diesem Kind aus, die bei uns schiere Verblüffung hervorruft. Im Kopf der Vergleich, der sich aufdrängte: Kinder in Deutschland, überausgestattet, rundumversorgt, keinen Augenblick aus den Augen gelassen, beschult von der Krippe bis zum Universitätsabschluss. Schlecht gelaunt, unzufrieden, lahm. Nicht alle, aber viele. Mit Smartphone und Sneakers, mit vorgefertigten Löchern in den Jeans. Sind die löchrigen Hosen eine Parodie auf die Armut derer, die nur die löchrigen Hosen haben? Sollen sie durch den Kontrast das teure Designerhemd hervorheben? Kontrastbonus?
Was macht also afrikanische Kinder so stark? Immer wieder sind uns diese Kinder begegnet, die mittags aus der Schule kamen, noch nichts gegessen und einen langen Schulweg hatten. Sie müssten eigentlich völlig fertig sein. Aber das war und ist nicht so. Sie strahlen Lebenskraft aus, einen Lebenswillen, der nicht aus Kalorien, aus Umsorgung und dem Konsum kommen kann, sondern eine andere Quelle haben muss. Die Stärke dieser afrikanischen Kinder – nicht derer natürlich, die in den zeitgenössischen Hungersnöten vergehen – ist ein Rätsel. Vielleicht lässt sie die Fragilität ihrer Lebensbedingungen dem Atem des Lebens näher sein? Stumpft also Sattheit ab? Und was würde das bedeuten? Niemand kann sich Armut herbeisehnen. Aber dass in Übersättigung, Überbetreuung und perfekter Sicherheit keine starken Kinder wachsen können – das ist auch klar.
Die Kinder sind heute von Vernichtungsdrohungen umgeben, sie sind von Sinnlosigkeitserfahrungen angefressen, von Einsamkeitsfluten umspült. Natürlich richtet sich da der Blick auf die Empfindsamen, die Aufbruchsbereiten, die auf sich selbst angewiesen sind. Aber halt: Auch die Trägen, die Dumpfen, die Selbstvergessenen ahnen das. Man fühlt sich erinnert an einen Satz aus dem Matthäusevangelium. Den spricht in Pier Pasolinis Film zum Matthäusevangelium Jesus von Nazareth, der durch eine Steinlandschaft geht: »Ich sage euch, dass Gott dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken vermag.«2
Drängt sich der Gedanke nicht auf, dass wir es mit Kindern zu tun haben, die manchmal wie Steine wirken – und uns die Hoffnung bleibt, dass diese Steine irgendwie zum Leben erweckt werden könnten? Und wie können sie zum Leben erweckt werden? Sie brauchen dazu Lehrer oder Meister, die sie lebendig machen. Wenige Meister werden sie in ihrem jungen Leben treffen, weil es wenige gibt. Manchmal findet man sie in der Schule, in einem Verein, in der Musik, im Roman, auf der Straße....