Wir alle werden von anderen verletzt. Und verletzen andere. Ganz bewusst, aus Versehen oder sogar in bester Absicht. Meist unbemerkt gären die Kränkungen, die Verletzungen, das Nichtgesehenwerden in unserem Inneren. Sie kosten viel Kraft, sorgen für ein Gefühl der Überforderung, eine ständige innere Anspannung, für Müdigkeit und Stress, ohne dass wir wissen, warum. Ungeheilte Wunden binden unsere Lebensenergie, zehren an unseren Kraftreserven und verhindern, dass wir aus vollem Herzen leben und uns mit Haut und Haaren für unsere Wünsche, Träume, unsere Bestimmung und Berufung engagieren.
Und so fühlt sich das Leben dann auch an: Die meiste Zeit warten wir darauf, dass es endlich beginnt. Wir nehmen den tollen Job nicht an, weil wir scheitern könnten. Wir vertiefen eine neue Bekanntschaft mit einem liebenswerten Menschen lieber nicht, denn er oder sie könnte uns verlassen. Wir ziehen als Frührentner lieber nicht ans Meer, weil es ein Fehlschlag werden könnte. Klingt das vernünftig? Nein. Das ist es auch nicht.
Lebendigsein geht anders. Gelassensein auch.
EIN BOHRENDER SCHMERZ
Emotionale Verletzungen entstehen immer dann, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen, wenn unsere Bedürfnisse nicht erkannt werden, wenn wir das, was wir wirklich wollen, nicht sagen können und uns deshalb zurückgesetzt und nicht gesehen fühlen. Sie entstehen, wenn wir unsere Bedürfnisse nicht kommunizieren, weil wir sie vielleicht nicht einmal kennen, oder weil wir Angst haben, zurückgewiesen zu werden, wenn wir äußern, was wir wollen oder nicht wollen. Emotional verletzt werden wir auch, wenn andere uns abwerten, wenn wir nicht ernst genommen, nicht wertgeschätzt werden. Wenn andere uns die eigenen Bedürfnisse absprechen oder lächerlich machen. Wenn andere nicht zuhören und wir statt Liebe nur den Kampf um Liebe erleben.
Es gibt wenig, was das Leben so nachhaltig vergiften kann wie das unbewusste Festhalten an erlittenen Kränkungen und Verletzungen.
Im Moment der Verletzung erleben wir etwas, das in der Psychologie als »sauberes« Gefühl bezeichnet wird. Diese erste unmittelbare und ganz natürliche Reaktion erfolgt immer und ganz spontan. Wir spüren Bedauern, Schmerz, Wut und Angst. Aber meistens unterdrücken wir diese Gefühle sofort oder jemand redet sie uns aus. Dadurch wird das spontane Empfinden »verunreinigt«. Das »saubere« Gefühl wird verdrängt durch Groll, Beleidigtsein, innerlichen Rückzug, Ärger oder Rachegelüste. Besonders aber durch Scham. Die zweite Reaktion kann so stark sein, dass wir das ursprüngliche Gefühl gar nicht mehr fühlen können, selbst wenn wir es wollten. Die erste, saubere emotionale Wunde, die gut heilen könnte, ist damit verschmutzt und bräuchte zur Heilung nun umso mehr Aufmerksamkeit und Pflege.
Doch dafür lässt uns der Alltag keine Zeit und wir sind zu wenig geübt darin, mit starken Emotionen umzugehen, schon gar nicht mit schmerzlichen oder komplizierten. Also belassen wir unsere Wunde, wie sie ist, kleben ein Pflaster auf und hoffen, dass alles mit der Zeit von selbst heilt. Aber stattdessen sorgt die Zeit dafür, dass alles nur schlimmer wird. Die Verbände, die wir brauchen, werden immer dicker und schwerer. Sie machen uns unbeweglicher, als wir sein müssten. Und jedes Mal, wenn wir eine neue Enttäuschung, einen Verlust oder eine Zurückweisung erleben, melden sich schmerzhaft auch die alten Wunden. Und so schmerzt einen irgendwann das ganze Leben.
Im Moment der Verletzung hat sich niemand um uns gekümmert. Niemand hat mit uns darüber gesprochen, sich entschuldigt oder uns getröstet. Oft haben sie nicht einmal gespürt, dass wir verletzt worden sind – und manchmal haben wir selbst die Verletzung nicht bemerkt. Eine ungeheilte Wunde ist entstanden und die aus der Verletzung heraus entstandenen Bedürfnisse sind ungestillt geblieben. Und genau diese ungestillten Bedürfnisse nehmen noch heute Einfluss auf die Entscheidungen, die wir treffen. Auf diese Weise wirken sich nicht nur Ungerechtigkeiten und Kränkungen aus, die wir selbst erlitten haben. Auch uralte Familienfehden und -geheimnisse können das eigene Lebensglück nachhaltig beeinträchtigen.
Auf wen trifft das nicht zu?, könnten wir uns fragen. Hat denn jeder alte Wunden? Letztlich ja. Denn emotionale Verletzungen lassen sich gar nicht vermeiden. Und da wir gerade erst verstehen, wie nachhaltig ungesehene alte Wunden die Entscheidungen, die wir täglich treffen, beeinflussen, widmen wir uns auch erst jetzt unserem Inneren. Damit wir uns nach innen wenden und uns um die alten Verletzungen kümmern können, braucht es eine gesellschaftliche, aber auch persönliche Zeit des Friedens und Wohlstandes, der Sicherheit. Solange wir uns noch im globalen oder persönlichen Überlebenskampf befinden, können wir es uns nicht leisten, die Aufmerksamkeit auf uns selbst zu richten. Wir müssen funktionieren.
Wir sind also alle auf irgendeine Weise verletzt worden und tragen alle ungesehene emotionale Wunden mit uns herum. Aber alte Wunden wollen gesehen werden, damit sie heilen können. Und sie wollen heilen, auch darauf kann man sich verlassen. Das Leben ist an sich selbst interessiert. Die inneren Selbstheilungskräfte warten nur darauf, aktiv zu werden.
Übrigens: Überall dort, wo ich der besseren Lesbarkeit wegen nur die männliche oder weibliche Form benutzt habe, sind alle Geschlechter mitgemeint.