Studienjahre
Mit sechzehn Jahren war Goethe für das akademische Studium vorbereitet. Hätte er seiner eigenen Neigung folgen dürfen, so wäre er nach Göttingen gegangen, um sich dort den Altertumswissenschaften zu widmen. Sein Vater bestand jedoch darauf, daß die Universität in Leipzig, die er selbst besucht hatte, gewählt wurde. Nach seinen Plänen sollte der Sohn die Rechte studieren, in Leipzig oder an einer zweiten Hochschule promovieren und einmal die Laufbahn eines Verwaltungsjuristen einschlagen.
Mit dem Gefühl eines Gefangenen, der seine Ketten abgelöst hat[27], und mit einem ansehnlichen Jahreswechsel versehen traf Goethe am 3. Oktober 1765 in Leipzig ein. Die Messestadt, geprägt durch eine kurz vergangene, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit, Reichtum zeugende Epoche[28] und ganz vom Geist des Rokoko erfüllt, beeindruckte den in reichsstädtischen Begrenzungen Aufgewachsenen. Er ließ sich von den neuen Einflüssen einfangen und wandelte sich zum Schöngeist, der große Figur[29] machte.
Auf die anfängliche Begeisterung folgten jedoch Enttäuschungen. Weder die Vorlesungen in der Jurisprudenz noch in den Schönen Wissenschaften konnten Goethe fesseln. Gellert, dessen Kolleg er voll Interesse entgegengesehen hatte, verlor die Achtung des Studenten nicht allein durch eine weinerliche Vortragsweise, sondern auch durch die Tatsache, daß er keines der damals jungen Talente, weder Klopstock noch Wieland oder Lessing, gelten ließ. Gottsched, ehemals der Praeceptor Germaniae, war durch seine Gefallsucht Ziel des öffentlichen Spotts geworden. Zu alledem mußte Goethe die Erfahrung machen, daß seine neuen Bekannten weder seine Parteinahme für den König von Preußen teilen noch seine eigenen Gedichte anerkennen wollten. In einem Brief an einen Frankfurter Freund zeichnete er ein poetisches Bild seiner Ernüchterung, indem er sich mit einem Wurm verglich, der sich zum Himmel aufschwingen möchte:
Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug,
Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn
Des Wurms im Staube, der den Adler sieht,
Zur Sonn sich schwingen und wie der hinauf
Sich sehnt. Er sträubt empor, und windet sich,
Und ängstlich spannt er alle Nerven an
Und bleibt am Staub. Doch schnell entsteht ein Wind,
Der hebt den Staub in Wirbeln auf, den Wurm
Erhebt er in den Wirbeln auch. Der glaubt
Sich groß, dem Adler gleich, und jauchzet schon
Im Taumel. Doch auf einmal zieht der Wind
Den Odem ein. Es sinkt der Staub hinab,
Mit ihm der Wurm. Jetzt kriecht er wie zuvor[30]
Beratung in seinen Unsicherheiten fand Goethe bei dem Hofmeister eines in Leipzig studierenden Grafen, Ernst Wolfgang Behrisch mit Namen. Dieser Mann, den er später einen der wunderlichsten Käuze, die es auf der Welt geben kann[31], nennen sollte, verstand es, immer wieder seine Unruhe und Ungeduld zu zähmen[32]. Dank eines sicheren Geschmacks wurde Behrisch zugleich der erste, der Goethes poetische Versuche kritisch beurteilte. Von dessen damals im Stile der Anakreontik verfaßten Gedichten ließ er nur wenige gelten, stellte diese aber in einer kalligraphischen Niederschrift, dem Liederbuch Annette, zusammen und sorgte so für ihre Erhaltung. Neben Behrisch kamen Goethe besonders zwei Leipziger Künstler, Johann Michael Stock und Adam Friedrich Oeser, entgegen. Bei Stock nahm er Unterricht im Radieren und Kupferstechen, bei Oeser lernte er zeichnen. Oeser, der mit Winckelmann befreundet war, machte ihn mit den Kunstgesinnungen des Klassizismus bekannt und bemühte sich, ihm das Schnörkel- und Muschelwesen[33] des Rokoko zu verleiden.
