ENN wir an Südafrika denken, denken wir an einen aufgewühlten und zerstrittenen Staat. Und genau das ist er auch. Aber unzählige Jahre lang war es noch viel schlimmer, als ein schreckliches und ungerechtes System die Macht innehatte, das wir unter dem Namen Apartheid kennen. Innerhalb dieses Systems wurden schwarze Menschen ohne Grund verhaftet, eingesperrt und mitunter auch ermordet. Nun, wo der Apartheid ein Ende bereitet wurde, befindet sich dieses wunderschöne Land in einem Prozess der Heilung, die aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, denn der Weg dorthin ist weit.
Tatsächlich hat Südafrika im Laufe seiner Geschichte selten Zeiten der Ruhe und des Friedens erlebt, was zuerst an den Stammeskriegen und anschließend an der Invasion durch die Europäer lag. Und sicherlich waren die Zeiten auch nicht gerade friedlich, als am 3. Januar 1892 John Ronald Reuel Tolkien in Bloemfontein in der Provinz Orange Free State geboren wurde.
Schon zu dieser Zeit war Südafrika zwischen mehreren Bevölkerungsgruppen aufgeteilt: zwischen Menschen mit schwarzer, brauner und weißer Hautfarbe. Und die letzteren waren es auch, die – obwohl zahlenmäßig in der Minderheit – die stärkste Macht im Land darstellten. Es war jene Bevölkerungsschicht, in die J.R.R. Tolkien hineingeboren wurde.
Um genau zu sein, waren es vor allem zwei weiße Gruppen, die das Land besiedelt und erschlossen hatten: Briten und die ehemals europäischen Afrikaner. Die weißen Afrikaner waren für gewöhnlich niederländischer Abstammung, allerdings fand man unter ihnen auch deutsche und französische Protestanten, die damals als Hugenotten bekannt waren. Sie benutzten eine Sprache, die dem Holländischen ähnelt, die aber auch einige Brocken anderer europäischer Sprachen enthielt und durch die zahlreichen afrikanischen Dialekte angereichert wurde. Diese weißen Afrikaner waren schon früh im 17. Jahrhundert nach Südafrika gekommen, doch die Briten hatten dann die komplette Region im 19. Jahrhundert erobert.
So lebten beide Gruppen mehr recht als schlecht nebeneinander und waren jederzeit bereit, aufeinander loszugehen. Die Spannungen eskalierten in blutigen Konflikten, die als die „Burenkriege“ bekannt wurden.
Es hat schon etwas Ironisches, dass Tolkien, der in seinem Benehmen und in seiner Ausstrahlung so absolut britisch war, so weit von England entfernt geboren wurde. Der Grund dafür waren natürlich seine Eltern, Arthur Reuel Tolkien und Mabel Suffield, die aufgrund von Arthurs beruflicher Tätigkeit nach Afrika kamen.
Arthur Reuel Tolkien hatte als Banker bei der Lloyds Bank in Birmingham, einer großen Stadt im Westen Englands, gearbeitet. Eine Tätigkeit, für die er wie geschaffen war und die auch gut bezahlt wurde. Doch der robuste und ambitionierte Arthur sah seine größten Karrierechancen in den Kolonien, und als er 1890 ein Angebot von der Bank of South Africa erhielt, griff er ohne zu Zögern zu und bekam zunächst einen durchaus prestigeträchtigen Posten, bevor er schließlich sehr viel später selber der Leiter einer großen Zweigstelle dieser Bank werden sollte.
Und wie war es mit Arthurs Frau Mabel? Sie war eine attraktive und intelligente junge Dame, die schon als Teenager ihren späteren Ehemann kennen lernte. Sie akzeptierte seinen Heiratsantrag im Alter von 18 Jahren, als er bereits 33 war. Doch aufgrund ihrer Jugend zögerte Mabels Familie die Heirat so lange hinaus, bis sie selbst älter und reifer geworden war. Während dieser Zeit durfte Mabel ihren Zukünftigen nur selten sehen, doch sie nahm es hin und wartete. Arthur und Mabel schrieben sich oft und trafen gelegentlich bei Gesellschafts- und Tanzabenden in Birmingham aufeinander. Mehr geschah nicht, schließlich befand man sich im viktorianischen England, und in London mochten die Uhren vielleicht langsam anders gehen, aber sowohl in den Vororten als auch im Binnenland und im Norden Englands wurden die Dinge noch immer sehr genau und recht steif betrachtet.
Ihnen blieb also nur ein verstohlenes Lächeln aus der Entfernung, eine kurze Berührung der Hände während einer Vorlesung, und das Höchste der Gefühle war das gemeinsame Verspeisen der leckeren Gurkensandwiches, die Mabel so gut zubereiten konnte.
Zwar hatten sie sich einander versprochen, durften sich aber nicht wie ein zukünftiges Ehepaar benehmen, was besonders Mabel sehr frustrierte. Nicht nur, dass sie ihren Verlobten von Herzen liebte, sie bewunderte ihn auch zutiefst. Er war ein Mann von Welt, hatte Charakter und Mut. Mit seinem dicken, herabhängenden Schnurrbart, der zu jener Zeit so populär war, seinem starken und muskulösen Körper und mit seinem Charme – mit dem er Mabel jederzeit zum Lachen und zum Träumen bringen konnte – war er der Prototyp eines erfolgreichen jungen Gentlemans im Königreich Queen Victorias.
