Vorwort
Der Hundetrainer-Boom
Deutschland, deine Hundeschulen. Im Park, am Flussufer oder auf umzäunten Plätzen – überall werden Hunde ausgebildet, überall üben Gruppen oder einzelne Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern Kommandos, Leinenführigkeit und Co. Heutzutage meldet man sein vierpfotiges neues Familienmitglied so selbstverständlich in der Welpenschule an wie die Kinder im Kindergarten. Und sobald bei der Erziehung »größere« Probleme auftauchen, kauft man sich einen schön bebilderten Hunderatgeber oder bucht gleich Einzelunterricht bei einem Trainer.
Seit der Jahrtausendwende hat der Markt der Hundetrainer und Hundeschulen einen beachtlichen Boom erlebt. Früher war Hundetraining eher etwas für »Freaks« oder Spezialisten und spielte sich in nach Rassen getrennten Vereinen ab, heute gibt es ein riesiges Angebot. Doch wie sieht es mit der Qualität aus? Meine These: Es fehlen fähige Experten – und vieles von dem, was gelehrt wird, ist kontraproduktiv. Denn nicht jede Methode passt zu jedem Hund bzw. zu jedem Hunde-Umfeld. Schema F in der Hundeerziehung – das funktioniert einfach nicht. Genauso wenig kann man Unarten einfach wegfüttern, wegstreicheln oder wegoperieren.
Ich bin seit über 15 Jahren im Geschäft, lerne heute immer noch dazu und behaupte, dass maximal zehn Prozent all jener, die als Hundetrainer oder Hundepsychologen – beides übrigens ungeschützte Titel – unterwegs sind, über ausreichend Erfahrung verfügen, um nicht nur mit »Blümchenhunden« wie Labrador oder Golden Retriever, sondern auch mit Problemhunden fertigzuwerden. Die Begriffskreation »Blümchenhund« steht für Hunde, von denen man ironischerweise annehmen könnte, dass sie schon gut erzogen auf die Welt gekommen sind: Hunde, die nicht aggressiv sind, leicht folgen und keine Alphatier-Tendenzen haben. Problemhunde sind meist das genaue Gegenteil. Natürlich können auch Blümchenhunde durch schlechte Erfahrungen, falsche Erziehung und jahrelange Vermenschlichung zu Problemhunden werden. Genauso wie manche Problemhunde nicht durch Aggressivität, sondern durch extremes Meide- und Unterwürfigkeitsverhalten auffallen. Dazu später mehr.
In jedem Fall fühlen sich viele Hundehalter angesichts des Ansturms unseriöser Hundeexperten und der Literaturschwemme über »moderne«, »artgerechte«, »sanfte« und »leise« Methoden der Hundeerziehung restlos überfordert. Die Aufklärungsarbeit entpuppt sich als schier endlose Aufgabe. Warum? Weil es sich eingebürgert hat, die Hunde schon im Basistraining mithilfe von Leckerchen, auch Leckerli oder Goodies genannt, dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen, bzw. das nicht zu tun, was wir nicht wollen. Hundehalter haben sich in Hundefütterer verwandelt. Und genau darin liegt das Kernproblem, denn kaum ein Trainer wagt es, den Einsatz von Leckerchen zu hinterfragen. Schließlich kommen sie in fast jeder Hundesendung im Fernsehen wie auch in fast jeder Hundeschule zum Einsatz.
Die Industrie hat den Leckerchen-Boom mit vorangetrieben: Vor 30 Jahren gab es nur Frolic und allenfalls zwei bis drei andere Produkte, heute stehen in jedem Supermarkt meterlange Regale mit Leckerchen in allen Geschmacksrichtungen und Formen – vom Markenprodukt über günstige Discounterartikel bis zu vermeintlich gesunden Bio-Leckerchen. In Zahlen: Allein im Jahr 2010 gaben die Deutschen 834 Millionen Euro für Futter und Leckerchen aus, für Babynahrung dagegen nur rund 556 Millionen. (Quelle: Gesellschaft für Konsumforschung/GfK)
In diesem Buch erfahren Sie, warum die mithilfe von Leckerchen erzielten Erfolge oberflächlich und mitunter sogar gefährlich sind. Außerdem lernen Sie die zahlreichen »Geschwister« der Leckerchen-Lüge kennen: das »Den Hund Hund sein lassen«-Märchen, die Kommando-Inflation, die »Der braucht ab und zu mal einen Klaps«-Lüge sowie weitere Mythen und Irrtümer der Hundeerziehung. Selbstverständlich zeige ich Ihnen auch, wie Sie es besser machen können, und zwar anhand von praxisnahen und nachvollziehbaren Fallgeschichten aus meinem Alltag als Problemhundtrainer. Die Ausgangsfragen lauten: Wie würde ein Hund mit einem Hund umgehen? Und wie kann ich diese Hund-Hund-Erziehung für den Menschen und seinen Umgang mit einem Hund adaptieren? Das Ziel ist dabei immer: eine enge und vertrauensvolle Bindung zwischen Hund und Halter – ohne Bestechung durch Leckerchen. Damit nicht Sie beim Gassigehen Ihrem Hund hinterhergehen, sondern er Ihnen folgt. Jeder Hund kann das lernen – vorausgesetzt, Herrchen und Frauchen spielen mit und setzen als Leitfigur mit Konsequenz, Ehrgeiz, Leidenschaft, Lob und Tadel die richtigen Signale.
