Wien
Nach der Rückkehr aus Berlin im Jahre 1810 blieben die Brüder bis November in Lubowitz, dann brachen sie nach Wien auf und weilten bis April 1813 in der österreichischen Metropole. Waren bisher alle Orte ihres Studiums Stationen einer großen Bildungsreise, so hatte sich angesichts des finanziellen Desasters der Familie die Situation gründlich geändert. In Wien sollte das Jurastudium mit dem Examen abgeschlossen werden, damit der Weg in den österreichischen Staatsdienst beiden Brüdern offenstünde. Dieser Entschluss war in doppelter Hinsicht ungewöhnlich. Der Besuch von Universitäten war noch keineswegs, vor allem bei jungen Adligen nicht, an einen regulären Studienabschluss gekoppelt. Ungewöhnlich war auch, dass gleich beide Söhne die Beamtenlaufbahn wählten, also offenbar in der Familie gar nicht erst vorgesehen war, dass einer der Söhne in Lubowitz die väterliche Tradition fortsetzen und die Güter verwalten sollte. Die Lage war prekär, der Aufenthalt in Wien nur fürs Erste gesichert, als die Brüder bei der Studien-Hof-Kommission um Zulassung zur Staatsprüfung baten. Die Immatrikulation erfolgte zum 29. November 1810.
Im Tagebuch hat Eichendorff die eigene ökonomische Misere zwar nur selten, dann aber mit unmissverständlich klaren Worten erwähnt. Heute auch, Gott sey Dank, in höchster Noth wieder über Erwartung viele Bancozettel von Hause bekommen, notierte er enthusiastisch. Zwei Monate später heißt es: Fiengen wir unser abentheuerliches standhaftes Hungerleben an, um uns Geld auf Bücher zu ersparen. So war die Begeisterung im Februar 1812 groß, als die – verfrühte, falsche – Meldung über eine Erbschaft von angeblich 60000 Talern eintraf: Wir beyde eilten nun ins Freye, u. giengen hinter den Holtzplätzen an der Donau lange voll von Plänen im Sonnenschein des Himmels und des Glükks vergnügt spazieren. Das Erbe des Barons von Kloch, eines Verwandten mütterlicherseits, fiel nicht nur deutlich geringer aus, sondern wurde erst 1813 ausgezahlt.
Wien war eine Stadt voller Erlebnisse und Begegnungen, eine Stadt ganz nach dem Geschmack des theaterbegeisterten, geselligen, urbanen Dichters. Erfüllte Tage in Wien: frühmorgens Jurisprudenz, gezielte Vorbereitung auf die einzelnen Fächer des Examens – von Europäischer Staatskunde zum Kriminalrecht, vom römischen Zivil- bis zum Privat- und Kirchenrecht –, nachmittags eifrige Arbeit am Roman Ahnung und Gegenwart oder Ausflüge mit Verwandten nach Schönbrunn und Seebarn und abends bei Schlegels, zu deren Kreis die Brüder auf Loebens Empfehlung bald gehören sollten und wo sie dem einflussreichen Redemptoristen-Prediger Clemens Maria Hofbauer begegneten, oder im Hause des mittlerweile nach Wien und in den österreichischen Staatsdienst gewechselten Adam Müllers. Ein Reigen von Choristinnen- und Schauspielerinnen-Namen durchzieht das Wiener Pro Memoria. Von Liebesdeklarationen gegenüber einer Demoiselle Wimberg ist die Rede und dass er die Choristin im Dezember 1811 [a]lle Wochen 2mal um 5 Abends in ihrer Wohnung am Mehlmarkt besuchte, auch am Nicolai Abend: Sehr lieb. Am kleinen eisernen Ofen. Schwartze lange Haare aufgelöst.
Clemens Maria Hofbauer (eigent. Johannes H.), 1751 in Taßwitz (heute Tschechien) geboren, gestorben 1820 in Wien; gehörte seit 1784 dem Redemptoristen-Orden an; zwischen 1787 und 1808 tätig in Warschau, 1788 Generalvikar der Redemptoristen und mit der Gründung weiterer Ordensniederlassungen in Polen, Deutschland und der Schweiz betraut; nach 1808 in Wien Ordensgeistlicher und Prediger mit politischem und religiösem Einfluß, Beichtvater Friedrich Schlegels, häufiger Gast in dessen Haus. 1914 Heiligsprechung durch Pius X.
