WAS IST ZEN?
VOM SCHATZ UND VOM NILPFERD
Über Zen sind bereits viele wunderbare Bücher geschrieben worden und sicherlich ist schon alles darüber gesagt. In jedem Buch wurde bestimmt auch darauf hingewiesen, dass man im Grunde genommen über Zen nichts schreiben kann. Wie sollte man das Erleben, einen Apfel zu essen, wirklich ausdrücken können? Das Essen und Schmecken eines Apfels kann kein noch so schön gemaltes Bild oder eine noch so detaillierte Beschreibung ersetzen. Ein Kochbuch zu lesen, macht uns nicht satt, und doch kann uns beim Lesen der Rezepte und bei der Betrachtung der Bilder das Wasser im Munde zusammenlaufen. Bilder und Geschichten wecken in uns Erinnerungen an Erlebtes, lassen es in uns nochmals erfahren, aber sie sind dennoch nur Abbilder und nicht die Wirklichkeit selbst.
Wir haben bei vielen Lebensmitteln bereits einen Geschmack in unserem Körper gespeichert. Beim Anblick einer neuen Kreation aus uns bekannten Zutaten erinnert sich unser Körper, unser Geist und unsere Seele daran. Sie verbinden sich mit den Worten und Bildern und können sich das neue Gericht vorstellen und sogar innerlich schmecken. Doch nur soweit dieser Geschmack in uns bereits abgelegt ist. Dennoch – trotz aller Wiederentdeckung gespeicherter Genüsse – können die Bilder und die Rezepte das Essen nicht ersetzen. Wir schmecken zwar, aber wir können eine Erinnerung nicht essen und werden davon nicht satt.
In diesem Sinne kann dieses Buch den Geschmack von Zen wachrufen, Ihre Sehnsucht wecken, sich Zen nicht nur vorzustellen wie ein Rezept, sondern es auch zu kochen, zu schmecken und zu genießen, und da es so wunderbar mundet, überall und jederzeit zu kosten.
Was ist jedoch mit denen, die Zen noch nie probiert haben, die auf kein Erleben zurückgreifen können? Bleibt ihre Zunge trocken, müssen sie das Buch beiseitelegen, weil ihr Gaumen keinen Geschmack davon entwickelt hat?
Ich denke nein, denn auch wenn für jemanden Zen eine völlig neue Geschmacksrichtung ist, so ist es doch nur eine neue, wenn auch eine sehr außergewöhnliche Kreation dessen, was jeder in seinem Leben immer schon gekostet und tief in allen Zellen gespeichert hat. Es ist das Bewusstsein unseres wahren Selbst. Wir tragen dieses Selbst schon immer in uns.
Wir erfahren es unentwegt, auch wenn es uns nicht bewusst ist. Wir können es jeden Moment spüren. Es zeigt sich dann, wenn wir uns erfüllt und bei uns angekommen erfahren, wenn kein Wunsch mehr offen ist und wir den Augenblick des Lebens genießen können ohne den Anflug eines Gedankens, dass es ein noch besseres Leben anderswo geben könnte.
Jeder Mensch, und auch wenn es nur eine Ahnung ist, weiß von dieser seiner wahren Natur. Natürlich sind wir die meiste Zeit im Dickicht unserer Gedanken und Vorstellungen verstrickt und blicken nicht darüber hinaus, um uns dann erkennen zu können. Aber wir spüren, dass es dieses wahre Sein gibt, jeder von uns trägt es in sich.
DIE PERLE DER WUNSCHERFÜLLUNG
»Wunschlos glücklich zu sein«, nennt Zen diese Momente, oder »den Mani-Juwel gefunden zu haben«.
So kam eines Tages der Zen-Schüler Shi-zu zu seinem Meister Nansen und verwickelte ihn in ein Gespräch über das wahre Wesen allen Seins. Er eröffnete es mit den Worten: »Die Menschen kennen den Mani-Juwel nicht. Der Mani-Juwel ist eine magische Perle, die alle Wünsche erfüllt.«
Im Zen hat diese Perle der Wunscherfüllung eine ganz besondere Bedeutung. Diese Perle zu besitzen heißt nicht, sich alles, was man will, wünschen zu können, sondern im Gegenteil, von allen Wünschen frei zu sein. Keinen Wunsch mehr zu haben, heißt: Jeden Augenblick des Lebens, so wie er ist, als vollkommen zu erfahren. Das Hier und Jetzt sich nicht anders zu wünschen, als so wie es ist. Keinen Moment als unvollkommen zu erleben, das erscheint unglaublich. Gibt es denn nicht unendlich viele Augenblicke, die nicht stimmig sind?
Wie soll ich alles als vollkommen sehen können?
Dies kann nur geschehen, sagt das Shinjimei, wenn wir nicht vergleichen, wenn rot rot ist und nicht im Vergleich zu einer anderen Farbe steht. Nur in der Unterscheidung erscheinen andere Dinge vollkommener oder fehlerhafter. Erleben wir einen Augenblick, ohne ihn mit einem anderen zu vergleichen, ist dieser Augenblick vollkommen.
Es gab einen Versuch, bei dem man einem armen, jungen Mann, der im Grunde seines Herzens mit seinem Leben zufrieden war, das Angebot machte, für zehn Jahre in die gehobene Gesellschaft eintauchen zu dürfen. Er bekam eine Ausbildung und alle Dinge, die er wollte. Er bewegte sich in der höheren Gesellschaft und war umgeben von Reichtum. Nach den vereinbarten 10 Jahren sollte er wieder zurück in sein ursprüngliches Leben. Er schaffte den Weg zurück nicht mehr und nahm sich das Leben. Es war der Vergleich und der daraus entstandene Wunsch, etwas anderes haben zu wollen, das ihn zerstörte.