Wozu braucht man eigentlich eine Hundeschule? Früher haben wir unsere Hunde doch auch ohne Trainer erzogen … Stimmt. Früher, sprich vor dem Boom der Hundeschulen, gab es nicht weniger gut erzogene Hunde als heute. Naheliegende Frage: Was hat die rund 9,6 Millionen Hundehalter1 in Deutschland eigentlich dazu bewogen, den Hundeschulen die Türen einzurennen? Drei Stichworte: Medienhysterie, Gesetzeschaos, Verunsicherung. Eine Kettenreaktion.
Alles beginnt mit einem schrecklichen Vorfall: Am 26. Juni 2000 wird in Hamburg-Wilhelmsburg ein sechsjähriger Junge beim Fußballspielen auf dem Pausenhof von zwei Bullterriern angefallen. Die beiden Hunde sind ausgerissen und über eine Mauer im Hinterhof auf das Schulgelände gelangt. Sie verbeißen sich in den Jungen und können erst mit Schusswaffenhilfe von der Polizei gestoppt werden. Der Junge stirbt, der Fall erregt in der Presse riesige Aufmerksamkeit. Schnell ist in den Schlagzeilen pauschal von »Killerbestien« die Rede – obwohl sich bald herausstellt, dass der Hundehalter wegen Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitzes vorbestraft ist und sich wiederholt geweigert hat, seine Hunde anzuleinen und ihnen einen Maulkorb umzulegen.
Fortan findet jeder mittlere bis schwerere Beißzwischenfall zwischen Flensburg und Freiburg den Weg in die Zeitungen oder ins Fernsehen, das Thema steht auf der Medienagenda wochenlang ganz oben und die Politiker – nicht nur in Hamburg – geraten unter Zugzwang. Ein »Wir tun doch was«-Gesetz muss her, und zwar möglichst schnell. Nicht nur die sogenannten Kampfhunde, sondern praktisch alle größeren Hunde stehen plötzlich unter Generalverdacht. Die Bundesländer erlassen hastig neue Hundeverordnungen, die Koordination untereinander bleibt auf der Strecke. Die Folge: ein Chaos, bei dem am Ende keiner mehr so richtig durchblickt – weder die Verantwortlichen in den Amtsstuben noch die Hundehalter.
Auch die Besitzer von Nicht-Kampfhunden wie Boxer und Französische Bulldogge müssen sich angesichts der angespannten Lage immer öfter Sätze wie »Warum trägt Ihr Köter keinen Maulkorb?!« oder »Der gehört eingeschläfert!« anhören. Ich kenne sogar Halter, deren Hunde einfach so von wildfremden Menschen getreten wurden, ohne dass das Tier zuvor irgendeine aggressive Reaktion gezeigt hätte. Deutschland wittert überall Killerbestien, mal abgesehen von Kleinkalibern wie Yorkshireterrier, Dackel und Chihuahua ist jeder Hund verdächtig.
Irrtum Nr. 1:
»Heutzutage muss jeder Hund in die Hundeschule.«
Falsch! Wer seinen Hund von vornherein gut sozialisiert und konsequent erzieht, kann sich die Hundeschule sparen. Sie müssen Ihren Hund genauso wenig in der Hundeschule anmelden wie Ihr Kind beim Töpferkurs oder in der Musikschule – aber Sie können. Natürlich schadet es nicht, eine Welpen- oder Junghundgruppe aufzusuchen. Ihr Hund sollte nebenbei aber auch erwachsene, sozial verträgliche Hunde treffen, die ihm artgerecht Grenzen aufzeigen.
Bei diesem Klima ist es kein Wunder, dass die tödliche Attacke auch für meine Branche unmittelbar spürbare Folgen hat. Seit 1996 arbeite ich hauptberuflich als Problemhundtrainer. Bis zu besagtem Sommer im Jahr 2000 war ich zwar immer gut ausgelastet, aber in der Regel konnten die Kunden noch relativ kurzfristig einen Termin bekommen. Plötzlich häuften sich die Anfragen dermaßen, dass ich Wochen im Voraus ausgebucht war. Was war passiert? Die Hundehalter wurden aufgrund der auch in Nordrhein-Westfalen wenige Tage nach dem Tod des kleinen Jungen verabschiedeten »Landeshundeverordnung« (»LHV NRW«, heute »Landeshundegesetz« bzw....