Die Aufgeregtheit einer von Krieg und politischer Unruhe bestimmten Zeit fand ihr paradoxes Echo in den Aufregungen und Vergnügungen der Residenzstadt – die Brüder Eichendorff mittendrin. Die Wende vom aufklärerischen Josephinismus zum politischen System Metternichs samt Geheimpolizei und Zensur war in Wien ebenso spürbar wie eine die Bevölkerung und den Hof gleichermaßen bestimmende antinapoleonische Haltung. Sofern man politisierte, war Eichendorff eher ein aufmerksamer Zuhörer, kein hitziger Diskutant. Er beobachtete viel, notierte sich charakteristische Gesten und Haltungen, mit denen sich jemand in der Gesellschaft in Szene setzte. Alltägliche Zerstreuung und Phasen intensivster Arbeit – lesen, schreiben und studieren – schoben sich in rascher Folge ineinander. Eichendorff liebte seit Breslau Verwechslungs- und Verwicklungskomödien, Pantomimen, Possen, Maskenbälle und Singspiele, besuchte daher umso mehr das «Kasperl», das Theater in der Leopoldstadt, sowie das Theater in der Josephstadt und das an der Wien gelegene Theater auf der Wieden. Auf diesen Bühnen waren Hanswurst, Harlekin und Columbine noch zu Hause, weil das Volk sie liebte und sich an Possen und Stegreif- und Zauberlustspielen mit Gesang erfreute. Klassiker, wie Schillers «Jungfrau von Orleans» und «Wilhelm Tell», standen selten auf Eichendorffs Programm. Theater war für ihn gleichbedeutend mit Zerstreuung, Unterhaltung, Amüsement – ein Ort, an dem jene Situationskomik geboten wurde, die für manche Episode seiner Erzählungen und dramatischen Satiren Anregungen gab. So knapp bei Kasse die Eichendorffs in Wien waren, so reich an Beziehungen war ihr Alltag. Sie wohnten vom Tage ihrer Ankunft an im I. Wiener Bezirk unter erster Adresse: Franz Joseph Graf von Wilczek, ein entfernter Verwandter, bot ihnen in seinem Domizil an der Herrengasse, dem sogenannten Brassicanischen Haus aus der Zeit Ferdinands I., eine Wohnung und führte sie in die Wiener Gesellschaft ein. Sein Neffe war mit Eichendorffs Cousine Maximiliane verheiratet. In Wien, mit über 200000 Einwohnern eine expandierende Metropole, war noch immer der Glanz des gerade untergegangenen alten Reiches spürbar. Eichendorff genoss das gesellschaftliche Leben im Wilczek’schen Hause, an dem er mit seinem Bruder teilnahm, wann immer sie konnten.
Im August 1811 kam es zu den wichtigsten Begegnungen der Wiener Zeit, zu Eichendorffs Kontakten mit Friedrich und Dorothea Schlegel. Welche Popularität der Wiener Schlegel-Kreis zeitweilig erlangte, zeigte sich 1812 in Schlegels öffentlichen Vorlesungen über die «Geschichte der alten und neuen Literatur». Das Tagebuch hielt Schlegels Vorträge in einem Wiener Gasthaus als Bühnenerlebnis fest: Die erste Vorlesung Friedrich Schlegels […] im Tanzsaale des röm. Kaisers. Schlegel, gantz schwartz in Schuhen auf einer Erhöhung hinter Tischchen ablesend. Mit wohlriechendem Holtze geheizt. Großes Publicum. Vorn Kreiß von Damen, Fürstin Lichtenstein mit ihren Princessinnen. Lignovsky etc 29 Fürsten. Unten großes Gedränge von Equipagen, wie auf einem Balle. Sehr brillant.
Es war charakteristisch für Eichendorff, dass er, nachdem er Schlegel kennengelernt hatte, sich intensiv mit seinen Schriften auseinandersetzte. Die Begegnung und das Gespräch gaben – analog zum Kontakt mit Görres in Heidelberg – den Anstoß dazu. Eichendorff vergrub sich nicht in Philosophie und Historie, begeisterte sich nicht für Thesen und Denkmodelle. Wenn er aber auf jemanden aufmerksam geworden war und ihn kennengelernt hatte, dann war er zu intensiver Auseinandersetzung mit ihm bereit. Die Eichendorffs hatten Schlegels 1810 mit großer Resonanz gehaltene öffentliche Vorlesungen zur neueren Geschichte nicht mehr hören können. Als sie 1811 im Druck erschienen, notierte das Tagebuch ein standhaftes Hungerleben zum Büchererwerb, wovon wir dann auch bald Schlegel über die neuere Geschichte zu unserer Seelenweide kauften. Ebenso wie die Literaturvorlesungen bildeten Schlegels Geschichtsvorlesungen das Fundament, auf dem Eichendorff 1819 seine eigenen Überlegungen zur Säkularisation und ihren Folgen für Preußen entwickelte und noch Jahrzehnte später seine literarhistorischen Schriften aufbaute. Sein Schlegel-Bild blieb an die Wiener Zeit gekoppelt. Ein tieferes Interesse für den jungen Frühromantiker wie für den späten Schlegel lässt sich nicht nachweisen.
Dagegen waren Adam Müllers Ansichten gleichsam die Anwendung der Romantik auf die geselligen und politischen Verhältnisse des Lebens. Müller wie Schlegel aber blieben für Eichendorff Konvertiten. Ihrer Religiosität stand er trotz aller theoretisch postulierten, philosophisch begründeten Parteinahme für Kirche und Katholizismus distanziert gegenüber. Umgekehrt galt Dorothea Schlegels Interesse nicht zuletzt dem Dichter Eichendorff, den sie nach gründlicher Korrektur des Manuskripts zur Veröffentlichung des Romans Ahnung und Gegenwart ermunterte. Sie war die Mutter des Freundes Philipp Veit, auch ihn und Wilhelm umsorgend. Im Gedicht An Philipp (Nach einer Wiener Redouten-Melodie) hat Eichendorff die Ballsaal-Atmosphäre und die Spannung zwischen dem sinnlichen Reiz der Oberfläche und dem Empfinden von Einsamkeit und Schmerz inmitten des tobenden Ballsaals festgehalten:
Kennst Du noch den Zaubersaal,
Wo süß Melodien wehen,
Zwischen Sternen ohne Zahl
Frauen auf und nieder gehen?
Kennst Du noch den Strom von Tönen,
Der sich durch die bunten Reihen schlang,
Von noch unbekannten Schönen
Und von fernen blauen Bergen sang?
Sieh! die lichte Pracht erneut
Fröhlich sich in allen Jahren,
Doch die Brüder sind zerstreut,
Die...