Den Mani-Juwel zu besitzen heißt, keinen Wunsch mehr zu hegen, dass es anders sein soll, wie es ist. Wunschlos glücklich zu sein, das ist das wahre Glück. Das ist der unendliche Schatz, der nie zu Ende geht. Es ist das Leben selbst, das sich in jedem Augenblick in mir ganz persönlich erfüllt.
Doch diesen Schatz erkennen wir Menschen nicht, denn unser Geist lebt nicht den Augenblick, sondern bewegt sich immer nur zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hin und her. Jedoch im Augenblick zu sein heißt, der Zeit und dem Raum entronnen und im Hier und Jetzt zu sein. Das Hier und Jetzt ist unser Zuhause, dort ist die Heimat, dort ist man bei sich angekommen, in jedem Augenblick den Mani-Juwel zu besitzen. Aber die Gefahren sind groß, aus dem Augenblick herausgerissen zu werden. Sofort erfasst ihn unser Intellekt und hält ihn fest. Sogleich gibt er seine Fragen, Kommentare, Bemerkungen, Urteile ab, und in dem Moment verliert die Perle ihren Glanz.
Es ist nicht leicht, den Augenblick zu leben, zu schnell ist unser Verstand, wie folgende Anekdote zeigt:
Ein Mann ging zu einer Wahrsagerin, sich aus der Hand lesen zu lassen.
Die Wahrsagerin machte ihm Hoffnung. In seinem Garten sei ein Schatz vergraben. Ihn kann er heben, wenn er zu Mitternacht bei Vollmond nach ihm grabe. Doch dürfe er nicht an ein Nilpferd denken. Es war Mitternacht und Vollmond. Unser Mann begann zu graben. Doch nach wenigen Sekunden schon warf er bereits den Spaten beiseite und schrie:
»Verflixt noch mal, noch nie habe ich an ein Nilpferd gedacht.«1
In unserem Gespräch fragt Shi-zu Meister Nansen: »Was ist denn mit den Augenblicken, die nicht vollkommen sind, wenn das Leben sich nicht vollkommen als Einheit erweist?« Nansens Antwort ist unglaublich, er meint: »Auch Augenblicke, die nicht vollkommen sind, sind der Mani-Juwel. Es ist immer der Augenblick, der uns den Juwel eröffnet. Sobald ihr nachdenkt, sobald ihr diesen Augenblick in Zweifel zieht und ihn nicht haben wollt, verliert ihr den Juwel.«
Dies mit dem Verstand zu erfassen, ist tatsächlich schwer. Sofort klammert sich der Verstand an die Worte, gibt ihnen seine Bedeutung, gibt ihnen seine bestimmte ›Farbe‹, und damit sind wir verloren. Keine Bedeutung, keinen Kommentar, einfach nur dies – das ist Glück.
Zen ist einfach, es verweist immer auf den Augenblick, den wir ohne Bewertung oder Benennung, ohne Kommentar und ohne Urteil ganz und gar sein sollen. Und gleichzeitig ist dies so schwierig, weil dies unseren Geist überfordert, der immer vergleicht.
Das folgende Gedicht beschreibt, wie der Schatz sich in allem erweist: gesellschaftlich hochkommen, unterlegen sein, arm und reich sein.
VOM MÖNCH HAN SCHAN VOM KALTEN BERG2
Östlich von mir wohnte eine alte Frau
Die wurde erst vor ein paar Jahren reich
War früher ärmer noch als ich
Heut lacht sie, weil ich keinen Pfennig habe
Sie lacht – ich sei ihr unterlegen
Ich lache –
Sie ist emporgekommen
Wir werden wohl nicht aufhören uns gegenseitig auszulachen
Sie aus dem Osten, ich vom Westen.
Wunschlos glücklich in jedem Augenblick ist möglich, wenn sich kein Hauch von Unterscheidung mehr zwischen mir und dem Hier und Jetzt schiebt.
Jeder Augenblick lässt den Juwel aufleuchten, jeder Augenblick ist der Juwel. Unterscheiden wir die Dinge in Schön und WenigerSchön, zeigen sie nicht, was sie wirklich sind, sondern eröffnen nur ihre vergängliche Form. Die Dinge jedoch zu sehen, wie sie wirklich sind, heißt, sie nicht zu vergleichen.
Dieses Grundprinzip wird sich immer wieder in unterschiedlicher Weise in den Kapiteln wiederfinden. Der Grundgeschmack von Zen durchzieht alle Kreationen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden ihn immer wieder finden. Ich hoffe, dass Sie Lust darauf bekommen, noch mehr davon zu schmecken.
ERWACHEN – DER BLÜHENDE BAUM IM EIGENEN GARTEN
FRÜHLING
Ich suchte und suchte den Frühling,
Ich wanderte ohne Rast
Durch Täler und über Hügel
Und fand ihn nicht in der Hast.
Ich wurde müde im Herzen,
Zog wieder zum heimischen Raum,
Da sah ich in Ruhe im Garten
Meinen blühenden Pflaumenbaum.
Nun schau ich im frohen Entdecken
Das Süße und Wilde zugleich.
Die Seele wird wieder ruhig.
Der Frühling ist friedvoll und reich.
Ryokan3
Welch wunderbare Zeit ist doch der Frühling. Keine andere...