Es war für sie schon hart genug, auf den Mann ihrer Träume zu verzichten, obwohl er nur ein paar Meilen entfernt wohnte. Aber stellen Sie sich vor, wie schmerzhaft es für sie wurde, als dieser Mann auch noch fortzog – und zwar nicht nur in ein anderes Land, sondern gleich auf einen anderen Kontinent! Arthur segelte allein nach Südafrika, festen Willens mehr aus sich zu machen, ehe er seine junge Verlobte heiraten würde. Und es gelang ihm. Schließlich schrieb er den entscheidenden Brief, in dem er Mabel schilderte, dass er nicht nur über ein Haus und eigene Diener verfügte, sondern sein Einkommen auch durchaus als solide bezeichnet werden konnte. Und dann fragte er sie, ob sie ihm nach Südafrika folgen wolle, um nun endlich seine Ehefrau zu werden. Natürlich tat sie es. Mit dem Segen ihrer Eltern buchte die inzwischen 21-jährige Mabel Suffield im Januar 1891 eine Passage auf einem großen, grauen und ziemlich dreckigen Schiff namens „Roslin Castle“, um ihrem neuen Zuhause entgegenzusegeln.
Stellen Sie sich den Unterschied vor, den Mabel verarbeiten musste. Sie, die aus dem Herzen der britischen Industrie in Birmingham stammte, sah sich nun den offenen und weiten Landstrichen Südafrikas gegenüber. Anstelle der dicken und dunklen Rauchwolken aus den alles überragenden Industrieschloten, entdeckte sie nun Staubwolken, die ein galoppierendes Gnu auf seinem Weg über die Steppen Afrikas aufwirbelte. Anstelle der engen und wie am Lineal gezogenen Reihen britischer Ziegeldächer erblickte sie die verrücktesten Bauwerke und um sie herum wild aussehende Burschen mit Gewehren, die auf ihren Pferden vorüberritten. Es roch nach Schmutz, schmeckte nach Gefahr und sie konnte die Unterschiede durchaus auch körperlich fühlen. Und was sie fühlte, gefiel ihr gar nicht. Sie konnte Südafrika nicht leiden.
Arthur hingegen mochte dies alles sehr. Das Land versprach ihm die Möglichkeiten, die er sich ersehnt hatte, und auch wenn sein geliebtes Kricket hier auf eine sehr aggressive Art gespielt wurde, so passte das doch zumindest mehr zu seinem Temperament als der zurückhaltende, britische Stil. Doch was immer Mabel auch über Südafrika dachte, sie war fest entschlossen zu bleiben und den Mann, auf den sie so lange hatte verzichten müssen, nicht wieder loszulassen. So heiratete sie am 16. April 1891 ihren Arthur in der Cape Town Cathedral. Nach viel zu kurzen Flitterwochen stieg das Paar in einen Zug, der sie 700 lange, heiße und zermürbende Meilen zurück nach Bloemfontein brachte.
Bloemfontein war – anders als Johannesburg oder Cape Town – niemals eine wichtige Stadt in Südafrika. Um 1890 herum konnte man sie eigentlich noch nicht einmal eine Stadt nennen. Die kleine Gruppe Englisch sprechender Menschen, die dort lebte, unterstützte einander nach besten Kräften, und jeder war bemüht, die Erinnerungen an die alte Heimat nicht verblassen zu lassen. All ihre Nachbarn waren freundlich, dennoch unterschied sich ihre Art zu leben völlig von der, die Mabel von ihrer Familie und von ihren Freunden zu Hause gewohnt war. Darum betrachtete sie Südafrika auch niemals als ihr neues Zuhause, sondern immer nur als einen vorübergehenden Aufenthaltsort. So gerne wäre sie nach Hause – nach England – zurückgekehrt.
Ihre schönsten Momente erlebte sie, wenn sie allein mit Arthur war. Wenn er ihre Hand nahm und mit ihr einen langen Spaziergang unternahm, wenn er ihr auf dem Piano etwas vorspielte und sang, dann schien es keine Rolle zu spielen, wo sie waren: Sie liebten sich einfach. Und als logische Konsequenz ihrer innigen Romanze wurde bald darauf ihr erstes Kind geboren. Dieses Kind war John Ronald Reuel Tolkien, der Held unserer Geschichte.
Der Name John stammte von Tolkiens Großvater, Reuel war der mittlere Name seines Vaters Arthur, aber wo der Name Ronald herkommt, wissen wir nicht. Ironischerweise war es gerade der Name Ronald, mit dem seine Familie und seine Freunde ihn zuerst riefen, auch wenn sich das im Laufe der Jahre ändern sollte. Seine engen Freunde nannten ihn später einfach nur Tolkien oder Tollers. Das war aber später.
Erst einmal war er ein unheimlich niedliches Baby. So, wie es halt alle Babys einmal sind, was allerdings auch die einzige Gemeinsamkeit mit den meisten anderen Babys sein dürfte. Die Zeit in Südafrika war in vielen Belangen für ihn außergewöhnlich. Da war zum Beispiel der Zwischenfall, als ein Affe über den Gartenzaun kletterte, die meisten Sachen von der Wäscheleine herabzog und sie zerriss. Oder später seine Begegnung mit einer vermeintlich harmlosen Spinne – die ihn dann biss. Die ungefährliche Spinne stellte sich als hochgiftige Tarantel heraus, und wenn nicht ein aufmerksamer Diener rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, der das Gift geistesgegenwärtig aus der Wunde saugte, hätte weder Tolkien noch der „Herr der Ringe“ eine glorreiche oder überhaupt eine Zukunft vor sich gehabt!...