Schließlich brachte Leipzig dem Siebzehnjährigen die erste wirkliche Leidenschaft seines Lebens. In dem Schönkopfschen Weinhaus, wo er seit 1766 seinen Mittagstisch hatte, wurde er mit der Tochter der Wirtsleute, Anna Katharina, genannt Käthchen, einem gar hübschen netten Mädchen[34], bekannt und verliebte sich in sie mit dem Ungestüm seines Temperaments. Durch ungegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien[35] belastete er jedoch das Verhältnis, das zu guter Letzt mit einer freundschaftlichen Trennung endete. In seinem ersten vollendeten Schauspiel, der Laune des Verliebten, das der Form und dem Inhalt nach auf die Schäferstücke des Rokoko zurückgeht, zeichnete er selbst den Drang seiner Gefühle. Wie es ihm bereits damals zum Bedürfnis wurde, sich durch poetische Gestaltungen von dem, was ihn innerlich bewegte, zu befreien, deutete er später in Dichtung und Wahrheit an: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußern Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.[36]
Am Ende seiner dreijährigen Studienzeit in Leipzig geriet Goethe in eine ernste Krise. Der Wechsel von Zerstreuungen und Studien hatte bei ihm zu einer seelischen Belastung geführt, die sich schließlich in einem physischen Zusammenbruch löste. Ein Blutsturz warf ihn im Juli 1768 so schwer nieder, daß er mehrere Tage zwischen Leben und Tod[37] schwankte. Gleichsam als ein Schiffbrüchiger[38] kehrte er in seine Vaterstadt zurück. Fast anderthalb Jahre dauerte es dann noch, bis er sich dort vollkommen erholte und die Befürchtung, er habe die Schwindsucht, verlor. Unter dem Einfluß Susanna von Klettenbergs, einer Anhängerin der Herrnhuter Brüdergemeine, die mit seiner Mutter befreundet war, begann er damals, sich intensiv mit mystischen und pietistischen Schriften, darunter Gottfried Arnolds «Kirchen- und Ketzerhistorie», zu befassen.
Besonders war es aber die Persönlichkeit seiner Mentorin, die auf ihn wirkte. Ihr Zuspruch verhalf ihm dazu, sich von seiner Leipziger Unrast zu lösen: Meine Unruhe, meine Ungeduld, mein Streben, mein Suchen, Forschen, Sinnen und Schwanken legte sie auf ihre Weise aus, und verhehlte mir ihre Überzeugung nicht, sondern versicherte mir unbewunden, das alles komme daher, weil ich keinen versöhnten Gott habe. Nun hatte ich von Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz gut zu stehen, ja ich bildete mir, nach mancherlei Erfahrungen, wohl ein, daß er gegen mich sogar im Rest stehen könne, und ich war kühn genug zu glauben, daß ich ihm einiges zu verzeihen hätte. Dieser Dünkel gründete sich auf meinen unendlich guten Willen, dem er, wie mir schien, besser hätte zu Hilfe kommen sollen. Es läßt sich denken, wie oft ich und meine Freundin hierüber in Streit gerieten, der sich doch immer auf die freundlichste Weise und manchmal damit endigte: daß ich ein närrischer Bursche sei, dem man manches nachsehen müsse.[39]
Neben Susanna von Klettenberg trug ein Arzt, Johann Metz, der viele Erkenntnisse der modernen Homöopathie zu beherrschen schien, nicht nur zum körperlichen, sondern auch zum seelischen Wohl des Genesenden bei. Unter seiner Anleitung vertiefte Goethe sich in die Schriften des Paracelsus, in Wellings «Opus magocabbalisticum et theosophicum» und unternahm selbst alchimistische Versuche. Sein Interesse für die Beobachtung von Naturvorgängen wurde geweckt. Bezeichnend für seine Haltung in dieser Zeit ist ein Brief, den er im Februar 1769 an Friederike Oeser, die Tochter seines Leipziger Zeichenlehrers, richtete: Meine gegenwärtige Lebensart ist der Philosophie gewidmet. Eingesperrt, allein, Zirkel, Papier, Feder und Tinte, und zwei Bücher, mein ganzes Rüstzeug. Und auf diesem einfachen Wege komme ich in der Erkenntnis der Wahrheit oft so weit, und weiter, als andere mit ihrer Bibliothekarwissenschaft. Ein großer Gelehrter ist selten ein großer Philosoph. Und wer mit Mühe viel Bücher durchblättert hat, verachtet das leichte einfältige Buch der Natur, und es ist doch nichts wahr als was einfältig ist.[40]
Gegen Ostern 1770 verließ Goethe das Vaterhaus zum zweiten Mal, um in Straßburg, das bei politischer Zugehörigkeit zu Frankreich noch weitgehend deutschsprachig war, sein abgebrochenes Studium zu beenden. Die anderthalb Jahre, die er dort blieb, brachten ihm, wie keine andere Periode seines Lebens, einen Neubeginn in allem, was er tat, erlebte und schrieb. Bereits am Tag seiner Ankunft überwältigte ihn der Anblick des Münsters. Als einer der wenigen seiner Zeit vermochte der Zwanzigjährige die Größe der gotischen Architektur, die damals als ungehobelt galt, zu erkennen. Noch in dem zwei Jahre später niedergeschriebenen Hymnus Von deutscher Baukunst hielt er die Stimmung des ersten Eindrucks fest: Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davor trat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. […] Wie oft hat die Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug mit freundlicher Ruhe...